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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den legten zwanzig Jahren

nennen. Modern ist er in dem Sinne, als er von einschneidender Bedeutung
für die gesamte deutsche Bühnenkunst seit 1890 wurde, modern in dem Sinne,
als er mit der Entwicklung des jüngstdeutschen Dramas auf das allerinnigstc
verwachsen ist. Und modern ist er auch deshalb, weil wir in ihm auch heute
noch die wirklichen schauspielerischen Werte unserer Zeit verkörpert sehen.

Man hat den Schauspieler Emanuel Reicher, der heute zum Verband des
Berliner Lessingtheaters gehört und der in der oben genannten "Gespenster-
Aufführung der Freien Bühne den Pastor Manders spielte, den Vater des
deutschen Naturalismus genannt. Der Kulissenwitz hat daraus eine hübsche
und charakteristische Anekdote gemacht. Emanuel Reicher, sagen die freundlichen
Kollegen, hat den Naturalismus dadurch entdeckt, daß er den Text seiner Rolle
niemals beherrschte und nun notwendig auf stockend herausgebrachte Impro¬
visationen, auf Gesprächspausen, die durch Räuspern und Husten ausgefüllt
wurden, mit anderen Worten auf das, was man im Theaterjargon "Schwimmen"
nennt, angewiesen war. Das mag in der anekdotenhaften Pointierung arg
übertrieben klingen. Aber es kennzeichnet die Situation besser als langatmige
ästhetische Auseinandersetzungen. Den jungen Schauspielern kam es vor allen
Dingen auf ungeschminkte Natürlichkeit, d. h. auf eine möglichst augenfällige
Annäherung an die Alltagssprache des Lebens an. Sie verfochten ihre Prinzipien
mit einer Zähigkeit, die bis an Philiströsität grenzte. Sie benahmen sich grund¬
sätzlich salopp und gewöhnlich, steckten die Hände in die Hosentaschen, drehten
dem Zuschauer den Rücken zu und verschluckten mit Vorliebe halbe oder auch
ganze Sätze, um nur ja nicht in den Verdacht einer veralteten Kunstauffassung
zu kommen. Das führte naturgemäß hier und da zu unerlaubten Auswüchsen.
Aber wer sich bei der Kritik einer neuen Bewegung an die schlechten Angewohn¬
heiten einiger ihrer ersten und unreifsten Mitläufer klammert, wie es z. B. Paul
Goldmann in seinem galligen, ungerechten und dabei äußerst oberflächlichen
Buche "Literatenstücke und Ausstattungsregie" (im Verlage von Rütten u. Löning.
Frankfurt a. M.) tut, der verkennt die Situation und verrät durch seine Ahnungs-
losigkeit, daß er zu den tiefsten künstlerischen Fragen der Zeit keine inneren
Beziehungen hat. Die Bedeutung der modernen Schauspielkunst liegt in ihrer
unerbittlichen Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, in ihrem innigen Verwachsensein
mit dem Leben und mit der Scholle, in ihrer tausendfältigen Farbenmischung und
Belebung des gesprochenen Wortes und der darstellerischen Geste. Daß diese
Art Schauspielkunst, wenn sie auch weniger schmachtlockige Tenoristen als denkende
und unverbildete Menschen verlangt, sehr wohl eine architektonische Gliederung
und eine künstlerische Gestaltung im Sinne einer schulgemäßen Ästhetik gestattet,
ist durch ihre wirklich berufenen Vertreter hundertfach bewiesen worden. Künstler
von der wundervollen Erdhaftigkeit eines Rudolf Rittner, einer Elfe Lehmann,
einer Rosa Bertens, einer Hedwig Mangel, Menschenschöpfer von der verstehenden
Güte eines Oskar Sauer, eines Emanuel Reicher, einer Agnes Sorna, Bildner
von der Subtilität und Differenziertheit eines Albert Bassermann, einer


Deutsche Bühnenkunst in den legten zwanzig Jahren

nennen. Modern ist er in dem Sinne, als er von einschneidender Bedeutung
für die gesamte deutsche Bühnenkunst seit 1890 wurde, modern in dem Sinne,
als er mit der Entwicklung des jüngstdeutschen Dramas auf das allerinnigstc
verwachsen ist. Und modern ist er auch deshalb, weil wir in ihm auch heute
noch die wirklichen schauspielerischen Werte unserer Zeit verkörpert sehen.

Man hat den Schauspieler Emanuel Reicher, der heute zum Verband des
Berliner Lessingtheaters gehört und der in der oben genannten „Gespenster-
Aufführung der Freien Bühne den Pastor Manders spielte, den Vater des
deutschen Naturalismus genannt. Der Kulissenwitz hat daraus eine hübsche
und charakteristische Anekdote gemacht. Emanuel Reicher, sagen die freundlichen
Kollegen, hat den Naturalismus dadurch entdeckt, daß er den Text seiner Rolle
niemals beherrschte und nun notwendig auf stockend herausgebrachte Impro¬
visationen, auf Gesprächspausen, die durch Räuspern und Husten ausgefüllt
wurden, mit anderen Worten auf das, was man im Theaterjargon „Schwimmen"
nennt, angewiesen war. Das mag in der anekdotenhaften Pointierung arg
übertrieben klingen. Aber es kennzeichnet die Situation besser als langatmige
ästhetische Auseinandersetzungen. Den jungen Schauspielern kam es vor allen
Dingen auf ungeschminkte Natürlichkeit, d. h. auf eine möglichst augenfällige
Annäherung an die Alltagssprache des Lebens an. Sie verfochten ihre Prinzipien
mit einer Zähigkeit, die bis an Philiströsität grenzte. Sie benahmen sich grund¬
sätzlich salopp und gewöhnlich, steckten die Hände in die Hosentaschen, drehten
dem Zuschauer den Rücken zu und verschluckten mit Vorliebe halbe oder auch
ganze Sätze, um nur ja nicht in den Verdacht einer veralteten Kunstauffassung
zu kommen. Das führte naturgemäß hier und da zu unerlaubten Auswüchsen.
Aber wer sich bei der Kritik einer neuen Bewegung an die schlechten Angewohn¬
heiten einiger ihrer ersten und unreifsten Mitläufer klammert, wie es z. B. Paul
Goldmann in seinem galligen, ungerechten und dabei äußerst oberflächlichen
Buche „Literatenstücke und Ausstattungsregie" (im Verlage von Rütten u. Löning.
Frankfurt a. M.) tut, der verkennt die Situation und verrät durch seine Ahnungs-
losigkeit, daß er zu den tiefsten künstlerischen Fragen der Zeit keine inneren
Beziehungen hat. Die Bedeutung der modernen Schauspielkunst liegt in ihrer
unerbittlichen Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, in ihrem innigen Verwachsensein
mit dem Leben und mit der Scholle, in ihrer tausendfältigen Farbenmischung und
Belebung des gesprochenen Wortes und der darstellerischen Geste. Daß diese
Art Schauspielkunst, wenn sie auch weniger schmachtlockige Tenoristen als denkende
und unverbildete Menschen verlangt, sehr wohl eine architektonische Gliederung
und eine künstlerische Gestaltung im Sinne einer schulgemäßen Ästhetik gestattet,
ist durch ihre wirklich berufenen Vertreter hundertfach bewiesen worden. Künstler
von der wundervollen Erdhaftigkeit eines Rudolf Rittner, einer Elfe Lehmann,
einer Rosa Bertens, einer Hedwig Mangel, Menschenschöpfer von der verstehenden
Güte eines Oskar Sauer, eines Emanuel Reicher, einer Agnes Sorna, Bildner
von der Subtilität und Differenziertheit eines Albert Bassermann, einer


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[0083] Deutsche Bühnenkunst in den legten zwanzig Jahren nennen. Modern ist er in dem Sinne, als er von einschneidender Bedeutung für die gesamte deutsche Bühnenkunst seit 1890 wurde, modern in dem Sinne, als er mit der Entwicklung des jüngstdeutschen Dramas auf das allerinnigstc verwachsen ist. Und modern ist er auch deshalb, weil wir in ihm auch heute noch die wirklichen schauspielerischen Werte unserer Zeit verkörpert sehen. Man hat den Schauspieler Emanuel Reicher, der heute zum Verband des Berliner Lessingtheaters gehört und der in der oben genannten „Gespenster- Aufführung der Freien Bühne den Pastor Manders spielte, den Vater des deutschen Naturalismus genannt. Der Kulissenwitz hat daraus eine hübsche und charakteristische Anekdote gemacht. Emanuel Reicher, sagen die freundlichen Kollegen, hat den Naturalismus dadurch entdeckt, daß er den Text seiner Rolle niemals beherrschte und nun notwendig auf stockend herausgebrachte Impro¬ visationen, auf Gesprächspausen, die durch Räuspern und Husten ausgefüllt wurden, mit anderen Worten auf das, was man im Theaterjargon „Schwimmen" nennt, angewiesen war. Das mag in der anekdotenhaften Pointierung arg übertrieben klingen. Aber es kennzeichnet die Situation besser als langatmige ästhetische Auseinandersetzungen. Den jungen Schauspielern kam es vor allen Dingen auf ungeschminkte Natürlichkeit, d. h. auf eine möglichst augenfällige Annäherung an die Alltagssprache des Lebens an. Sie verfochten ihre Prinzipien mit einer Zähigkeit, die bis an Philiströsität grenzte. Sie benahmen sich grund¬ sätzlich salopp und gewöhnlich, steckten die Hände in die Hosentaschen, drehten dem Zuschauer den Rücken zu und verschluckten mit Vorliebe halbe oder auch ganze Sätze, um nur ja nicht in den Verdacht einer veralteten Kunstauffassung zu kommen. Das führte naturgemäß hier und da zu unerlaubten Auswüchsen. Aber wer sich bei der Kritik einer neuen Bewegung an die schlechten Angewohn¬ heiten einiger ihrer ersten und unreifsten Mitläufer klammert, wie es z. B. Paul Goldmann in seinem galligen, ungerechten und dabei äußerst oberflächlichen Buche „Literatenstücke und Ausstattungsregie" (im Verlage von Rütten u. Löning. Frankfurt a. M.) tut, der verkennt die Situation und verrät durch seine Ahnungs- losigkeit, daß er zu den tiefsten künstlerischen Fragen der Zeit keine inneren Beziehungen hat. Die Bedeutung der modernen Schauspielkunst liegt in ihrer unerbittlichen Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, in ihrem innigen Verwachsensein mit dem Leben und mit der Scholle, in ihrer tausendfältigen Farbenmischung und Belebung des gesprochenen Wortes und der darstellerischen Geste. Daß diese Art Schauspielkunst, wenn sie auch weniger schmachtlockige Tenoristen als denkende und unverbildete Menschen verlangt, sehr wohl eine architektonische Gliederung und eine künstlerische Gestaltung im Sinne einer schulgemäßen Ästhetik gestattet, ist durch ihre wirklich berufenen Vertreter hundertfach bewiesen worden. Künstler von der wundervollen Erdhaftigkeit eines Rudolf Rittner, einer Elfe Lehmann, einer Rosa Bertens, einer Hedwig Mangel, Menschenschöpfer von der verstehenden Güte eines Oskar Sauer, eines Emanuel Reicher, einer Agnes Sorna, Bildner von der Subtilität und Differenziertheit eines Albert Bassermann, einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/83>, abgerufen am 24.07.2024.