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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegcl

Kulturkampf! Das Wort hat einen bösen Beigeschmack. Es erinnert
uns nicht nur an eine schwere Niederlage, es weist uns auch auf eine Schwäche
hin, die die deutsche Nation seit der Reformationszeit in sich trägt; es weist
uns auf den tiefen Riß, der seit vier Jahrhunderten schier unüberbrückbar
mitten durch das deutsche Volk hindurch geht. "Die nationale Einheit", so
schreibt Max Lenz, der Berliner Historiker, "ist nicht fertig, solange unsere Gottesver-
ehrung noch nicht auf gemeinsamen: Boden ruht. Der Wille zur Macht selbst,
der unser Reich schuf, würde erlahmen, der Lebensmut, der Glaube an das
Vaterland müßte versiegen, wenn nicht in dem Innersten, in dem Adyton
gleichsam unseres nationalen Bewußtseins dieselben Heiligtümer, die gleichen
Gottesgedanken ihren Platz funden. Es liegt also eine zugleich politische und
sittliche Notwendigkeit vor uns, jene Lebensmächte zu suchen, welche der
Nationalität den eigentlichen Inhalt geben. Wie aber dahin gelangen?"
(Kleine historische Schriften, Verlag von N. Oldenbourg, München und Berlin
1910, S. 255.) Jawohl, wie dahin gelangen? durch die Mittel des Kultur¬
kampfes? Lenz nennt uns einen besseren Weg: "Nur wenn wir auf den
Boden zurückkehren, auf dem die Ideale unserer klassischen Periode erwuchsen,
dürfen wir hoffen, den festen Grund zu finden, auf dem ein von gemeinsamen
Ewigkeitsgedanken bewegtes Nationalbewußtsein sich bilden kann. Und nur in
solchen Formen kann es geschehen, welche die alten Grenzlinien, die der
politische Parteigeist unseres Jahrhunderts fast künstlich neu gegraben hat.
abermals auslöschen und überschreiten werden . . ." (S. 260). Lenz weist auf
die Romantiker Schleiermacher und Novalis, Tieck und beide Schlegel, Adam
Müller und Gentz hin, als auf die Geister, die den deutschen Einheits¬
gedanken bis zu seinen letzten Folgerungen durchdacht haben. "Die katholischen
Kreise waren ... die nachfolgenden und empfangenden. Erst in der zweiten
Generation, als der politische Kampf den zarten Schmelz der Romantik ab¬
streifte und zerstörte und hinter ihrem weichen Antlitz die harten Züge des
Ultramontanismus hervortraten, stellten sich unter Joseph Görres Söhne der
katholischen Kirche an die Spitze. Und nun begann die allseitige Ver¬
steifung ... aller Organe und Dogmen, die in Trient geschaffen oder neu gebildet
waren. Das aber geschah in engster Verbindung mit dem Kampf der politischen
Parteien, den der Werdegang des nationalen Staates hervorrief" (S. 259).

Vergleichen wir die letzten zwanzig Jahre unserer geistigen Entwicklung und
der Zeit, zu der Lenz uns hinführt, dann werden wir auch Analogien erkennen,
die vielleicht geeignet sind, uns den richtigen Weg leichter finden zu lassen.
Auch unsere Tage kennen ein Wiederaufleben der Romantik, und wie damals sind
Männer aus beiden kirchlichen Lagern bemüht, die Brücke zu schlagen. Doch
wie damals Görres und seine Freunde den guten Keim erstickten, so steht heute die
konfessionelle Partei des Zentrums dem Ausgleich hindernd entgegen. Me sich
die Ideen jener Kreise seinerzeit der geistigen Oberschicht der deutschen Katholcke"
bemächtigt hatten, so hat das Zentrum es neuerdings verstanden. Einfluß auf


Grenzkoten I 1911
Reichsspiegcl

Kulturkampf! Das Wort hat einen bösen Beigeschmack. Es erinnert
uns nicht nur an eine schwere Niederlage, es weist uns auch auf eine Schwäche
hin, die die deutsche Nation seit der Reformationszeit in sich trägt; es weist
uns auf den tiefen Riß, der seit vier Jahrhunderten schier unüberbrückbar
mitten durch das deutsche Volk hindurch geht. „Die nationale Einheit", so
schreibt Max Lenz, der Berliner Historiker, „ist nicht fertig, solange unsere Gottesver-
ehrung noch nicht auf gemeinsamen: Boden ruht. Der Wille zur Macht selbst,
der unser Reich schuf, würde erlahmen, der Lebensmut, der Glaube an das
Vaterland müßte versiegen, wenn nicht in dem Innersten, in dem Adyton
gleichsam unseres nationalen Bewußtseins dieselben Heiligtümer, die gleichen
Gottesgedanken ihren Platz funden. Es liegt also eine zugleich politische und
sittliche Notwendigkeit vor uns, jene Lebensmächte zu suchen, welche der
Nationalität den eigentlichen Inhalt geben. Wie aber dahin gelangen?"
(Kleine historische Schriften, Verlag von N. Oldenbourg, München und Berlin
1910, S. 255.) Jawohl, wie dahin gelangen? durch die Mittel des Kultur¬
kampfes? Lenz nennt uns einen besseren Weg: „Nur wenn wir auf den
Boden zurückkehren, auf dem die Ideale unserer klassischen Periode erwuchsen,
dürfen wir hoffen, den festen Grund zu finden, auf dem ein von gemeinsamen
Ewigkeitsgedanken bewegtes Nationalbewußtsein sich bilden kann. Und nur in
solchen Formen kann es geschehen, welche die alten Grenzlinien, die der
politische Parteigeist unseres Jahrhunderts fast künstlich neu gegraben hat.
abermals auslöschen und überschreiten werden . . ." (S. 260). Lenz weist auf
die Romantiker Schleiermacher und Novalis, Tieck und beide Schlegel, Adam
Müller und Gentz hin, als auf die Geister, die den deutschen Einheits¬
gedanken bis zu seinen letzten Folgerungen durchdacht haben. „Die katholischen
Kreise waren ... die nachfolgenden und empfangenden. Erst in der zweiten
Generation, als der politische Kampf den zarten Schmelz der Romantik ab¬
streifte und zerstörte und hinter ihrem weichen Antlitz die harten Züge des
Ultramontanismus hervortraten, stellten sich unter Joseph Görres Söhne der
katholischen Kirche an die Spitze. Und nun begann die allseitige Ver¬
steifung ... aller Organe und Dogmen, die in Trient geschaffen oder neu gebildet
waren. Das aber geschah in engster Verbindung mit dem Kampf der politischen
Parteien, den der Werdegang des nationalen Staates hervorrief" (S. 259).

Vergleichen wir die letzten zwanzig Jahre unserer geistigen Entwicklung und
der Zeit, zu der Lenz uns hinführt, dann werden wir auch Analogien erkennen,
die vielleicht geeignet sind, uns den richtigen Weg leichter finden zu lassen.
Auch unsere Tage kennen ein Wiederaufleben der Romantik, und wie damals sind
Männer aus beiden kirchlichen Lagern bemüht, die Brücke zu schlagen. Doch
wie damals Görres und seine Freunde den guten Keim erstickten, so steht heute die
konfessionelle Partei des Zentrums dem Ausgleich hindernd entgegen. Me sich
die Ideen jener Kreise seinerzeit der geistigen Oberschicht der deutschen Katholcke»
bemächtigt hatten, so hat das Zentrum es neuerdings verstanden. Einfluß auf


Grenzkoten I 1911
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[0559] Reichsspiegcl Kulturkampf! Das Wort hat einen bösen Beigeschmack. Es erinnert uns nicht nur an eine schwere Niederlage, es weist uns auch auf eine Schwäche hin, die die deutsche Nation seit der Reformationszeit in sich trägt; es weist uns auf den tiefen Riß, der seit vier Jahrhunderten schier unüberbrückbar mitten durch das deutsche Volk hindurch geht. „Die nationale Einheit", so schreibt Max Lenz, der Berliner Historiker, „ist nicht fertig, solange unsere Gottesver- ehrung noch nicht auf gemeinsamen: Boden ruht. Der Wille zur Macht selbst, der unser Reich schuf, würde erlahmen, der Lebensmut, der Glaube an das Vaterland müßte versiegen, wenn nicht in dem Innersten, in dem Adyton gleichsam unseres nationalen Bewußtseins dieselben Heiligtümer, die gleichen Gottesgedanken ihren Platz funden. Es liegt also eine zugleich politische und sittliche Notwendigkeit vor uns, jene Lebensmächte zu suchen, welche der Nationalität den eigentlichen Inhalt geben. Wie aber dahin gelangen?" (Kleine historische Schriften, Verlag von N. Oldenbourg, München und Berlin 1910, S. 255.) Jawohl, wie dahin gelangen? durch die Mittel des Kultur¬ kampfes? Lenz nennt uns einen besseren Weg: „Nur wenn wir auf den Boden zurückkehren, auf dem die Ideale unserer klassischen Periode erwuchsen, dürfen wir hoffen, den festen Grund zu finden, auf dem ein von gemeinsamen Ewigkeitsgedanken bewegtes Nationalbewußtsein sich bilden kann. Und nur in solchen Formen kann es geschehen, welche die alten Grenzlinien, die der politische Parteigeist unseres Jahrhunderts fast künstlich neu gegraben hat. abermals auslöschen und überschreiten werden . . ." (S. 260). Lenz weist auf die Romantiker Schleiermacher und Novalis, Tieck und beide Schlegel, Adam Müller und Gentz hin, als auf die Geister, die den deutschen Einheits¬ gedanken bis zu seinen letzten Folgerungen durchdacht haben. „Die katholischen Kreise waren ... die nachfolgenden und empfangenden. Erst in der zweiten Generation, als der politische Kampf den zarten Schmelz der Romantik ab¬ streifte und zerstörte und hinter ihrem weichen Antlitz die harten Züge des Ultramontanismus hervortraten, stellten sich unter Joseph Görres Söhne der katholischen Kirche an die Spitze. Und nun begann die allseitige Ver¬ steifung ... aller Organe und Dogmen, die in Trient geschaffen oder neu gebildet waren. Das aber geschah in engster Verbindung mit dem Kampf der politischen Parteien, den der Werdegang des nationalen Staates hervorrief" (S. 259). Vergleichen wir die letzten zwanzig Jahre unserer geistigen Entwicklung und der Zeit, zu der Lenz uns hinführt, dann werden wir auch Analogien erkennen, die vielleicht geeignet sind, uns den richtigen Weg leichter finden zu lassen. Auch unsere Tage kennen ein Wiederaufleben der Romantik, und wie damals sind Männer aus beiden kirchlichen Lagern bemüht, die Brücke zu schlagen. Doch wie damals Görres und seine Freunde den guten Keim erstickten, so steht heute die konfessionelle Partei des Zentrums dem Ausgleich hindernd entgegen. Me sich die Ideen jener Kreise seinerzeit der geistigen Oberschicht der deutschen Katholcke» bemächtigt hatten, so hat das Zentrum es neuerdings verstanden. Einfluß auf Grenzkoten I 1911

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/559>, abgerufen am 04.07.2024.