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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Musik

Philipp Wolfrum, Johann Sebastian
Bach. 2 Bände, Leipzig, Breitkopf u. Härtel.

Der Heidelberger Universitätsprofessor
Philipp Wolfrum, der als Generalmusikdirektor
seine wissenschaftlichen Studien gleichzeitig in
die Praxis umsetzt, hat sich große Verdienste um
die Interpretation der Bachschen Werke er¬
worben. Und auch diese biographisch-kritische
Arbeit hat das hohe Ziel, das Verständnis
für Bach zu erweitern, zu vertiefen, immer
größere Kreise für die ewig junge Kunst des
Leipziger ThomaskantorS zu gewinnen.

"Nur soweit die Historie dem Leben dient,
wollen wir ihr dienen", setzt Wolfrum als
Motto an die Spitze des Richard Strauß
gewidmeten Buches, Und getreu diesem Hin¬
weis versteht er überall die lebendigen Be¬
ziehungen zur Gegenwart aufzudecken. Er
weist den Einfluß des Üvergewaltigen auf
alle nachfolgenden Generationen nach. Mit
Befriedigung verzeichnet er, um nur ein Bei¬
spiel anzuführen, bei der "unsagbar herrlichen"
Motette: "Singet dem Herrn" die Nachricht:
"Diese Motette war eine Lieblingskomposition
R. Wagners, auf die er Kunstbeflisscue gerne
hinwies; bei ihrem Anhören entzündete sich
Mozarts Geist, als er 1789 in Leipzig weilte."
Er gibt an hervorragender Stelle das Wort
BusvniS wieder: "Bach und Liszt sind das
A und O aller Klavierkunst"; auf die Weise
baut er mit künstlerischer Großzügigkeit
Brücken vom siebzehnten Jahrhundert hin zu
Liszt und Wagner. Er erkühnt sich sogar,
bei Bach den Gedanken des Leitmotivs zu
verfolgen. Wie er das Kirchenlied "als Ganzes
und in einfacher Form" anführt, wie er es
mis Träger einer Idee, als eine Art Symbol,
auch als eine Art Reminiszenz bruchstückweise
(motivisch) verwendet, wie er "einzelne Me¬
lodiezeilen das immer wiederkehrende leit-
Mvtivische Fundament" gewisser Abschnitte-
bilden, wie er bei "Einflechtung einer Sentenz
mis einem Kirchenlied in einem madrigalischen
Text die zugehörige Melodie deutlich durch¬
blicken" läßt -- das alles ist geistvoll und
vom Standpunkt des modernen Musikers
überlegen dargetan. "Ein großer Teil unserer

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Musikgelehrten sehnt sich nach der Bachschen
Stadtpfeiferei... sie belächeln diese Mendels¬
sohn, Schumann, Franz, v. Bülow mit ihren
Bachbearbeitungen, ohne zu bedenken, daß
überhaupt alle Wiederbelebungen älterer
orchestraler wie vokaler Werke stets ein Kom¬
promiß bedeuten, daß jede Zeit sich neu wird
bemühen müssen, dem Geist des alten Meister¬
werks gerecht zu werden, der leider dem Buch¬
staben allzuoft aufgeopfert wird." Wolfrum
würdigt im Gegensatz zu diesen Philologen
Bachs Kunst als unvermindert wirkende
Naturkraft, die über die Zeit hinweg in unser
heutiges Musikleben greift. Er gewinnt
lebendige Kunst/ lebendiges Arbeiten und
Verstehen im Bachschen Geiste.

Daß dabei das Geschichtliche nicht etwa
vernachlässigt werde, können wir ohne weiteres
voraussetzen. Trotz eines volkstümlichen
Zuges, der eben die Bachgemeinde zu ver¬
größern strebt, ist überall mit wissenschaftlicher
Strenge gearbeitet. Forkel und Spitta sind
naturgemäß die Fundamente; neuere Beiträge
sind mitverwertet. Die zahlreichen Roten-
beispiele, die handschriftlichen und bildlichen
Beigaben erhöhen den Reiz des Buches.
Wertvoll ist die Tabelle, die eine Übersicht
der Kirchenkantaten "nach Bestandteilen,
Orchestrierung und Entstehungszeit" gibt.
Die Kantaten werden in all ihren Teilen mit
unendlicher Liebe erläutert, nicht minder die
Brandenburgischen Konzerte und die Passionen.
Sehr energisch Nieist Wolfrum die Annahme
von der Echtheit der Lukas-Passion zurück;
"einen derartig unbeholfenen und unreinen
Satz würde Bach selbst mis Sertcmer nicht
geschrieben haben".

Dr, !v. Kleefeld
Tagesfragen

Kunst und Genenwart. Herbert Eulen-
berg schleudert wieder einmal seinen ganzen
Groll über die Behandlung des Künstlers von
sich; in einer kleinen, soeben bei Ernst Rvwohlt
in Leipzig erschienenen Broschüre "Die Kunst
in unserer Zeit" entwirft er ein düsteres Bild
der modernen künstlerischen Verhältnisse. Da¬
bei sagt er nichts Neues; er wiederholt, was
man vor ihm sagte, und er spricht aus, was

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Musik

Philipp Wolfrum, Johann Sebastian
Bach. 2 Bände, Leipzig, Breitkopf u. Härtel.

Der Heidelberger Universitätsprofessor
Philipp Wolfrum, der als Generalmusikdirektor
seine wissenschaftlichen Studien gleichzeitig in
die Praxis umsetzt, hat sich große Verdienste um
die Interpretation der Bachschen Werke er¬
worben. Und auch diese biographisch-kritische
Arbeit hat das hohe Ziel, das Verständnis
für Bach zu erweitern, zu vertiefen, immer
größere Kreise für die ewig junge Kunst des
Leipziger ThomaskantorS zu gewinnen.

„Nur soweit die Historie dem Leben dient,
wollen wir ihr dienen", setzt Wolfrum als
Motto an die Spitze des Richard Strauß
gewidmeten Buches, Und getreu diesem Hin¬
weis versteht er überall die lebendigen Be¬
ziehungen zur Gegenwart aufzudecken. Er
weist den Einfluß des Üvergewaltigen auf
alle nachfolgenden Generationen nach. Mit
Befriedigung verzeichnet er, um nur ein Bei¬
spiel anzuführen, bei der „unsagbar herrlichen"
Motette: „Singet dem Herrn" die Nachricht:
„Diese Motette war eine Lieblingskomposition
R. Wagners, auf die er Kunstbeflisscue gerne
hinwies; bei ihrem Anhören entzündete sich
Mozarts Geist, als er 1789 in Leipzig weilte."
Er gibt an hervorragender Stelle das Wort
BusvniS wieder: „Bach und Liszt sind das
A und O aller Klavierkunst"; auf die Weise
baut er mit künstlerischer Großzügigkeit
Brücken vom siebzehnten Jahrhundert hin zu
Liszt und Wagner. Er erkühnt sich sogar,
bei Bach den Gedanken des Leitmotivs zu
verfolgen. Wie er das Kirchenlied „als Ganzes
und in einfacher Form" anführt, wie er es
mis Träger einer Idee, als eine Art Symbol,
auch als eine Art Reminiszenz bruchstückweise
(motivisch) verwendet, wie er „einzelne Me¬
lodiezeilen das immer wiederkehrende leit-
Mvtivische Fundament" gewisser Abschnitte-
bilden, wie er bei „Einflechtung einer Sentenz
mis einem Kirchenlied in einem madrigalischen
Text die zugehörige Melodie deutlich durch¬
blicken" läßt — das alles ist geistvoll und
vom Standpunkt des modernen Musikers
überlegen dargetan. „Ein großer Teil unserer

[Spaltenumbruch]

Musikgelehrten sehnt sich nach der Bachschen
Stadtpfeiferei... sie belächeln diese Mendels¬
sohn, Schumann, Franz, v. Bülow mit ihren
Bachbearbeitungen, ohne zu bedenken, daß
überhaupt alle Wiederbelebungen älterer
orchestraler wie vokaler Werke stets ein Kom¬
promiß bedeuten, daß jede Zeit sich neu wird
bemühen müssen, dem Geist des alten Meister¬
werks gerecht zu werden, der leider dem Buch¬
staben allzuoft aufgeopfert wird." Wolfrum
würdigt im Gegensatz zu diesen Philologen
Bachs Kunst als unvermindert wirkende
Naturkraft, die über die Zeit hinweg in unser
heutiges Musikleben greift. Er gewinnt
lebendige Kunst/ lebendiges Arbeiten und
Verstehen im Bachschen Geiste.

Daß dabei das Geschichtliche nicht etwa
vernachlässigt werde, können wir ohne weiteres
voraussetzen. Trotz eines volkstümlichen
Zuges, der eben die Bachgemeinde zu ver¬
größern strebt, ist überall mit wissenschaftlicher
Strenge gearbeitet. Forkel und Spitta sind
naturgemäß die Fundamente; neuere Beiträge
sind mitverwertet. Die zahlreichen Roten-
beispiele, die handschriftlichen und bildlichen
Beigaben erhöhen den Reiz des Buches.
Wertvoll ist die Tabelle, die eine Übersicht
der Kirchenkantaten „nach Bestandteilen,
Orchestrierung und Entstehungszeit" gibt.
Die Kantaten werden in all ihren Teilen mit
unendlicher Liebe erläutert, nicht minder die
Brandenburgischen Konzerte und die Passionen.
Sehr energisch Nieist Wolfrum die Annahme
von der Echtheit der Lukas-Passion zurück;
„einen derartig unbeholfenen und unreinen
Satz würde Bach selbst mis Sertcmer nicht
geschrieben haben".

Dr, !v. Kleefeld
Tagesfragen

Kunst und Genenwart. Herbert Eulen-
berg schleudert wieder einmal seinen ganzen
Groll über die Behandlung des Künstlers von
sich; in einer kleinen, soeben bei Ernst Rvwohlt
in Leipzig erschienenen Broschüre „Die Kunst
in unserer Zeit" entwirft er ein düsteres Bild
der modernen künstlerischen Verhältnisse. Da¬
bei sagt er nichts Neues; er wiederholt, was
man vor ihm sagte, und er spricht aus, was

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[0241] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Musik Philipp Wolfrum, Johann Sebastian Bach. 2 Bände, Leipzig, Breitkopf u. Härtel. Der Heidelberger Universitätsprofessor Philipp Wolfrum, der als Generalmusikdirektor seine wissenschaftlichen Studien gleichzeitig in die Praxis umsetzt, hat sich große Verdienste um die Interpretation der Bachschen Werke er¬ worben. Und auch diese biographisch-kritische Arbeit hat das hohe Ziel, das Verständnis für Bach zu erweitern, zu vertiefen, immer größere Kreise für die ewig junge Kunst des Leipziger ThomaskantorS zu gewinnen. „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen", setzt Wolfrum als Motto an die Spitze des Richard Strauß gewidmeten Buches, Und getreu diesem Hin¬ weis versteht er überall die lebendigen Be¬ ziehungen zur Gegenwart aufzudecken. Er weist den Einfluß des Üvergewaltigen auf alle nachfolgenden Generationen nach. Mit Befriedigung verzeichnet er, um nur ein Bei¬ spiel anzuführen, bei der „unsagbar herrlichen" Motette: „Singet dem Herrn" die Nachricht: „Diese Motette war eine Lieblingskomposition R. Wagners, auf die er Kunstbeflisscue gerne hinwies; bei ihrem Anhören entzündete sich Mozarts Geist, als er 1789 in Leipzig weilte." Er gibt an hervorragender Stelle das Wort BusvniS wieder: „Bach und Liszt sind das A und O aller Klavierkunst"; auf die Weise baut er mit künstlerischer Großzügigkeit Brücken vom siebzehnten Jahrhundert hin zu Liszt und Wagner. Er erkühnt sich sogar, bei Bach den Gedanken des Leitmotivs zu verfolgen. Wie er das Kirchenlied „als Ganzes und in einfacher Form" anführt, wie er es mis Träger einer Idee, als eine Art Symbol, auch als eine Art Reminiszenz bruchstückweise (motivisch) verwendet, wie er „einzelne Me¬ lodiezeilen das immer wiederkehrende leit- Mvtivische Fundament" gewisser Abschnitte- bilden, wie er bei „Einflechtung einer Sentenz mis einem Kirchenlied in einem madrigalischen Text die zugehörige Melodie deutlich durch¬ blicken" läßt — das alles ist geistvoll und vom Standpunkt des modernen Musikers überlegen dargetan. „Ein großer Teil unserer Musikgelehrten sehnt sich nach der Bachschen Stadtpfeiferei... sie belächeln diese Mendels¬ sohn, Schumann, Franz, v. Bülow mit ihren Bachbearbeitungen, ohne zu bedenken, daß überhaupt alle Wiederbelebungen älterer orchestraler wie vokaler Werke stets ein Kom¬ promiß bedeuten, daß jede Zeit sich neu wird bemühen müssen, dem Geist des alten Meister¬ werks gerecht zu werden, der leider dem Buch¬ staben allzuoft aufgeopfert wird." Wolfrum würdigt im Gegensatz zu diesen Philologen Bachs Kunst als unvermindert wirkende Naturkraft, die über die Zeit hinweg in unser heutiges Musikleben greift. Er gewinnt lebendige Kunst/ lebendiges Arbeiten und Verstehen im Bachschen Geiste. Daß dabei das Geschichtliche nicht etwa vernachlässigt werde, können wir ohne weiteres voraussetzen. Trotz eines volkstümlichen Zuges, der eben die Bachgemeinde zu ver¬ größern strebt, ist überall mit wissenschaftlicher Strenge gearbeitet. Forkel und Spitta sind naturgemäß die Fundamente; neuere Beiträge sind mitverwertet. Die zahlreichen Roten- beispiele, die handschriftlichen und bildlichen Beigaben erhöhen den Reiz des Buches. Wertvoll ist die Tabelle, die eine Übersicht der Kirchenkantaten „nach Bestandteilen, Orchestrierung und Entstehungszeit" gibt. Die Kantaten werden in all ihren Teilen mit unendlicher Liebe erläutert, nicht minder die Brandenburgischen Konzerte und die Passionen. Sehr energisch Nieist Wolfrum die Annahme von der Echtheit der Lukas-Passion zurück; „einen derartig unbeholfenen und unreinen Satz würde Bach selbst mis Sertcmer nicht geschrieben haben". Dr, !v. Kleefeld Tagesfragen Kunst und Genenwart. Herbert Eulen- berg schleudert wieder einmal seinen ganzen Groll über die Behandlung des Künstlers von sich; in einer kleinen, soeben bei Ernst Rvwohlt in Leipzig erschienenen Broschüre „Die Kunst in unserer Zeit" entwirft er ein düsteres Bild der modernen künstlerischen Verhältnisse. Da¬ bei sagt er nichts Neues; er wiederholt, was man vor ihm sagte, und er spricht aus, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/241>, abgerufen am 01.07.2024.