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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

"Aufstand? Lächerlich! Weinlese ist jetzt bei uns daheim. Vielleicht haben
sich einige betrunken gemacht, aber das werden wir auch, Kameraden, das werden
wir auch!"

Die groben, aber fröhlichen Stimmen johlten in der Runde,- "Das werden
wir auch!"

Zwei Sergeanten, die über den Kasernenhof gingen, sahen sich bedeutsam an,
und einer sagte leise: "Weinlese? Eine blutige Weinlese!"

"Ist es nicht ein Unsinn," brummte der andere, "gerade unsere Linie hinunter
zu schicken, die wir so viele Söhne aus dem Süden in unseren Reihen haben?
Ein paar Abteilungen ans dem Norden hätten genügt., .. Wenn ich General
wäre! Die Herren am grünen Tisch, gehorsamsten Respekt, aber von der Truppe
verstehen sie nichts!"

"Wie viele Mädchen in deiner Gegend kennst du, Gaston?" wollten die
Kameraden wissen.

Gaston warf sich in die Brust. "Alle! Gaston von Perpignan wird die
Bescheidenheit haben dürfen, zu sagen, daß er alle kennt, alle!"

Gaston, ein schmucker Junge, Fliegenleim für die Mädchen, durfte sich rühmen,
an jedem Finger, an jedem Rockschoß nicht eine, sondern zehn zu haben, nicht
zehn, unzählige. . . . Mit Ausnahme von Jeanne seien sie alle den Kameraden
gewährt, von Herzen vergönnt, und des Jubels werde kein Ende sein!

"Ja, ihr müßt nach Perpignan kommen! Dort singen wir ein Lied, ohne
Reim und ohne Noten. In Perpignan da wachsen viele schöne Mädchennamen.
Ninon. Nana, Lolotte, Ninette, Marianne. Susanne, Babette! Aber es ist damit
noch nicht zu Ende, o, es ist noch lange nicht zu Ende! Da singt die Lerche mit,
die Fische in den Bächen singen mit, und wir alle, alle singen ohne Reim und
ohne Noten den großen Sang: Ninon, Nana, Lolotte. Ninette, Marianne, Susanne,
Babette, und sind damit noch lange nicht zu Ende, o, lange nicht zu Ende!"

Gaston schwätzte ins Blinde und Blaue und sang den großen Sang der
Heimat, und der Chorus von rauhen, frischen Stimmen brüllte mit. ohne Reim
und ohne Noten, süße Mädchennamen, und war lange nicht zu Ende, o, lange
nicht zu Ende!

Und eine namenlose Sehnsucht bedrängte Gastons Herz, als der trunkene
'Chorgesang ertönte, den man im Weinbergsfreudenrausch bei der Lese vor einem
Jahr gesungen hatte, damals, als Gaston Adieu sagte, das Glück in der Welt zu
suchen und die Probe zu bestehen, die ihm Marcellin, der kommende Schwieger¬
vater, auferlegt hatte. Damals saß man im Grünen, die blaue Nacht über sich,
bei bunten Lampions, den Wein in funkelnden Gläsern am Tisch. Und in dem
Sang der schönen Namen pries man die gottgesegnete, verrucht schöne, alte Heimat,
Pries sie laut und sang wie die Jünglinge im Feuerofen, im Weinbergsfeuerofen.
Und die lieben Stimmen und Namen liefen ihm nach, das Flüsterstinunengewirr
der Bäche, des in die Keltern tropfenden, rinnenden, tickenden Moses, das Blätter-
gesäusel des traumhäuptigen. rauschseligen, trostbringenden, grüngoldener Hügel¬
landes, wo der junge Weingott seine Stirne bekränzte und der gelbe Messing-
Vogel des Winzerhorns schmetternd in der blauen Luft stand. O Seynsucht!
O Heimat!


Der rote Rausch

„Aufstand? Lächerlich! Weinlese ist jetzt bei uns daheim. Vielleicht haben
sich einige betrunken gemacht, aber das werden wir auch, Kameraden, das werden
wir auch!"

Die groben, aber fröhlichen Stimmen johlten in der Runde,- „Das werden
wir auch!"

Zwei Sergeanten, die über den Kasernenhof gingen, sahen sich bedeutsam an,
und einer sagte leise: „Weinlese? Eine blutige Weinlese!"

„Ist es nicht ein Unsinn," brummte der andere, „gerade unsere Linie hinunter
zu schicken, die wir so viele Söhne aus dem Süden in unseren Reihen haben?
Ein paar Abteilungen ans dem Norden hätten genügt., .. Wenn ich General
wäre! Die Herren am grünen Tisch, gehorsamsten Respekt, aber von der Truppe
verstehen sie nichts!"

„Wie viele Mädchen in deiner Gegend kennst du, Gaston?" wollten die
Kameraden wissen.

Gaston warf sich in die Brust. „Alle! Gaston von Perpignan wird die
Bescheidenheit haben dürfen, zu sagen, daß er alle kennt, alle!"

Gaston, ein schmucker Junge, Fliegenleim für die Mädchen, durfte sich rühmen,
an jedem Finger, an jedem Rockschoß nicht eine, sondern zehn zu haben, nicht
zehn, unzählige. . . . Mit Ausnahme von Jeanne seien sie alle den Kameraden
gewährt, von Herzen vergönnt, und des Jubels werde kein Ende sein!

„Ja, ihr müßt nach Perpignan kommen! Dort singen wir ein Lied, ohne
Reim und ohne Noten. In Perpignan da wachsen viele schöne Mädchennamen.
Ninon. Nana, Lolotte, Ninette, Marianne. Susanne, Babette! Aber es ist damit
noch nicht zu Ende, o, es ist noch lange nicht zu Ende! Da singt die Lerche mit,
die Fische in den Bächen singen mit, und wir alle, alle singen ohne Reim und
ohne Noten den großen Sang: Ninon, Nana, Lolotte. Ninette, Marianne, Susanne,
Babette, und sind damit noch lange nicht zu Ende, o, lange nicht zu Ende!"

Gaston schwätzte ins Blinde und Blaue und sang den großen Sang der
Heimat, und der Chorus von rauhen, frischen Stimmen brüllte mit. ohne Reim
und ohne Noten, süße Mädchennamen, und war lange nicht zu Ende, o, lange
nicht zu Ende!

Und eine namenlose Sehnsucht bedrängte Gastons Herz, als der trunkene
'Chorgesang ertönte, den man im Weinbergsfreudenrausch bei der Lese vor einem
Jahr gesungen hatte, damals, als Gaston Adieu sagte, das Glück in der Welt zu
suchen und die Probe zu bestehen, die ihm Marcellin, der kommende Schwieger¬
vater, auferlegt hatte. Damals saß man im Grünen, die blaue Nacht über sich,
bei bunten Lampions, den Wein in funkelnden Gläsern am Tisch. Und in dem
Sang der schönen Namen pries man die gottgesegnete, verrucht schöne, alte Heimat,
Pries sie laut und sang wie die Jünglinge im Feuerofen, im Weinbergsfeuerofen.
Und die lieben Stimmen und Namen liefen ihm nach, das Flüsterstinunengewirr
der Bäche, des in die Keltern tropfenden, rinnenden, tickenden Moses, das Blätter-
gesäusel des traumhäuptigen. rauschseligen, trostbringenden, grüngoldener Hügel¬
landes, wo der junge Weingott seine Stirne bekränzte und der gelbe Messing-
Vogel des Winzerhorns schmetternd in der blauen Luft stand. O Seynsucht!
O Heimat!


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[0131] Der rote Rausch „Aufstand? Lächerlich! Weinlese ist jetzt bei uns daheim. Vielleicht haben sich einige betrunken gemacht, aber das werden wir auch, Kameraden, das werden wir auch!" Die groben, aber fröhlichen Stimmen johlten in der Runde,- „Das werden wir auch!" Zwei Sergeanten, die über den Kasernenhof gingen, sahen sich bedeutsam an, und einer sagte leise: „Weinlese? Eine blutige Weinlese!" „Ist es nicht ein Unsinn," brummte der andere, „gerade unsere Linie hinunter zu schicken, die wir so viele Söhne aus dem Süden in unseren Reihen haben? Ein paar Abteilungen ans dem Norden hätten genügt., .. Wenn ich General wäre! Die Herren am grünen Tisch, gehorsamsten Respekt, aber von der Truppe verstehen sie nichts!" „Wie viele Mädchen in deiner Gegend kennst du, Gaston?" wollten die Kameraden wissen. Gaston warf sich in die Brust. „Alle! Gaston von Perpignan wird die Bescheidenheit haben dürfen, zu sagen, daß er alle kennt, alle!" Gaston, ein schmucker Junge, Fliegenleim für die Mädchen, durfte sich rühmen, an jedem Finger, an jedem Rockschoß nicht eine, sondern zehn zu haben, nicht zehn, unzählige. . . . Mit Ausnahme von Jeanne seien sie alle den Kameraden gewährt, von Herzen vergönnt, und des Jubels werde kein Ende sein! „Ja, ihr müßt nach Perpignan kommen! Dort singen wir ein Lied, ohne Reim und ohne Noten. In Perpignan da wachsen viele schöne Mädchennamen. Ninon. Nana, Lolotte, Ninette, Marianne. Susanne, Babette! Aber es ist damit noch nicht zu Ende, o, es ist noch lange nicht zu Ende! Da singt die Lerche mit, die Fische in den Bächen singen mit, und wir alle, alle singen ohne Reim und ohne Noten den großen Sang: Ninon, Nana, Lolotte. Ninette, Marianne, Susanne, Babette, und sind damit noch lange nicht zu Ende, o, lange nicht zu Ende!" Gaston schwätzte ins Blinde und Blaue und sang den großen Sang der Heimat, und der Chorus von rauhen, frischen Stimmen brüllte mit. ohne Reim und ohne Noten, süße Mädchennamen, und war lange nicht zu Ende, o, lange nicht zu Ende! Und eine namenlose Sehnsucht bedrängte Gastons Herz, als der trunkene 'Chorgesang ertönte, den man im Weinbergsfreudenrausch bei der Lese vor einem Jahr gesungen hatte, damals, als Gaston Adieu sagte, das Glück in der Welt zu suchen und die Probe zu bestehen, die ihm Marcellin, der kommende Schwieger¬ vater, auferlegt hatte. Damals saß man im Grünen, die blaue Nacht über sich, bei bunten Lampions, den Wein in funkelnden Gläsern am Tisch. Und in dem Sang der schönen Namen pries man die gottgesegnete, verrucht schöne, alte Heimat, Pries sie laut und sang wie die Jünglinge im Feuerofen, im Weinbergsfeuerofen. Und die lieben Stimmen und Namen liefen ihm nach, das Flüsterstinunengewirr der Bäche, des in die Keltern tropfenden, rinnenden, tickenden Moses, das Blätter- gesäusel des traumhäuptigen. rauschseligen, trostbringenden, grüngoldener Hügel¬ landes, wo der junge Weingott seine Stirne bekränzte und der gelbe Messing- Vogel des Winzerhorns schmetternd in der blauen Luft stand. O Seynsucht! O Heimat!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/131>, abgerufen am 03.07.2024.