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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Natnrerkonntnis und Weltanschauung

verloren gehen könne, das wurde durch Lavoisier, den Entdecker des Sauerstoffs,
bewiesen, und man gewann das Gesetz von der Konstanz der Materie. Ihm
trat als zweites in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Gesetz von
der Erhaltung der Kraft oder besser von der Konstanz der Energie zur Seite,
und zum großen Teil durch die Kenntnis dieser beiden Gesetze ist der früher
ungeahnte Aufschwung der Technik möglich gewesen.

Schauen nur uns heute um, so gibt es kein einziges Gebiet in der
anorganischen Natur, das uns völlig dunkel wäre, keine Kraft, die der Mensch
sich nicht dienstbar gemacht hätte, seitdem er die Zauberformeln kennt, denen sie
gehorchen: das sind ihre Gesetze.

Mußte da nicht der Dualismus seinen Rückzug antreten und anerkennen,
daß die Natur uicht durch Gottes Willen, sondern durch starre Gesetze regiert
werde? Und konnte er diesen Rückzug nicht um so eher antreten, als ihm ja
noch eine ganze große Hälfte der Welt zur Verfügung stand, die des Lebendigen?
Wir wissen, daß auch hiervor die mechanische Welterklärung, der Materialismus,
nicht halt zu machen brauchte, sondern dem Dualismus in dessen eigenstes Gebiet
folgen konnte.

Noch Lavoisier mußte die Schranke anerkennen, die die Chemie der lebendigen
Natur von der der unbelebten trennte, die organische von der anorganischen.
Aber als es im Jahre 1828 Wühler zum ersten Male gelungen war, einen
organischen Stoff aus anorganischen künstlich herzustellen, war damit die Schranke
gefallen, und die letzten achtzig Jahre haben uns gezeigt, daß die früher so
geheimnisvolle organische Chemie nichts ist als die Chemie eines einzigen
Elementes, des Kohlenstoffes. Und wenn auch noch nicht alle bekannten organischen
Stoffe im Laboratorium synthetisch dargestellt werden können, so ist doch die
Hoffnung durchaus berechtigt, daß es gelingen wird, nach den großen Erfolgen,
die schon erreicht sind. Ich erinnere nur an die Farbstoffe des Krapp und des
Wald, den Veilchenduft, deu aromatischen Stoff der Vanille, das Chinin, ja
auch an einen bis vor kurzem ganz geheimnisvollen Stoff des mensch¬
lichen Körpers von ungemeiner Wirkungsfähigkeit, das Adrenalin.

Hand in Hand mit der chemischen ging die physikalische Erforschung der
Organismen, und auch hier ergab sich, daß die Gesetze, die in der anorganischen
Welt gefunden wurden, in der organischen nichts von ihrer Gültigkeit einbüßten.

War so generell die Verwandtschaft der belebten Natur mit der unbelebten
erwiesen, so galt es nun, dem Rätsel des Lebens selber näher zu treten. Es
gibt dazu drei Wege. Erstens kann man durch Vergleichung komplizierterer
Lebewesen mit immer einfacheren einen Einheitsbegriff für das Leben an sich
zu gewinnen trachten: das tut die vergleichende Anatomie und Physiologie.
Dann kann man das einzelne Individuum bis zu den ersten Anfängen seines
Lebens zurückverfolgen: das tut die Embryologie oder Entwickluligsgeschichte.
Und endlich kann man durch Verfolgung der Lebewesen in frühere und früheste
Erdepochen hinein den Anfängen des Lebens auf der Erde auf die Spur zu


Grenzboten II 1911 2
Natnrerkonntnis und Weltanschauung

verloren gehen könne, das wurde durch Lavoisier, den Entdecker des Sauerstoffs,
bewiesen, und man gewann das Gesetz von der Konstanz der Materie. Ihm
trat als zweites in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Gesetz von
der Erhaltung der Kraft oder besser von der Konstanz der Energie zur Seite,
und zum großen Teil durch die Kenntnis dieser beiden Gesetze ist der früher
ungeahnte Aufschwung der Technik möglich gewesen.

Schauen nur uns heute um, so gibt es kein einziges Gebiet in der
anorganischen Natur, das uns völlig dunkel wäre, keine Kraft, die der Mensch
sich nicht dienstbar gemacht hätte, seitdem er die Zauberformeln kennt, denen sie
gehorchen: das sind ihre Gesetze.

Mußte da nicht der Dualismus seinen Rückzug antreten und anerkennen,
daß die Natur uicht durch Gottes Willen, sondern durch starre Gesetze regiert
werde? Und konnte er diesen Rückzug nicht um so eher antreten, als ihm ja
noch eine ganze große Hälfte der Welt zur Verfügung stand, die des Lebendigen?
Wir wissen, daß auch hiervor die mechanische Welterklärung, der Materialismus,
nicht halt zu machen brauchte, sondern dem Dualismus in dessen eigenstes Gebiet
folgen konnte.

Noch Lavoisier mußte die Schranke anerkennen, die die Chemie der lebendigen
Natur von der der unbelebten trennte, die organische von der anorganischen.
Aber als es im Jahre 1828 Wühler zum ersten Male gelungen war, einen
organischen Stoff aus anorganischen künstlich herzustellen, war damit die Schranke
gefallen, und die letzten achtzig Jahre haben uns gezeigt, daß die früher so
geheimnisvolle organische Chemie nichts ist als die Chemie eines einzigen
Elementes, des Kohlenstoffes. Und wenn auch noch nicht alle bekannten organischen
Stoffe im Laboratorium synthetisch dargestellt werden können, so ist doch die
Hoffnung durchaus berechtigt, daß es gelingen wird, nach den großen Erfolgen,
die schon erreicht sind. Ich erinnere nur an die Farbstoffe des Krapp und des
Wald, den Veilchenduft, deu aromatischen Stoff der Vanille, das Chinin, ja
auch an einen bis vor kurzem ganz geheimnisvollen Stoff des mensch¬
lichen Körpers von ungemeiner Wirkungsfähigkeit, das Adrenalin.

Hand in Hand mit der chemischen ging die physikalische Erforschung der
Organismen, und auch hier ergab sich, daß die Gesetze, die in der anorganischen
Welt gefunden wurden, in der organischen nichts von ihrer Gültigkeit einbüßten.

War so generell die Verwandtschaft der belebten Natur mit der unbelebten
erwiesen, so galt es nun, dem Rätsel des Lebens selber näher zu treten. Es
gibt dazu drei Wege. Erstens kann man durch Vergleichung komplizierterer
Lebewesen mit immer einfacheren einen Einheitsbegriff für das Leben an sich
zu gewinnen trachten: das tut die vergleichende Anatomie und Physiologie.
Dann kann man das einzelne Individuum bis zu den ersten Anfängen seines
Lebens zurückverfolgen: das tut die Embryologie oder Entwickluligsgeschichte.
Und endlich kann man durch Verfolgung der Lebewesen in frühere und früheste
Erdepochen hinein den Anfängen des Lebens auf der Erde auf die Spur zu


Grenzboten II 1911 2
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[0021] Natnrerkonntnis und Weltanschauung verloren gehen könne, das wurde durch Lavoisier, den Entdecker des Sauerstoffs, bewiesen, und man gewann das Gesetz von der Konstanz der Materie. Ihm trat als zweites in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder besser von der Konstanz der Energie zur Seite, und zum großen Teil durch die Kenntnis dieser beiden Gesetze ist der früher ungeahnte Aufschwung der Technik möglich gewesen. Schauen nur uns heute um, so gibt es kein einziges Gebiet in der anorganischen Natur, das uns völlig dunkel wäre, keine Kraft, die der Mensch sich nicht dienstbar gemacht hätte, seitdem er die Zauberformeln kennt, denen sie gehorchen: das sind ihre Gesetze. Mußte da nicht der Dualismus seinen Rückzug antreten und anerkennen, daß die Natur uicht durch Gottes Willen, sondern durch starre Gesetze regiert werde? Und konnte er diesen Rückzug nicht um so eher antreten, als ihm ja noch eine ganze große Hälfte der Welt zur Verfügung stand, die des Lebendigen? Wir wissen, daß auch hiervor die mechanische Welterklärung, der Materialismus, nicht halt zu machen brauchte, sondern dem Dualismus in dessen eigenstes Gebiet folgen konnte. Noch Lavoisier mußte die Schranke anerkennen, die die Chemie der lebendigen Natur von der der unbelebten trennte, die organische von der anorganischen. Aber als es im Jahre 1828 Wühler zum ersten Male gelungen war, einen organischen Stoff aus anorganischen künstlich herzustellen, war damit die Schranke gefallen, und die letzten achtzig Jahre haben uns gezeigt, daß die früher so geheimnisvolle organische Chemie nichts ist als die Chemie eines einzigen Elementes, des Kohlenstoffes. Und wenn auch noch nicht alle bekannten organischen Stoffe im Laboratorium synthetisch dargestellt werden können, so ist doch die Hoffnung durchaus berechtigt, daß es gelingen wird, nach den großen Erfolgen, die schon erreicht sind. Ich erinnere nur an die Farbstoffe des Krapp und des Wald, den Veilchenduft, deu aromatischen Stoff der Vanille, das Chinin, ja auch an einen bis vor kurzem ganz geheimnisvollen Stoff des mensch¬ lichen Körpers von ungemeiner Wirkungsfähigkeit, das Adrenalin. Hand in Hand mit der chemischen ging die physikalische Erforschung der Organismen, und auch hier ergab sich, daß die Gesetze, die in der anorganischen Welt gefunden wurden, in der organischen nichts von ihrer Gültigkeit einbüßten. War so generell die Verwandtschaft der belebten Natur mit der unbelebten erwiesen, so galt es nun, dem Rätsel des Lebens selber näher zu treten. Es gibt dazu drei Wege. Erstens kann man durch Vergleichung komplizierterer Lebewesen mit immer einfacheren einen Einheitsbegriff für das Leben an sich zu gewinnen trachten: das tut die vergleichende Anatomie und Physiologie. Dann kann man das einzelne Individuum bis zu den ersten Anfängen seines Lebens zurückverfolgen: das tut die Embryologie oder Entwickluligsgeschichte. Und endlich kann man durch Verfolgung der Lebewesen in frühere und früheste Erdepochen hinein den Anfängen des Lebens auf der Erde auf die Spur zu Grenzboten II 1911 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/21>, abgerufen am 01.07.2024.