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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

So ehrten die Leute von Perpignan das geliebte Mädchen durch ein
Mysterium der Schönheit, eine eigenartige Schönheit, eine symbolische Huldigung,
die religiös und dramatisch zugleich war, durch Blumen und Kerzen, auf roh
geschichteten Steinen entzündet, als kaum die Salven der einziehenden Soldaten
verraucht waren. Man ließ es ruhig gewähren.

Und immerzu brachten die Leute Blumen und Kerzen---und die Stadt
weinte über Jeanne und weinte über sich -- eine verschleierte Frau, die den Tod
ihrer Tochter beweint.

Blumen und Kerzen wurden feierlich getragen wie bei einer Prozession,
weinenden Gemüts voll Religion und Bewußtsein einer erhebenden Wirkung.

Und eine große Ruhe kam über die Stadt, das verklärende Gefühl der
Heiligkeit, die sich durch symbolische Handlungen ehrt, eine große, schmerzverklärte
Ruhe, wirksam unterbrochen von lindernden Ausbrüchen der Tränen und Toten¬
klagen, die in der Eroika sinfonisch wirkten und von dem starken rhythmischen
Gefühl der Bevölkerung dirigiert waren, ins Kunstgebiet der Oper oder des
Melodram hinübergespielt und darum tröstlich.

Der General konnte die Meldung erstatten, daß die südlichen Provinzen
"beruhigt" seien; die Tagespresse verbreitete die hocherfreuliche Nachricht, daß es
dem tatkräftigen und zielbewußter Eingreifen der Landesverteidiger gelungen sei,
die Erregung im Süden zu "beruhigen"; die Kleinbürger fanden beim Morgen¬
kaffee in ihrem Blättchen die befriedigende Tatsache, daß sich der Sturm gelegt
habe, Besonnenheit und Vernunft haben die Oberhand gewonnen, und die Be¬
völkerung des Midi habe sich vollkommen "beruhigt".---

"Schade, es war so interessant!" war alles, was der getreue Abonnent über
das Zeitungsblatt hinweg zu den Seinen sagte.

Glücklicherweise hatte die Zeitung für seinen Neuigkeitshunger noch allerlei zum
Dessert aufzutischen, so das Nachspiel in der Kammer, das beinahe die Demission der
Regierung herbeigeführt hätte-, mit zwei Stimmen Mehrheit, bloß zwei Stimmen
mehrt erlangte der Ministerpräsident das Vertrauensvotum, was so viel hieß, daß
man bald an einen Nachfolger denken könne, dann zur Nervenberuhigung, daß
über den Schuldigen, die bereits in Untersuchungshaft säßen, "das Damoklesschwert
der Gerechtigkeit" schwebe. Also war genügend Unterhaltungsstoff für die nächste
Nummer vorgesehen.

"Das Damoklesschwert der Gerechtigkeit" schwebte also über den Häuptern
Marcellins und seiner Genossen, die den Tag der öffentlichen Verantwortung
herbeisehnten, wenn die Sache nicht überhaupt im Wege des bloßen Disziplinar¬
verfahrens erledigt wurde, was opportun schien. Der arme, schwergeprüfte
Marcellin! Jeanne, das einzige liebe Kind, die Freude und der Sonnenschein
seines Lebens I

Er war hart unters Rad gekommen. Wofür büßte er? Wo war die Größe
der Schuld, die dieser Sühne entsprach? War die unsichtbare Weltwage gefälscht?
Sind die mystischen Schalen nicht mehr verläßlich? Welche ungeheure Sündenlast,
die nicht er gehäuft, wurde ihm zugeschoben?

Er war Apostel, Winzerheiland, wenn auch verleugnet und angespielt, was
seine Mission erhöhte, und er trug am schwersten; er litt für die anderen. Er
war Kreuzträger.


Der rote Rausch

So ehrten die Leute von Perpignan das geliebte Mädchen durch ein
Mysterium der Schönheit, eine eigenartige Schönheit, eine symbolische Huldigung,
die religiös und dramatisch zugleich war, durch Blumen und Kerzen, auf roh
geschichteten Steinen entzündet, als kaum die Salven der einziehenden Soldaten
verraucht waren. Man ließ es ruhig gewähren.

Und immerzu brachten die Leute Blumen und Kerzen---und die Stadt
weinte über Jeanne und weinte über sich — eine verschleierte Frau, die den Tod
ihrer Tochter beweint.

Blumen und Kerzen wurden feierlich getragen wie bei einer Prozession,
weinenden Gemüts voll Religion und Bewußtsein einer erhebenden Wirkung.

Und eine große Ruhe kam über die Stadt, das verklärende Gefühl der
Heiligkeit, die sich durch symbolische Handlungen ehrt, eine große, schmerzverklärte
Ruhe, wirksam unterbrochen von lindernden Ausbrüchen der Tränen und Toten¬
klagen, die in der Eroika sinfonisch wirkten und von dem starken rhythmischen
Gefühl der Bevölkerung dirigiert waren, ins Kunstgebiet der Oper oder des
Melodram hinübergespielt und darum tröstlich.

Der General konnte die Meldung erstatten, daß die südlichen Provinzen
„beruhigt" seien; die Tagespresse verbreitete die hocherfreuliche Nachricht, daß es
dem tatkräftigen und zielbewußter Eingreifen der Landesverteidiger gelungen sei,
die Erregung im Süden zu „beruhigen"; die Kleinbürger fanden beim Morgen¬
kaffee in ihrem Blättchen die befriedigende Tatsache, daß sich der Sturm gelegt
habe, Besonnenheit und Vernunft haben die Oberhand gewonnen, und die Be¬
völkerung des Midi habe sich vollkommen „beruhigt".---

„Schade, es war so interessant!" war alles, was der getreue Abonnent über
das Zeitungsblatt hinweg zu den Seinen sagte.

Glücklicherweise hatte die Zeitung für seinen Neuigkeitshunger noch allerlei zum
Dessert aufzutischen, so das Nachspiel in der Kammer, das beinahe die Demission der
Regierung herbeigeführt hätte-, mit zwei Stimmen Mehrheit, bloß zwei Stimmen
mehrt erlangte der Ministerpräsident das Vertrauensvotum, was so viel hieß, daß
man bald an einen Nachfolger denken könne, dann zur Nervenberuhigung, daß
über den Schuldigen, die bereits in Untersuchungshaft säßen, „das Damoklesschwert
der Gerechtigkeit" schwebe. Also war genügend Unterhaltungsstoff für die nächste
Nummer vorgesehen.

„Das Damoklesschwert der Gerechtigkeit" schwebte also über den Häuptern
Marcellins und seiner Genossen, die den Tag der öffentlichen Verantwortung
herbeisehnten, wenn die Sache nicht überhaupt im Wege des bloßen Disziplinar¬
verfahrens erledigt wurde, was opportun schien. Der arme, schwergeprüfte
Marcellin! Jeanne, das einzige liebe Kind, die Freude und der Sonnenschein
seines Lebens I

Er war hart unters Rad gekommen. Wofür büßte er? Wo war die Größe
der Schuld, die dieser Sühne entsprach? War die unsichtbare Weltwage gefälscht?
Sind die mystischen Schalen nicht mehr verläßlich? Welche ungeheure Sündenlast,
die nicht er gehäuft, wurde ihm zugeschoben?

Er war Apostel, Winzerheiland, wenn auch verleugnet und angespielt, was
seine Mission erhöhte, und er trug am schwersten; er litt für die anderen. Er
war Kreuzträger.


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[0235] Der rote Rausch So ehrten die Leute von Perpignan das geliebte Mädchen durch ein Mysterium der Schönheit, eine eigenartige Schönheit, eine symbolische Huldigung, die religiös und dramatisch zugleich war, durch Blumen und Kerzen, auf roh geschichteten Steinen entzündet, als kaum die Salven der einziehenden Soldaten verraucht waren. Man ließ es ruhig gewähren. Und immerzu brachten die Leute Blumen und Kerzen---und die Stadt weinte über Jeanne und weinte über sich — eine verschleierte Frau, die den Tod ihrer Tochter beweint. Blumen und Kerzen wurden feierlich getragen wie bei einer Prozession, weinenden Gemüts voll Religion und Bewußtsein einer erhebenden Wirkung. Und eine große Ruhe kam über die Stadt, das verklärende Gefühl der Heiligkeit, die sich durch symbolische Handlungen ehrt, eine große, schmerzverklärte Ruhe, wirksam unterbrochen von lindernden Ausbrüchen der Tränen und Toten¬ klagen, die in der Eroika sinfonisch wirkten und von dem starken rhythmischen Gefühl der Bevölkerung dirigiert waren, ins Kunstgebiet der Oper oder des Melodram hinübergespielt und darum tröstlich. Der General konnte die Meldung erstatten, daß die südlichen Provinzen „beruhigt" seien; die Tagespresse verbreitete die hocherfreuliche Nachricht, daß es dem tatkräftigen und zielbewußter Eingreifen der Landesverteidiger gelungen sei, die Erregung im Süden zu „beruhigen"; die Kleinbürger fanden beim Morgen¬ kaffee in ihrem Blättchen die befriedigende Tatsache, daß sich der Sturm gelegt habe, Besonnenheit und Vernunft haben die Oberhand gewonnen, und die Be¬ völkerung des Midi habe sich vollkommen „beruhigt".--- „Schade, es war so interessant!" war alles, was der getreue Abonnent über das Zeitungsblatt hinweg zu den Seinen sagte. Glücklicherweise hatte die Zeitung für seinen Neuigkeitshunger noch allerlei zum Dessert aufzutischen, so das Nachspiel in der Kammer, das beinahe die Demission der Regierung herbeigeführt hätte-, mit zwei Stimmen Mehrheit, bloß zwei Stimmen mehrt erlangte der Ministerpräsident das Vertrauensvotum, was so viel hieß, daß man bald an einen Nachfolger denken könne, dann zur Nervenberuhigung, daß über den Schuldigen, die bereits in Untersuchungshaft säßen, „das Damoklesschwert der Gerechtigkeit" schwebe. Also war genügend Unterhaltungsstoff für die nächste Nummer vorgesehen. „Das Damoklesschwert der Gerechtigkeit" schwebte also über den Häuptern Marcellins und seiner Genossen, die den Tag der öffentlichen Verantwortung herbeisehnten, wenn die Sache nicht überhaupt im Wege des bloßen Disziplinar¬ verfahrens erledigt wurde, was opportun schien. Der arme, schwergeprüfte Marcellin! Jeanne, das einzige liebe Kind, die Freude und der Sonnenschein seines Lebens I Er war hart unters Rad gekommen. Wofür büßte er? Wo war die Größe der Schuld, die dieser Sühne entsprach? War die unsichtbare Weltwage gefälscht? Sind die mystischen Schalen nicht mehr verläßlich? Welche ungeheure Sündenlast, die nicht er gehäuft, wurde ihm zugeschoben? Er war Apostel, Winzerheiland, wenn auch verleugnet und angespielt, was seine Mission erhöhte, und er trug am schwersten; er litt für die anderen. Er war Kreuzträger.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/235>, abgerufen am 03.07.2024.