Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

Beamten das Zeitavancement, d. h. jeder Beamte soll unter allen Umständen
vorrücken und ein gewisses Höchstgehalt erreichen. Man male sich die Folgen
aus; die Regierung hat mit geringen Abschwächungen den Forderungen zugestimmt.
Bei den österreichischen Staatsbahnen herrscht eine heillose Wirtschaft, ein
ungeheurer Beamtenüberfluß belastet das Budget, und dementsprechend sind die
Bahnen auch in hohem Maße passiv; die Gründe dafür im einzelnen aus¬
zuführen, würde hier zu weit führen, sie fallen aber auch fast alle unter die
Rubrik der parlamentarischen Korruption. Und wenn hier nicht Wandel geschaffen
wird, so geht Österreich einer schweren finanziellen Krise entgegen, sobald es
seine rückständige Wehrkraft auf die Höhe der Anforderungen bringt, die sich
aus der Großmachtstellung und dem Bundesverhültnis ergeben.

Hier liegen die Schäden, die eine Neuwahl des Abgeordnetenhauses nicht
heilen kann. Die Übelstände sind alt, viel älter als das allgemeine Wahlrecht;
dieses hat sie freilich verschärft. Die Hauptursache liegt in der Nachgiebigkeit
der Regierung. Im deutschen Reichstag fällt es schließlich selbst dem Zentrum,
dem man vielleicht am ehesten Gelüste nach solcher Politik nachsagen könnte, nicht
ein, als Preis für die Unterstützung der Regierung ein paar Staatssekretariate
und die Besetzung von soundso viel Beamtenposten mit seinen Anhängern zu
verlange!:. Die Erfahrung hat gelehrt, daß alle Versuche einer parlamentarischen
Regierung in Österreich deshalb ganz unmöglich sind, weil die parlamentarischen
Minister sich gar nicht dem ganzen Lande gegenüber sür ihr Tun verantwortlich
fühlen, ja zum Teil an dem Bestände des Staates in seiner jetzigen Form
überhaupt kein Interesse haben. Aber mit einer Beamtenregierung nach preußischem
Muster allein wäre es auch nicht getan. Diese Regierung müßte stark genug sein,
um die Grenze zwischen Verwaltung und Gesetzgebung strengstens zu wahren;
bevor das Parlament sich aber mit einer solchen Beschränkung seiner Macht¬
befugnisse abfindet, würde es wohl harte Kämpfe setzen. Indes steht sest, daß
der Kaiser derartigen Konflikten abgeneigt ist; dies ist aus manchen seiner
Lebenserfahrungen erklärlich und bei seinem Alter wohl auch begreiflich. Damit
ist aber auch die Bedeutung der kommenden Neichsratswahlen einigermaßen
umgrenzt; man wird sich "fortfretten". Für die Deutschen ist der Zustand
erträglich, sie sind nicht stark genug, um dem Staatswesen gegen den Willen der
Dynastie Reform und daraus folgende Gesundung aufzuzwingen. Sie müssen
froh sein, wenn es ihnen gelingt, ihre nationalen Interessen zu wahren.

In Ungarn hat man die Auflösung des österreichischen Reichsrath mit
Schmunzeln aufgenommen. Zwar stehen die Dinge nicht so, daß selbst ein
arbeitsfähiger österreichischer Reichsrat ein unüberwindliches Hindernis für die
Durchsetzung ungarischer Forderungen wäre; aber er kann immerhin den
Widerstand, der vom Träger der Krone geübt wird, wirksam verstärken oder
dem Monarchen den Widerstand bequemer machen, indem er ihn auf die öster¬
reichische Negierung und das Parlament abschiebt. Nun besteht gegenwärtig eine
dem Grafen Khueu recht peinliche Differenz zwischen der österreichischen und der


Reichsspiegel

Beamten das Zeitavancement, d. h. jeder Beamte soll unter allen Umständen
vorrücken und ein gewisses Höchstgehalt erreichen. Man male sich die Folgen
aus; die Regierung hat mit geringen Abschwächungen den Forderungen zugestimmt.
Bei den österreichischen Staatsbahnen herrscht eine heillose Wirtschaft, ein
ungeheurer Beamtenüberfluß belastet das Budget, und dementsprechend sind die
Bahnen auch in hohem Maße passiv; die Gründe dafür im einzelnen aus¬
zuführen, würde hier zu weit führen, sie fallen aber auch fast alle unter die
Rubrik der parlamentarischen Korruption. Und wenn hier nicht Wandel geschaffen
wird, so geht Österreich einer schweren finanziellen Krise entgegen, sobald es
seine rückständige Wehrkraft auf die Höhe der Anforderungen bringt, die sich
aus der Großmachtstellung und dem Bundesverhültnis ergeben.

Hier liegen die Schäden, die eine Neuwahl des Abgeordnetenhauses nicht
heilen kann. Die Übelstände sind alt, viel älter als das allgemeine Wahlrecht;
dieses hat sie freilich verschärft. Die Hauptursache liegt in der Nachgiebigkeit
der Regierung. Im deutschen Reichstag fällt es schließlich selbst dem Zentrum,
dem man vielleicht am ehesten Gelüste nach solcher Politik nachsagen könnte, nicht
ein, als Preis für die Unterstützung der Regierung ein paar Staatssekretariate
und die Besetzung von soundso viel Beamtenposten mit seinen Anhängern zu
verlange!:. Die Erfahrung hat gelehrt, daß alle Versuche einer parlamentarischen
Regierung in Österreich deshalb ganz unmöglich sind, weil die parlamentarischen
Minister sich gar nicht dem ganzen Lande gegenüber sür ihr Tun verantwortlich
fühlen, ja zum Teil an dem Bestände des Staates in seiner jetzigen Form
überhaupt kein Interesse haben. Aber mit einer Beamtenregierung nach preußischem
Muster allein wäre es auch nicht getan. Diese Regierung müßte stark genug sein,
um die Grenze zwischen Verwaltung und Gesetzgebung strengstens zu wahren;
bevor das Parlament sich aber mit einer solchen Beschränkung seiner Macht¬
befugnisse abfindet, würde es wohl harte Kämpfe setzen. Indes steht sest, daß
der Kaiser derartigen Konflikten abgeneigt ist; dies ist aus manchen seiner
Lebenserfahrungen erklärlich und bei seinem Alter wohl auch begreiflich. Damit
ist aber auch die Bedeutung der kommenden Neichsratswahlen einigermaßen
umgrenzt; man wird sich „fortfretten". Für die Deutschen ist der Zustand
erträglich, sie sind nicht stark genug, um dem Staatswesen gegen den Willen der
Dynastie Reform und daraus folgende Gesundung aufzuzwingen. Sie müssen
froh sein, wenn es ihnen gelingt, ihre nationalen Interessen zu wahren.

In Ungarn hat man die Auflösung des österreichischen Reichsrath mit
Schmunzeln aufgenommen. Zwar stehen die Dinge nicht so, daß selbst ein
arbeitsfähiger österreichischer Reichsrat ein unüberwindliches Hindernis für die
Durchsetzung ungarischer Forderungen wäre; aber er kann immerhin den
Widerstand, der vom Träger der Krone geübt wird, wirksam verstärken oder
dem Monarchen den Widerstand bequemer machen, indem er ihn auf die öster¬
reichische Negierung und das Parlament abschiebt. Nun besteht gegenwärtig eine
dem Grafen Khueu recht peinliche Differenz zwischen der österreichischen und der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318433"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_670" prev="#ID_669"> Beamten das Zeitavancement, d. h. jeder Beamte soll unter allen Umständen<lb/>
vorrücken und ein gewisses Höchstgehalt erreichen. Man male sich die Folgen<lb/>
aus; die Regierung hat mit geringen Abschwächungen den Forderungen zugestimmt.<lb/>
Bei den österreichischen Staatsbahnen herrscht eine heillose Wirtschaft, ein<lb/>
ungeheurer Beamtenüberfluß belastet das Budget, und dementsprechend sind die<lb/>
Bahnen auch in hohem Maße passiv; die Gründe dafür im einzelnen aus¬<lb/>
zuführen, würde hier zu weit führen, sie fallen aber auch fast alle unter die<lb/>
Rubrik der parlamentarischen Korruption. Und wenn hier nicht Wandel geschaffen<lb/>
wird, so geht Österreich einer schweren finanziellen Krise entgegen, sobald es<lb/>
seine rückständige Wehrkraft auf die Höhe der Anforderungen bringt, die sich<lb/>
aus der Großmachtstellung und dem Bundesverhültnis ergeben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_671"> Hier liegen die Schäden, die eine Neuwahl des Abgeordnetenhauses nicht<lb/>
heilen kann. Die Übelstände sind alt, viel älter als das allgemeine Wahlrecht;<lb/>
dieses hat sie freilich verschärft. Die Hauptursache liegt in der Nachgiebigkeit<lb/>
der Regierung. Im deutschen Reichstag fällt es schließlich selbst dem Zentrum,<lb/>
dem man vielleicht am ehesten Gelüste nach solcher Politik nachsagen könnte, nicht<lb/>
ein, als Preis für die Unterstützung der Regierung ein paar Staatssekretariate<lb/>
und die Besetzung von soundso viel Beamtenposten mit seinen Anhängern zu<lb/>
verlange!:. Die Erfahrung hat gelehrt, daß alle Versuche einer parlamentarischen<lb/>
Regierung in Österreich deshalb ganz unmöglich sind, weil die parlamentarischen<lb/>
Minister sich gar nicht dem ganzen Lande gegenüber sür ihr Tun verantwortlich<lb/>
fühlen, ja zum Teil an dem Bestände des Staates in seiner jetzigen Form<lb/>
überhaupt kein Interesse haben. Aber mit einer Beamtenregierung nach preußischem<lb/>
Muster allein wäre es auch nicht getan. Diese Regierung müßte stark genug sein,<lb/>
um die Grenze zwischen Verwaltung und Gesetzgebung strengstens zu wahren;<lb/>
bevor das Parlament sich aber mit einer solchen Beschränkung seiner Macht¬<lb/>
befugnisse abfindet, würde es wohl harte Kämpfe setzen. Indes steht sest, daß<lb/>
der Kaiser derartigen Konflikten abgeneigt ist; dies ist aus manchen seiner<lb/>
Lebenserfahrungen erklärlich und bei seinem Alter wohl auch begreiflich. Damit<lb/>
ist aber auch die Bedeutung der kommenden Neichsratswahlen einigermaßen<lb/>
umgrenzt; man wird sich &#x201E;fortfretten". Für die Deutschen ist der Zustand<lb/>
erträglich, sie sind nicht stark genug, um dem Staatswesen gegen den Willen der<lb/>
Dynastie Reform und daraus folgende Gesundung aufzuzwingen. Sie müssen<lb/>
froh sein, wenn es ihnen gelingt, ihre nationalen Interessen zu wahren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_672" next="#ID_673"> In Ungarn hat man die Auflösung des österreichischen Reichsrath mit<lb/>
Schmunzeln aufgenommen. Zwar stehen die Dinge nicht so, daß selbst ein<lb/>
arbeitsfähiger österreichischer Reichsrat ein unüberwindliches Hindernis für die<lb/>
Durchsetzung ungarischer Forderungen wäre; aber er kann immerhin den<lb/>
Widerstand, der vom Träger der Krone geübt wird, wirksam verstärken oder<lb/>
dem Monarchen den Widerstand bequemer machen, indem er ihn auf die öster¬<lb/>
reichische Negierung und das Parlament abschiebt. Nun besteht gegenwärtig eine<lb/>
dem Grafen Khueu recht peinliche Differenz zwischen der österreichischen und der</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0150] Reichsspiegel Beamten das Zeitavancement, d. h. jeder Beamte soll unter allen Umständen vorrücken und ein gewisses Höchstgehalt erreichen. Man male sich die Folgen aus; die Regierung hat mit geringen Abschwächungen den Forderungen zugestimmt. Bei den österreichischen Staatsbahnen herrscht eine heillose Wirtschaft, ein ungeheurer Beamtenüberfluß belastet das Budget, und dementsprechend sind die Bahnen auch in hohem Maße passiv; die Gründe dafür im einzelnen aus¬ zuführen, würde hier zu weit führen, sie fallen aber auch fast alle unter die Rubrik der parlamentarischen Korruption. Und wenn hier nicht Wandel geschaffen wird, so geht Österreich einer schweren finanziellen Krise entgegen, sobald es seine rückständige Wehrkraft auf die Höhe der Anforderungen bringt, die sich aus der Großmachtstellung und dem Bundesverhültnis ergeben. Hier liegen die Schäden, die eine Neuwahl des Abgeordnetenhauses nicht heilen kann. Die Übelstände sind alt, viel älter als das allgemeine Wahlrecht; dieses hat sie freilich verschärft. Die Hauptursache liegt in der Nachgiebigkeit der Regierung. Im deutschen Reichstag fällt es schließlich selbst dem Zentrum, dem man vielleicht am ehesten Gelüste nach solcher Politik nachsagen könnte, nicht ein, als Preis für die Unterstützung der Regierung ein paar Staatssekretariate und die Besetzung von soundso viel Beamtenposten mit seinen Anhängern zu verlange!:. Die Erfahrung hat gelehrt, daß alle Versuche einer parlamentarischen Regierung in Österreich deshalb ganz unmöglich sind, weil die parlamentarischen Minister sich gar nicht dem ganzen Lande gegenüber sür ihr Tun verantwortlich fühlen, ja zum Teil an dem Bestände des Staates in seiner jetzigen Form überhaupt kein Interesse haben. Aber mit einer Beamtenregierung nach preußischem Muster allein wäre es auch nicht getan. Diese Regierung müßte stark genug sein, um die Grenze zwischen Verwaltung und Gesetzgebung strengstens zu wahren; bevor das Parlament sich aber mit einer solchen Beschränkung seiner Macht¬ befugnisse abfindet, würde es wohl harte Kämpfe setzen. Indes steht sest, daß der Kaiser derartigen Konflikten abgeneigt ist; dies ist aus manchen seiner Lebenserfahrungen erklärlich und bei seinem Alter wohl auch begreiflich. Damit ist aber auch die Bedeutung der kommenden Neichsratswahlen einigermaßen umgrenzt; man wird sich „fortfretten". Für die Deutschen ist der Zustand erträglich, sie sind nicht stark genug, um dem Staatswesen gegen den Willen der Dynastie Reform und daraus folgende Gesundung aufzuzwingen. Sie müssen froh sein, wenn es ihnen gelingt, ihre nationalen Interessen zu wahren. In Ungarn hat man die Auflösung des österreichischen Reichsrath mit Schmunzeln aufgenommen. Zwar stehen die Dinge nicht so, daß selbst ein arbeitsfähiger österreichischer Reichsrat ein unüberwindliches Hindernis für die Durchsetzung ungarischer Forderungen wäre; aber er kann immerhin den Widerstand, der vom Träger der Krone geübt wird, wirksam verstärken oder dem Monarchen den Widerstand bequemer machen, indem er ihn auf die öster¬ reichische Negierung und das Parlament abschiebt. Nun besteht gegenwärtig eine dem Grafen Khueu recht peinliche Differenz zwischen der österreichischen und der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/150
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/150>, abgerufen am 26.06.2024.