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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

heroischen Tragödie, man nagelte Schiller ans Kreuz und schalt ihn einen
"Moraltrompeter von Sückingen".

Die Wiener Burg und mit ihr die übrigen deutschen Hoftheater haben,
was vorauszusehen war, diesen Ansturm ausgehalten. Als auf den ersten
Begeisterungsrausch eine mit leisem Katerweh gemischte Ernüchterung folgte,
besann man sich auch wieder auf das Drama großen Stils, das denn doch
noch etwas mehr verlangt als die psychologische Analyse der Naturalisten.
Aber davon später. Für den Augenblick war die Wahrheit, daß Wien seine
Führerrolle an Berlin abgegeben hatte, nicht aus der Welt zu schaffen. Die
Jugend hatte das Wort. Und die Jugend erzwang sich von Berlin aus das
erste und lauteste Gehör.

Den bereitwilligsten Widerhall fand sie in München, das sich von jeher
mit aufrichtiger Liebe allem verschreibt, was nur irgend den Pulsschlag eines
kommenden Lebens spüren läßt. Hier erstand der "Moderne" -- das neue
Schlagwort war von dem Wiener Hermann Bahr geprägt worden -- ein
ehrlicher und beredter Fürsprecher in Michael Georg Conrad und später
in Georg Stolberg, der noch heute Direktor des Münchener Schauspielhauses
ist. Hier saß ein Häuflein ernsthaft suchender Künstler, wie eine große Familie
beisammen und brachte den neuen Ideen, die von: Norden herüberklangen, ein
begeisterungsfähiges Herz, aber vielleicht auch ein Körnchen ganz verstohlener
Skepsis entgegen. Hier bäumte man sich, schon aus partikularistischem Ehrgeiz,
ein klein wenig gegen die Selbstverständlichkeit der Berliner Gewaltherrschaft, um
dann schließlich doch seine besten Anregungen und seine wertvollsten künstlerischen
Erwerbungen in eben diesem Despotismus zu finden.

Im übrigen blieb es vorderhand in den deutschen Hauptstädten noch
auffallend ruhig. In Leipzig stellte Dr. Karl Heine ein eigenes Ibsen-
Ensemble zusammen und gab in großen Provinzstädten eine Reihe von Gast-
pi ^ " die dem neuen Evangelium im stillen zahlreiche Freunde warben.
Das "Zur Diskussion-Stellen" der neuen Probleme war natürlich der erste
Schritt, auf den um so mehr alles ankam, als sich die offiziellen Theater¬
direktionen gegen das, was sie an: Naturalismus ungeheuerlich, staatsaufwühlend
und schmutzig fanden, mit Händen und Füßen wehrten und auf keinen Fall
teilhaben wollten an der großen Verderbnis der Zeiten. Ein weiteres Hindernis
war die angeborene Denkfaulheit und die Gleichgültigkeit des deutschen
Philistertums, das allen Neuerungen, sowie sie anarchistischer Umtriebe verdächtig
waren, mit Entschiedenheit in den Weg trat.

Alle diese Hindernisse galt es nun nach und nach zu nehmen. Es kam
dabei weniger auf schneidige Husarenangriffe, als vielmehr auf zähe und stetige
Einzelarbeit an. Vor allen Dingen galt es, Vorurteile zu zerstören,
Intelligenzen heranzubilden und den Sinn für soziale und kulturelle Zusammen¬
hänge zu wecken. Diese Arbeit, die schon rein als Leistung höchst beachtenswert
bleibt, ist denn auch in dem Dezennium 1890 bis 1900 besorgt worden.


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

heroischen Tragödie, man nagelte Schiller ans Kreuz und schalt ihn einen
„Moraltrompeter von Sückingen".

Die Wiener Burg und mit ihr die übrigen deutschen Hoftheater haben,
was vorauszusehen war, diesen Ansturm ausgehalten. Als auf den ersten
Begeisterungsrausch eine mit leisem Katerweh gemischte Ernüchterung folgte,
besann man sich auch wieder auf das Drama großen Stils, das denn doch
noch etwas mehr verlangt als die psychologische Analyse der Naturalisten.
Aber davon später. Für den Augenblick war die Wahrheit, daß Wien seine
Führerrolle an Berlin abgegeben hatte, nicht aus der Welt zu schaffen. Die
Jugend hatte das Wort. Und die Jugend erzwang sich von Berlin aus das
erste und lauteste Gehör.

Den bereitwilligsten Widerhall fand sie in München, das sich von jeher
mit aufrichtiger Liebe allem verschreibt, was nur irgend den Pulsschlag eines
kommenden Lebens spüren läßt. Hier erstand der „Moderne" — das neue
Schlagwort war von dem Wiener Hermann Bahr geprägt worden — ein
ehrlicher und beredter Fürsprecher in Michael Georg Conrad und später
in Georg Stolberg, der noch heute Direktor des Münchener Schauspielhauses
ist. Hier saß ein Häuflein ernsthaft suchender Künstler, wie eine große Familie
beisammen und brachte den neuen Ideen, die von: Norden herüberklangen, ein
begeisterungsfähiges Herz, aber vielleicht auch ein Körnchen ganz verstohlener
Skepsis entgegen. Hier bäumte man sich, schon aus partikularistischem Ehrgeiz,
ein klein wenig gegen die Selbstverständlichkeit der Berliner Gewaltherrschaft, um
dann schließlich doch seine besten Anregungen und seine wertvollsten künstlerischen
Erwerbungen in eben diesem Despotismus zu finden.

Im übrigen blieb es vorderhand in den deutschen Hauptstädten noch
auffallend ruhig. In Leipzig stellte Dr. Karl Heine ein eigenes Ibsen-
Ensemble zusammen und gab in großen Provinzstädten eine Reihe von Gast-
pi ^ " die dem neuen Evangelium im stillen zahlreiche Freunde warben.
Das „Zur Diskussion-Stellen" der neuen Probleme war natürlich der erste
Schritt, auf den um so mehr alles ankam, als sich die offiziellen Theater¬
direktionen gegen das, was sie an: Naturalismus ungeheuerlich, staatsaufwühlend
und schmutzig fanden, mit Händen und Füßen wehrten und auf keinen Fall
teilhaben wollten an der großen Verderbnis der Zeiten. Ein weiteres Hindernis
war die angeborene Denkfaulheit und die Gleichgültigkeit des deutschen
Philistertums, das allen Neuerungen, sowie sie anarchistischer Umtriebe verdächtig
waren, mit Entschiedenheit in den Weg trat.

Alle diese Hindernisse galt es nun nach und nach zu nehmen. Es kam
dabei weniger auf schneidige Husarenangriffe, als vielmehr auf zähe und stetige
Einzelarbeit an. Vor allen Dingen galt es, Vorurteile zu zerstören,
Intelligenzen heranzubilden und den Sinn für soziale und kulturelle Zusammen¬
hänge zu wecken. Diese Arbeit, die schon rein als Leistung höchst beachtenswert
bleibt, ist denn auch in dem Dezennium 1890 bis 1900 besorgt worden.


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[0085] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren heroischen Tragödie, man nagelte Schiller ans Kreuz und schalt ihn einen „Moraltrompeter von Sückingen". Die Wiener Burg und mit ihr die übrigen deutschen Hoftheater haben, was vorauszusehen war, diesen Ansturm ausgehalten. Als auf den ersten Begeisterungsrausch eine mit leisem Katerweh gemischte Ernüchterung folgte, besann man sich auch wieder auf das Drama großen Stils, das denn doch noch etwas mehr verlangt als die psychologische Analyse der Naturalisten. Aber davon später. Für den Augenblick war die Wahrheit, daß Wien seine Führerrolle an Berlin abgegeben hatte, nicht aus der Welt zu schaffen. Die Jugend hatte das Wort. Und die Jugend erzwang sich von Berlin aus das erste und lauteste Gehör. Den bereitwilligsten Widerhall fand sie in München, das sich von jeher mit aufrichtiger Liebe allem verschreibt, was nur irgend den Pulsschlag eines kommenden Lebens spüren läßt. Hier erstand der „Moderne" — das neue Schlagwort war von dem Wiener Hermann Bahr geprägt worden — ein ehrlicher und beredter Fürsprecher in Michael Georg Conrad und später in Georg Stolberg, der noch heute Direktor des Münchener Schauspielhauses ist. Hier saß ein Häuflein ernsthaft suchender Künstler, wie eine große Familie beisammen und brachte den neuen Ideen, die von: Norden herüberklangen, ein begeisterungsfähiges Herz, aber vielleicht auch ein Körnchen ganz verstohlener Skepsis entgegen. Hier bäumte man sich, schon aus partikularistischem Ehrgeiz, ein klein wenig gegen die Selbstverständlichkeit der Berliner Gewaltherrschaft, um dann schließlich doch seine besten Anregungen und seine wertvollsten künstlerischen Erwerbungen in eben diesem Despotismus zu finden. Im übrigen blieb es vorderhand in den deutschen Hauptstädten noch auffallend ruhig. In Leipzig stellte Dr. Karl Heine ein eigenes Ibsen- Ensemble zusammen und gab in großen Provinzstädten eine Reihe von Gast- pi ^ " die dem neuen Evangelium im stillen zahlreiche Freunde warben. Das „Zur Diskussion-Stellen" der neuen Probleme war natürlich der erste Schritt, auf den um so mehr alles ankam, als sich die offiziellen Theater¬ direktionen gegen das, was sie an: Naturalismus ungeheuerlich, staatsaufwühlend und schmutzig fanden, mit Händen und Füßen wehrten und auf keinen Fall teilhaben wollten an der großen Verderbnis der Zeiten. Ein weiteres Hindernis war die angeborene Denkfaulheit und die Gleichgültigkeit des deutschen Philistertums, das allen Neuerungen, sowie sie anarchistischer Umtriebe verdächtig waren, mit Entschiedenheit in den Weg trat. Alle diese Hindernisse galt es nun nach und nach zu nehmen. Es kam dabei weniger auf schneidige Husarenangriffe, als vielmehr auf zähe und stetige Einzelarbeit an. Vor allen Dingen galt es, Vorurteile zu zerstören, Intelligenzen heranzubilden und den Sinn für soziale und kulturelle Zusammen¬ hänge zu wecken. Diese Arbeit, die schon rein als Leistung höchst beachtenswert bleibt, ist denn auch in dem Dezennium 1890 bis 1900 besorgt worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/85>, abgerufen am 24.07.2024.