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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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ja lakonischer Kürze vierzig und mehr Redner zu verzeichnen, von denen jeder
ven Bau einer Bahn von da bis dort -- zufälligerweise durchquert die Bahn
immer seinen Wahlkreis -- mit hinreißender Beredsamkeit befürwortet; dann
pflegt der Eisenbahnminister aufzustehen und jedes Jahr mit demselben ernsten
Gesicht das eingehende Studium aller empfohlenen Projekte zuzusagen, woraus die
Abgeordneten mit dem trostreichen Gefühl nach Hause gehen: In maxni8 voluis8L
sat e8t . . . Die Lokalbahnvorlage, die der Ministerpräsident in Aussicht stellte,
hätte bei einem Kostenaufwande von etwa einer Viertelmilliarde Kronen sechs¬
undsiebzig Abgeordneten und sechsundsiebzig Wahlkreisen die Befriedigung ihrer
Wünsche und sechsundsiebzig Abgeordneten die Befestigung ihrer Mandate
gebracht; da wären denn gerade noch vierhundertvierzig übrig geblieben, die
auf andere Weise zufriedengestellt werden müßten.

Das ist die parlamentarische Korruption bezüglich der Abgeordneten
und Parteien. Ein viel weitläufigeres Kapitel ist die Korruption, die durch
das allgemeine Wahlrecht überhaupt herbeigeführt wurde und an dem das Haus
als ganzes beteiligt ist. Da ist das weite Gebiet der Sozialpolitik; sie hat
in Nationalstaaten wie im Deutschen Reich ihre zwei Seiten, in einem Nationa¬
litätenstaat wie Österreich ganz unübersehbare Wirkungen, ganz besonders wenn
man die deutschen Gesetze im großen und ganzen doch nur abschreibt und
noch durch einen weiteren Aufguß sozialen Oich verstärkt. In Österreich beträgt
die Haussteuer, die doch natürlich auf den Mieter abgewälzt wird, zwischen
40 und 45 Prozent, was zur Folge hat, daß die Wohnungen in Wien gerade
doppelt so teuer sind als in Berlin. Es ist dies eine unsoziale Steuer, die
auf den Ärmsten am schwersten lastet und den Verderb kommender Generationen
bedeutet; jede vernünftige Sozialpolitik müßte also doch damit anfangen,
billige und gesunde Wohnungen zu schaffen, meinetwegen mit einer progressiven
Besteuerung, anfangend bei einer bestimmten Höhe der Miete. In Österreich
zäumt man das Pferd beim Schweife und schafft eine Alters- und Invaliditäts¬
versicherung. Sie überbietet, was die Zahl der Versicherten wie auch die Höhe
der vom Staate zu leistenden Zuschüsse betrifft, bei weitem die deutsche Ver¬
sicherung; und zu allen weiteren Belastungen, die die Kommission in das Gesetz
noch gepackt hat, sagt die Regierung Ja und Amen. Glücklicherweise ist durch
die Auflösung des Hauses diese "soziale Großtat" vorläufig wieder in die
Schubladen des Ministeriums gewandert. Aber nicht die Arbeiter allein haben
den Abgeordneten gewählt, wenn er auch hier den schärfsten Wettbewerb mit
den Versprechungen der Sozialdemokraten zu bestehen hat; auch der Handwerker
will seinen Tisch gedeckt haben, natürlich mit den Speisen, die nach seiner
Meinung am schmackhaftesten sind (wodurch eine wirkliche Heilung der Schäden
dieses Standes oft überhaupt unmöglich gemacht wird), und auch der Beamte
will seinen Teil. Wenn es noch nicht durchgeführt ist, daß jeder Beamte ein
Hofratsgehalt bezieht, so ist dies nicht Schuld der Abgeordneten. Denn auf
dem besten Wege dazu ist man bereits; die Abgeordneten fordern für die


Grenzboten it 1911 ^
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ja lakonischer Kürze vierzig und mehr Redner zu verzeichnen, von denen jeder
ven Bau einer Bahn von da bis dort — zufälligerweise durchquert die Bahn
immer seinen Wahlkreis — mit hinreißender Beredsamkeit befürwortet; dann
pflegt der Eisenbahnminister aufzustehen und jedes Jahr mit demselben ernsten
Gesicht das eingehende Studium aller empfohlenen Projekte zuzusagen, woraus die
Abgeordneten mit dem trostreichen Gefühl nach Hause gehen: In maxni8 voluis8L
sat e8t . . . Die Lokalbahnvorlage, die der Ministerpräsident in Aussicht stellte,
hätte bei einem Kostenaufwande von etwa einer Viertelmilliarde Kronen sechs¬
undsiebzig Abgeordneten und sechsundsiebzig Wahlkreisen die Befriedigung ihrer
Wünsche und sechsundsiebzig Abgeordneten die Befestigung ihrer Mandate
gebracht; da wären denn gerade noch vierhundertvierzig übrig geblieben, die
auf andere Weise zufriedengestellt werden müßten.

Das ist die parlamentarische Korruption bezüglich der Abgeordneten
und Parteien. Ein viel weitläufigeres Kapitel ist die Korruption, die durch
das allgemeine Wahlrecht überhaupt herbeigeführt wurde und an dem das Haus
als ganzes beteiligt ist. Da ist das weite Gebiet der Sozialpolitik; sie hat
in Nationalstaaten wie im Deutschen Reich ihre zwei Seiten, in einem Nationa¬
litätenstaat wie Österreich ganz unübersehbare Wirkungen, ganz besonders wenn
man die deutschen Gesetze im großen und ganzen doch nur abschreibt und
noch durch einen weiteren Aufguß sozialen Oich verstärkt. In Österreich beträgt
die Haussteuer, die doch natürlich auf den Mieter abgewälzt wird, zwischen
40 und 45 Prozent, was zur Folge hat, daß die Wohnungen in Wien gerade
doppelt so teuer sind als in Berlin. Es ist dies eine unsoziale Steuer, die
auf den Ärmsten am schwersten lastet und den Verderb kommender Generationen
bedeutet; jede vernünftige Sozialpolitik müßte also doch damit anfangen,
billige und gesunde Wohnungen zu schaffen, meinetwegen mit einer progressiven
Besteuerung, anfangend bei einer bestimmten Höhe der Miete. In Österreich
zäumt man das Pferd beim Schweife und schafft eine Alters- und Invaliditäts¬
versicherung. Sie überbietet, was die Zahl der Versicherten wie auch die Höhe
der vom Staate zu leistenden Zuschüsse betrifft, bei weitem die deutsche Ver¬
sicherung; und zu allen weiteren Belastungen, die die Kommission in das Gesetz
noch gepackt hat, sagt die Regierung Ja und Amen. Glücklicherweise ist durch
die Auflösung des Hauses diese „soziale Großtat" vorläufig wieder in die
Schubladen des Ministeriums gewandert. Aber nicht die Arbeiter allein haben
den Abgeordneten gewählt, wenn er auch hier den schärfsten Wettbewerb mit
den Versprechungen der Sozialdemokraten zu bestehen hat; auch der Handwerker
will seinen Tisch gedeckt haben, natürlich mit den Speisen, die nach seiner
Meinung am schmackhaftesten sind (wodurch eine wirkliche Heilung der Schäden
dieses Standes oft überhaupt unmöglich gemacht wird), und auch der Beamte
will seinen Teil. Wenn es noch nicht durchgeführt ist, daß jeder Beamte ein
Hofratsgehalt bezieht, so ist dies nicht Schuld der Abgeordneten. Denn auf
dem besten Wege dazu ist man bereits; die Abgeordneten fordern für die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/149>, abgerufen am 29.06.2024.