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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühiienknnst in den letzten zwanzig Jahren

Irene Triesch, einer Gertrud Ensoldt -- sie würden alle Verkehrtheiten und Übergriffe
einer ästhetischen Revolution hundertfach rechtfertigen, wenn diese Revolution in
den Augen ernsthafter Menschen eine Rechtfertigung überhaupt nötig Hütte. Wo
viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Aber wer deshalb dem Lichte die
Existenzberechtigung abstreiten wollte, wäre ein Narr oder etwas noch Schlimmeres.
"Natürlich," sagt Otto Brechen, der intellektuelle Führer der Freien Bühne,
"wenn die Erde bebt, stürzen die Verbrecher auf die Straße; und so brachte
denn die künstlerische Erschütterung von 1889 auch manchen ästhetischen Ver¬
brecher zu kurzer Geltung, unter den Dichtenden wie unter den Darstellenden.
Uns dafür verantwortlich machen heißt ähnliches tun, wie etwa Goethe deu
ivilden Schwarm der Nitterdramen aufbürden oder dem Dichter der .Räuber'
den .Abällino' Zschokkes zur Last setzen, jenen großen Banditen."

Die Geschichte hat den Kämpfern jener stürmischen Jahre recht gegeben.
Das ist und bleibt das Entscheidende. Die wirklichen Werte, welche die
deutsche Bühne heute zu vergeben hat, stammen im wesentlichen von den
Schülern des sogenannten Naturalismus. Natürlich ist das, was in dem Sturm
und Drang der Freien Bühne zum Leben erweckt wurde, allmählich in ruhigere
Bahnen gelenkt worden. Man ist bescheidener geworden, hat manche totgeglaubte
Form wieder akzeptiert und sieht gewisse Grenzen, die man früher nicht sah.
Aber man ducht mit stillem Triumphgefühl als die wesentlichsten Posten auf
der Kreditseite des modernen deutschen Theaters -- neben anderen, mehr oder
weniger wichtigen Nachzüglern -- die Namen Henrik Ibsen und Gerhart
Hauptmann, die heute nicht mehr umstrittene Kampfobjekte, sondern teure
lind unersetzbare Besitztümer sind.

Von der Wirksamkeit der Freien Bühne und des späteren, von Brahm
übernommenen Deutschen Theaters her datiert denn auch die heute anerkannte
Hegemonie Berlins in theatralischen Dingen. Die neue Bewegung war in
Berlin geboren worden und ging von dort aus. Ihre erklärten Sprecher
waren Berliner Literaten, die zum Teil aus der Scherer-Schule, zum größeren
Teile aber aus dem unmittelbaren Leben kamen. In Berlin war es, wo
Ibsen und Hauptmann, Halbe, Sudermann und Hirschfeld durchgesetzt wurden,
wo alles zusammenfloß, was irgendwie teilhaben wollte an der neuen Morgen¬
röte deutscher .Kunst und Kultur. Berlin war die erste und einzige Instanz.
Was hier entschieden wurde, schien ein für allemal anfechtbar.

Der Ruhm des alten Burgtheaters an der Donau mußte daneben ver¬
blassen. Die brennenden Fragen der Gegenwart, die plötzlich vor den Augen
der ganzen Welt auf der Bühne verhandelt wurden, schienen den Leuten
wichtiger als die stilisierte Feierlichkeit des klassischen Theaters, das fünfzig
Jahre vorher schon genau so stilisiert und genau so feierlich gewesen war.
Die verblüffende Unerschrockenheit und das jubelnde Selbstbewußtsein der über
Nacht geborenen Kraftgenies riß auch nachdenkliche in den allgemeinen Enthusiasmus
hinein. Man spottete über die akademische Starrheit und das Stelzengehen der


Deutsche Bühiienknnst in den letzten zwanzig Jahren

Irene Triesch, einer Gertrud Ensoldt — sie würden alle Verkehrtheiten und Übergriffe
einer ästhetischen Revolution hundertfach rechtfertigen, wenn diese Revolution in
den Augen ernsthafter Menschen eine Rechtfertigung überhaupt nötig Hütte. Wo
viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Aber wer deshalb dem Lichte die
Existenzberechtigung abstreiten wollte, wäre ein Narr oder etwas noch Schlimmeres.
„Natürlich," sagt Otto Brechen, der intellektuelle Führer der Freien Bühne,
„wenn die Erde bebt, stürzen die Verbrecher auf die Straße; und so brachte
denn die künstlerische Erschütterung von 1889 auch manchen ästhetischen Ver¬
brecher zu kurzer Geltung, unter den Dichtenden wie unter den Darstellenden.
Uns dafür verantwortlich machen heißt ähnliches tun, wie etwa Goethe deu
ivilden Schwarm der Nitterdramen aufbürden oder dem Dichter der .Räuber'
den .Abällino' Zschokkes zur Last setzen, jenen großen Banditen."

Die Geschichte hat den Kämpfern jener stürmischen Jahre recht gegeben.
Das ist und bleibt das Entscheidende. Die wirklichen Werte, welche die
deutsche Bühne heute zu vergeben hat, stammen im wesentlichen von den
Schülern des sogenannten Naturalismus. Natürlich ist das, was in dem Sturm
und Drang der Freien Bühne zum Leben erweckt wurde, allmählich in ruhigere
Bahnen gelenkt worden. Man ist bescheidener geworden, hat manche totgeglaubte
Form wieder akzeptiert und sieht gewisse Grenzen, die man früher nicht sah.
Aber man ducht mit stillem Triumphgefühl als die wesentlichsten Posten auf
der Kreditseite des modernen deutschen Theaters — neben anderen, mehr oder
weniger wichtigen Nachzüglern — die Namen Henrik Ibsen und Gerhart
Hauptmann, die heute nicht mehr umstrittene Kampfobjekte, sondern teure
lind unersetzbare Besitztümer sind.

Von der Wirksamkeit der Freien Bühne und des späteren, von Brahm
übernommenen Deutschen Theaters her datiert denn auch die heute anerkannte
Hegemonie Berlins in theatralischen Dingen. Die neue Bewegung war in
Berlin geboren worden und ging von dort aus. Ihre erklärten Sprecher
waren Berliner Literaten, die zum Teil aus der Scherer-Schule, zum größeren
Teile aber aus dem unmittelbaren Leben kamen. In Berlin war es, wo
Ibsen und Hauptmann, Halbe, Sudermann und Hirschfeld durchgesetzt wurden,
wo alles zusammenfloß, was irgendwie teilhaben wollte an der neuen Morgen¬
röte deutscher .Kunst und Kultur. Berlin war die erste und einzige Instanz.
Was hier entschieden wurde, schien ein für allemal anfechtbar.

Der Ruhm des alten Burgtheaters an der Donau mußte daneben ver¬
blassen. Die brennenden Fragen der Gegenwart, die plötzlich vor den Augen
der ganzen Welt auf der Bühne verhandelt wurden, schienen den Leuten
wichtiger als die stilisierte Feierlichkeit des klassischen Theaters, das fünfzig
Jahre vorher schon genau so stilisiert und genau so feierlich gewesen war.
Die verblüffende Unerschrockenheit und das jubelnde Selbstbewußtsein der über
Nacht geborenen Kraftgenies riß auch nachdenkliche in den allgemeinen Enthusiasmus
hinein. Man spottete über die akademische Starrheit und das Stelzengehen der


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[0084] Deutsche Bühiienknnst in den letzten zwanzig Jahren Irene Triesch, einer Gertrud Ensoldt — sie würden alle Verkehrtheiten und Übergriffe einer ästhetischen Revolution hundertfach rechtfertigen, wenn diese Revolution in den Augen ernsthafter Menschen eine Rechtfertigung überhaupt nötig Hütte. Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Aber wer deshalb dem Lichte die Existenzberechtigung abstreiten wollte, wäre ein Narr oder etwas noch Schlimmeres. „Natürlich," sagt Otto Brechen, der intellektuelle Führer der Freien Bühne, „wenn die Erde bebt, stürzen die Verbrecher auf die Straße; und so brachte denn die künstlerische Erschütterung von 1889 auch manchen ästhetischen Ver¬ brecher zu kurzer Geltung, unter den Dichtenden wie unter den Darstellenden. Uns dafür verantwortlich machen heißt ähnliches tun, wie etwa Goethe deu ivilden Schwarm der Nitterdramen aufbürden oder dem Dichter der .Räuber' den .Abällino' Zschokkes zur Last setzen, jenen großen Banditen." Die Geschichte hat den Kämpfern jener stürmischen Jahre recht gegeben. Das ist und bleibt das Entscheidende. Die wirklichen Werte, welche die deutsche Bühne heute zu vergeben hat, stammen im wesentlichen von den Schülern des sogenannten Naturalismus. Natürlich ist das, was in dem Sturm und Drang der Freien Bühne zum Leben erweckt wurde, allmählich in ruhigere Bahnen gelenkt worden. Man ist bescheidener geworden, hat manche totgeglaubte Form wieder akzeptiert und sieht gewisse Grenzen, die man früher nicht sah. Aber man ducht mit stillem Triumphgefühl als die wesentlichsten Posten auf der Kreditseite des modernen deutschen Theaters — neben anderen, mehr oder weniger wichtigen Nachzüglern — die Namen Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann, die heute nicht mehr umstrittene Kampfobjekte, sondern teure lind unersetzbare Besitztümer sind. Von der Wirksamkeit der Freien Bühne und des späteren, von Brahm übernommenen Deutschen Theaters her datiert denn auch die heute anerkannte Hegemonie Berlins in theatralischen Dingen. Die neue Bewegung war in Berlin geboren worden und ging von dort aus. Ihre erklärten Sprecher waren Berliner Literaten, die zum Teil aus der Scherer-Schule, zum größeren Teile aber aus dem unmittelbaren Leben kamen. In Berlin war es, wo Ibsen und Hauptmann, Halbe, Sudermann und Hirschfeld durchgesetzt wurden, wo alles zusammenfloß, was irgendwie teilhaben wollte an der neuen Morgen¬ röte deutscher .Kunst und Kultur. Berlin war die erste und einzige Instanz. Was hier entschieden wurde, schien ein für allemal anfechtbar. Der Ruhm des alten Burgtheaters an der Donau mußte daneben ver¬ blassen. Die brennenden Fragen der Gegenwart, die plötzlich vor den Augen der ganzen Welt auf der Bühne verhandelt wurden, schienen den Leuten wichtiger als die stilisierte Feierlichkeit des klassischen Theaters, das fünfzig Jahre vorher schon genau so stilisiert und genau so feierlich gewesen war. Die verblüffende Unerschrockenheit und das jubelnde Selbstbewußtsein der über Nacht geborenen Kraftgenies riß auch nachdenkliche in den allgemeinen Enthusiasmus hinein. Man spottete über die akademische Starrheit und das Stelzengehen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/84>, abgerufen am 24.07.2024.