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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkenntnis und Weltanschauung

kommen suchen: das tut die Paläontologie oder Versteinerungskunde. Alle drei
Wege sind und werden von unzähligen Forschern mit Eifer verfolgt, und ihr
gemeinsames Ergebnis ist das, was man als Deszendenztheorie im weiteren
Sinne bezeichnet.

Schon der zuerst begangene der drei Wege, die vergleichende Morphologie,
führte dazu, die gesamte Lebewelt als etwas Einheitliches aufzufassen, indem man
gewisse gemeinsame Grundprinzipien, z. B. Atmung, Stoffwechsel, Empsindungs-
und Bewegungsvorgänge, Fortpflanzung durch alle Organismen oder doch durch
lange Reihen hindurch verfolgen konnte. Hatte man das früher als Anzeichen
eines gemeinsamen Schöpfungsplanes angesehen, so begann um Z800 herum
sich der Begriff einer inneren Verwandtschaft mit den erwähnten Erscheinungen
zu verbinden; d. h. man erklärte sich die Übereinstimmungen durch die Annahme,
daß die einzelnen Tier- und Pflanzenarten sich auseinander in aufsteigender
Reihe entwickelt hätten, also durch das, was wir vorhin als Deszendenzlehre
im weiteren Sinne bezeichneten (nebenbei ein Gedanke, den schon der ionische
Philosoph Anaximander um 500 v. Chr. ausgesprochen hat).

Um 1880 herum lieferte dann der durch das Mikroskop erbrachte Nachweis,
daß alle Organismen aus analogen Grundelementen aufgebaut seien, die gesuchte
Lebenseinheit in der Zelle.

Zellen, d. h. winzig kleine belebte Klümpchen von sogenanntem Proto¬
plasma, in deren Innerem ein mit dem Namen Zellkern bezeichnetes Bläschen
zu unterscheiden ist, sind die elementarsten Träger des Lebens, die überall
gefunden werden und die Bausteine des Lebendigen bilden. Man kann in der
Natur alle Übergänge finden, anfangend mit den Hunderttausenden von Arten,
die aus einer einzigen Zelle bestehen, weitergehend zu Verbänden von wenigen
hundert Zellen, die noch einen mehr freiwilligen und zeitweiligen Charakter
tragen, weiter zu einfachsten schlauchförmigen, noch aus fast gleichartigen Zellen
bestehenden Organismen, und so in allmählicher Stufenfolge, wobei sich mit der
zunehmenden Zahl auch die Ausbildung der einzelnen Elemente nach dem Prinzip
der Arbeitsteilung ändert, bis zu den hochorganisierten Wirbeltieren hinauf, den
Menschen mit eingeschlossen.

Und hier berührt sich der erste Weg mit dem zweiten, der Entwicklungs¬
geschichte, die bei den, einzelnen Individuum denselben Weg verfolgen kann,
vom einzelligen Dasein als befruchtete Eizelle durch immer differenziertere
Zustände bis zur Vollkommenheit des erwachsenen Körpers, der Pflanze, oder,
was uns für unseren Stoff näher liegt, des Tieres.

Es ist 3 priori anzunehmen, daß bei dem gleichen Ausgangs- und End¬
punkt der Entwicklung auch die Zwischenstufen, namentlich in den ersten Stadien.
Übereinstimmungen zeigen werden. Wie wir sehen werden, wird diese nicht
unerwartete Erscheinung, die tatsächlich statthat, von mancher Seite aus unter
dem Namen des biogenetischen Grundgesetzes als hervorragende Waffe im
Kampfe um die Deszendenz gehandhabt. Die beiden eben angedeuteten Wege


Naturerkenntnis und Weltanschauung

kommen suchen: das tut die Paläontologie oder Versteinerungskunde. Alle drei
Wege sind und werden von unzähligen Forschern mit Eifer verfolgt, und ihr
gemeinsames Ergebnis ist das, was man als Deszendenztheorie im weiteren
Sinne bezeichnet.

Schon der zuerst begangene der drei Wege, die vergleichende Morphologie,
führte dazu, die gesamte Lebewelt als etwas Einheitliches aufzufassen, indem man
gewisse gemeinsame Grundprinzipien, z. B. Atmung, Stoffwechsel, Empsindungs-
und Bewegungsvorgänge, Fortpflanzung durch alle Organismen oder doch durch
lange Reihen hindurch verfolgen konnte. Hatte man das früher als Anzeichen
eines gemeinsamen Schöpfungsplanes angesehen, so begann um Z800 herum
sich der Begriff einer inneren Verwandtschaft mit den erwähnten Erscheinungen
zu verbinden; d. h. man erklärte sich die Übereinstimmungen durch die Annahme,
daß die einzelnen Tier- und Pflanzenarten sich auseinander in aufsteigender
Reihe entwickelt hätten, also durch das, was wir vorhin als Deszendenzlehre
im weiteren Sinne bezeichneten (nebenbei ein Gedanke, den schon der ionische
Philosoph Anaximander um 500 v. Chr. ausgesprochen hat).

Um 1880 herum lieferte dann der durch das Mikroskop erbrachte Nachweis,
daß alle Organismen aus analogen Grundelementen aufgebaut seien, die gesuchte
Lebenseinheit in der Zelle.

Zellen, d. h. winzig kleine belebte Klümpchen von sogenanntem Proto¬
plasma, in deren Innerem ein mit dem Namen Zellkern bezeichnetes Bläschen
zu unterscheiden ist, sind die elementarsten Träger des Lebens, die überall
gefunden werden und die Bausteine des Lebendigen bilden. Man kann in der
Natur alle Übergänge finden, anfangend mit den Hunderttausenden von Arten,
die aus einer einzigen Zelle bestehen, weitergehend zu Verbänden von wenigen
hundert Zellen, die noch einen mehr freiwilligen und zeitweiligen Charakter
tragen, weiter zu einfachsten schlauchförmigen, noch aus fast gleichartigen Zellen
bestehenden Organismen, und so in allmählicher Stufenfolge, wobei sich mit der
zunehmenden Zahl auch die Ausbildung der einzelnen Elemente nach dem Prinzip
der Arbeitsteilung ändert, bis zu den hochorganisierten Wirbeltieren hinauf, den
Menschen mit eingeschlossen.

Und hier berührt sich der erste Weg mit dem zweiten, der Entwicklungs¬
geschichte, die bei den, einzelnen Individuum denselben Weg verfolgen kann,
vom einzelligen Dasein als befruchtete Eizelle durch immer differenziertere
Zustände bis zur Vollkommenheit des erwachsenen Körpers, der Pflanze, oder,
was uns für unseren Stoff näher liegt, des Tieres.

Es ist 3 priori anzunehmen, daß bei dem gleichen Ausgangs- und End¬
punkt der Entwicklung auch die Zwischenstufen, namentlich in den ersten Stadien.
Übereinstimmungen zeigen werden. Wie wir sehen werden, wird diese nicht
unerwartete Erscheinung, die tatsächlich statthat, von mancher Seite aus unter
dem Namen des biogenetischen Grundgesetzes als hervorragende Waffe im
Kampfe um die Deszendenz gehandhabt. Die beiden eben angedeuteten Wege


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[0022] Naturerkenntnis und Weltanschauung kommen suchen: das tut die Paläontologie oder Versteinerungskunde. Alle drei Wege sind und werden von unzähligen Forschern mit Eifer verfolgt, und ihr gemeinsames Ergebnis ist das, was man als Deszendenztheorie im weiteren Sinne bezeichnet. Schon der zuerst begangene der drei Wege, die vergleichende Morphologie, führte dazu, die gesamte Lebewelt als etwas Einheitliches aufzufassen, indem man gewisse gemeinsame Grundprinzipien, z. B. Atmung, Stoffwechsel, Empsindungs- und Bewegungsvorgänge, Fortpflanzung durch alle Organismen oder doch durch lange Reihen hindurch verfolgen konnte. Hatte man das früher als Anzeichen eines gemeinsamen Schöpfungsplanes angesehen, so begann um Z800 herum sich der Begriff einer inneren Verwandtschaft mit den erwähnten Erscheinungen zu verbinden; d. h. man erklärte sich die Übereinstimmungen durch die Annahme, daß die einzelnen Tier- und Pflanzenarten sich auseinander in aufsteigender Reihe entwickelt hätten, also durch das, was wir vorhin als Deszendenzlehre im weiteren Sinne bezeichneten (nebenbei ein Gedanke, den schon der ionische Philosoph Anaximander um 500 v. Chr. ausgesprochen hat). Um 1880 herum lieferte dann der durch das Mikroskop erbrachte Nachweis, daß alle Organismen aus analogen Grundelementen aufgebaut seien, die gesuchte Lebenseinheit in der Zelle. Zellen, d. h. winzig kleine belebte Klümpchen von sogenanntem Proto¬ plasma, in deren Innerem ein mit dem Namen Zellkern bezeichnetes Bläschen zu unterscheiden ist, sind die elementarsten Träger des Lebens, die überall gefunden werden und die Bausteine des Lebendigen bilden. Man kann in der Natur alle Übergänge finden, anfangend mit den Hunderttausenden von Arten, die aus einer einzigen Zelle bestehen, weitergehend zu Verbänden von wenigen hundert Zellen, die noch einen mehr freiwilligen und zeitweiligen Charakter tragen, weiter zu einfachsten schlauchförmigen, noch aus fast gleichartigen Zellen bestehenden Organismen, und so in allmählicher Stufenfolge, wobei sich mit der zunehmenden Zahl auch die Ausbildung der einzelnen Elemente nach dem Prinzip der Arbeitsteilung ändert, bis zu den hochorganisierten Wirbeltieren hinauf, den Menschen mit eingeschlossen. Und hier berührt sich der erste Weg mit dem zweiten, der Entwicklungs¬ geschichte, die bei den, einzelnen Individuum denselben Weg verfolgen kann, vom einzelligen Dasein als befruchtete Eizelle durch immer differenziertere Zustände bis zur Vollkommenheit des erwachsenen Körpers, der Pflanze, oder, was uns für unseren Stoff näher liegt, des Tieres. Es ist 3 priori anzunehmen, daß bei dem gleichen Ausgangs- und End¬ punkt der Entwicklung auch die Zwischenstufen, namentlich in den ersten Stadien. Übereinstimmungen zeigen werden. Wie wir sehen werden, wird diese nicht unerwartete Erscheinung, die tatsächlich statthat, von mancher Seite aus unter dem Namen des biogenetischen Grundgesetzes als hervorragende Waffe im Kampfe um die Deszendenz gehandhabt. Die beiden eben angedeuteten Wege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/22>, abgerufen am 01.07.2024.