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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Schritt für Schritt wurde der spröde und widerspenstige Boden erobert, und
wenn wir schon heute manches als selbstverständlichen Gemeinplatz empfinden,
was im Munde der Stürmer und Dränger wie unerhörte Ketzerei klang, so
danken wir das einer Reihe von tapferen Kulturträgern, die ihre Ideale im
Sinne jenes vielberedeten "praktischen Christentums" zu verwirklichen trachteten.
Keati possiäöntes, sagt der Lateiner. Heute sind, wie gesagt, die Dinge, um
die damals gekämpft wurde, nichts weiter als Selbstverständlichkeiten. Selbst
die großen Hoftheater haben sich vor Ibsen, Hauptmann und Sudermann
geöffnet, und ein Ketzer wie Dr. Paul Schlenther ist länger als ein Jahrzehnt
Direktor der altgeheiligten Wiener Hofburg genesen. Die Bühnenprobleme,
um die es Anno 1890 ging, sind eben keine Probleme mehr. Das Dresdener
Hoftheater, das als erste aller offiziellen Bühnen einen etwas frischeren Luftzug
spüren ließ, das Münchener Schauspielhaus, in dem die moderne Dramatik
eine sichere Helmstädt faud, das Deutsche Schauspielhaus des Barons v. Berger
in Hamburg, das Stuttgarter Hoftheater, das Kölner Stadttheater, das ernst¬
haft aufstrebende Haus der Luise Dumont in Düsseldorf -- und wie sie alle
heißen mögen -- sie haben die Resultate der sogenannten Revolution von 1889
stillschweigend angenommen. Das Gewitter, vor dem ängstliche Gemüter
erschraken, hat nicht nur Bäume geknickt und Häuser abgedeckt, sondern auch
eine wirkliche Reinigung gebracht. Die moderne Schauspielkunst hat sich durch¬
gesetzt und verfügt heute über eine stattliche Reihe genialer Männer- und
Frauengestalten*).





") Die oben geschilderte Bewegung hat natürlich eine kaum zu übersehende Spezicil-
literatur hervorgebracht. Aus der Hochflut der kritischen bezw. Polemischen Glossen zur
jüngstdeutschen Dichtung und zum naturalistischen Theater seien hier ein Paar bekanntere
Namen genannt: Adalbert von Hanstein: "Das jüngste Deutschland". (Berlin 1900.) Adolf Bartels: "Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen".
(Leipzig, F. Avenarius, 1907.)" Paul Schlenther: "Gerhart Hauptmann. (Berlin, S. Fischer. 1897.) Richard M. Meyer: "Deutsche Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert". (Berlin,
G. Bondi. 1899)." Erich Schlaikjer: "Berliner Kämpfe. (München, D. W. Callway,)
" Max Martersteig: "Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert. (Leipzig, Breit¬
kopf u. Härtel. 1904)." Alfred Kerr: "Das neue Drama. (Berlin, S. Fischer. 190S).
" Samuel Lublinski: "Die Bilanz der Modernen. (Berlin, S. Cronbach.)
" Siegfried Jacobsohn: "Das Theater der Neichshonptstadt. (München, Albert
Langen. 1904.)
Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Schritt für Schritt wurde der spröde und widerspenstige Boden erobert, und
wenn wir schon heute manches als selbstverständlichen Gemeinplatz empfinden,
was im Munde der Stürmer und Dränger wie unerhörte Ketzerei klang, so
danken wir das einer Reihe von tapferen Kulturträgern, die ihre Ideale im
Sinne jenes vielberedeten „praktischen Christentums" zu verwirklichen trachteten.
Keati possiäöntes, sagt der Lateiner. Heute sind, wie gesagt, die Dinge, um
die damals gekämpft wurde, nichts weiter als Selbstverständlichkeiten. Selbst
die großen Hoftheater haben sich vor Ibsen, Hauptmann und Sudermann
geöffnet, und ein Ketzer wie Dr. Paul Schlenther ist länger als ein Jahrzehnt
Direktor der altgeheiligten Wiener Hofburg genesen. Die Bühnenprobleme,
um die es Anno 1890 ging, sind eben keine Probleme mehr. Das Dresdener
Hoftheater, das als erste aller offiziellen Bühnen einen etwas frischeren Luftzug
spüren ließ, das Münchener Schauspielhaus, in dem die moderne Dramatik
eine sichere Helmstädt faud, das Deutsche Schauspielhaus des Barons v. Berger
in Hamburg, das Stuttgarter Hoftheater, das Kölner Stadttheater, das ernst¬
haft aufstrebende Haus der Luise Dumont in Düsseldorf — und wie sie alle
heißen mögen — sie haben die Resultate der sogenannten Revolution von 1889
stillschweigend angenommen. Das Gewitter, vor dem ängstliche Gemüter
erschraken, hat nicht nur Bäume geknickt und Häuser abgedeckt, sondern auch
eine wirkliche Reinigung gebracht. Die moderne Schauspielkunst hat sich durch¬
gesetzt und verfügt heute über eine stattliche Reihe genialer Männer- und
Frauengestalten*).





") Die oben geschilderte Bewegung hat natürlich eine kaum zu übersehende Spezicil-
literatur hervorgebracht. Aus der Hochflut der kritischen bezw. Polemischen Glossen zur
jüngstdeutschen Dichtung und zum naturalistischen Theater seien hier ein Paar bekanntere
Namen genannt: Adalbert von Hanstein: „Das jüngste Deutschland". (Berlin 1900.) Adolf Bartels: „Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen".
(Leipzig, F. Avenarius, 1907.)" Paul Schlenther: „Gerhart Hauptmann. (Berlin, S. Fischer. 1897.) Richard M. Meyer: „Deutsche Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert". (Berlin,
G. Bondi. 1899)." Erich Schlaikjer: „Berliner Kämpfe. (München, D. W. Callway,)
" Max Martersteig: „Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert. (Leipzig, Breit¬
kopf u. Härtel. 1904)." Alfred Kerr: „Das neue Drama. (Berlin, S. Fischer. 190S).
" Samuel Lublinski: „Die Bilanz der Modernen. (Berlin, S. Cronbach.)
" Siegfried Jacobsohn: „Das Theater der Neichshonptstadt. (München, Albert
Langen. 1904.)
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[0086] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren Schritt für Schritt wurde der spröde und widerspenstige Boden erobert, und wenn wir schon heute manches als selbstverständlichen Gemeinplatz empfinden, was im Munde der Stürmer und Dränger wie unerhörte Ketzerei klang, so danken wir das einer Reihe von tapferen Kulturträgern, die ihre Ideale im Sinne jenes vielberedeten „praktischen Christentums" zu verwirklichen trachteten. Keati possiäöntes, sagt der Lateiner. Heute sind, wie gesagt, die Dinge, um die damals gekämpft wurde, nichts weiter als Selbstverständlichkeiten. Selbst die großen Hoftheater haben sich vor Ibsen, Hauptmann und Sudermann geöffnet, und ein Ketzer wie Dr. Paul Schlenther ist länger als ein Jahrzehnt Direktor der altgeheiligten Wiener Hofburg genesen. Die Bühnenprobleme, um die es Anno 1890 ging, sind eben keine Probleme mehr. Das Dresdener Hoftheater, das als erste aller offiziellen Bühnen einen etwas frischeren Luftzug spüren ließ, das Münchener Schauspielhaus, in dem die moderne Dramatik eine sichere Helmstädt faud, das Deutsche Schauspielhaus des Barons v. Berger in Hamburg, das Stuttgarter Hoftheater, das Kölner Stadttheater, das ernst¬ haft aufstrebende Haus der Luise Dumont in Düsseldorf — und wie sie alle heißen mögen — sie haben die Resultate der sogenannten Revolution von 1889 stillschweigend angenommen. Das Gewitter, vor dem ängstliche Gemüter erschraken, hat nicht nur Bäume geknickt und Häuser abgedeckt, sondern auch eine wirkliche Reinigung gebracht. Die moderne Schauspielkunst hat sich durch¬ gesetzt und verfügt heute über eine stattliche Reihe genialer Männer- und Frauengestalten*). ") Die oben geschilderte Bewegung hat natürlich eine kaum zu übersehende Spezicil- literatur hervorgebracht. Aus der Hochflut der kritischen bezw. Polemischen Glossen zur jüngstdeutschen Dichtung und zum naturalistischen Theater seien hier ein Paar bekanntere Namen genannt: Adalbert von Hanstein: „Das jüngste Deutschland". (Berlin 1900.) Adolf Bartels: „Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen". (Leipzig, F. Avenarius, 1907.)" Paul Schlenther: „Gerhart Hauptmann. (Berlin, S. Fischer. 1897.) Richard M. Meyer: „Deutsche Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert". (Berlin, G. Bondi. 1899)." Erich Schlaikjer: „Berliner Kämpfe. (München, D. W. Callway,) " Max Martersteig: „Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert. (Leipzig, Breit¬ kopf u. Härtel. 1904)." Alfred Kerr: „Das neue Drama. (Berlin, S. Fischer. 190S). " Samuel Lublinski: „Die Bilanz der Modernen. (Berlin, S. Cronbach.) " Siegfried Jacobsohn: „Das Theater der Neichshonptstadt. (München, Albert Langen. 1904.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/86>, abgerufen am 24.07.2024.