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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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die Massen zu gewinnen und sie nach den gleichen Grundsätzen, wie die Sozial¬
demokratie es tut, zu organisieren. Die protestantische Kirche kann dem nichts
gegenüberstellen an Organisation, was befähigt wäre, den Kampf als Kultur¬
kampf auch nur mit der geringsten Aussicht auf Erfolg aufzunehmen. Jeder
Versuch eines Kulturkampfes würde unter solchen Kräfteverhältnissen nur Wasser
auf die Mühlen des Ultramontanismus führen und die seitens der Zeurrums-
partei auf eine weitere Vertiefung unserer Spaltung gerichteten Bemühungen
unterstützen. Darum: nicht wir Protestanten, nicht die Regierung des paritätischen
Staates können ein Interesse an der Entfachung eines Kulturkampfes haben,
sondern einzig und allen: die Ultramontanen. Unsere stärksten Mittel gegen
Rom liegen in den gesunden, durch die Reformation befreiten, durch den
Humanismus entwickelten nationalen Kräften. Sie gilt es zu pflegen, an ihren
Quellen in der Nation selbst zu pflegen. Man befreie die deutsche Schule von
dem schädlichen Einfluß ultramontan gesinnter Lehrer und lasse in ihr den Geist
der Freiheit wehen, so werden sich von selbst die Kräfte bilden, die notwendig
sind, um deu römischen Katholizismus bei den deutschen Katholiken zu über¬
winden. Je mehr der Papst durch seine Verordnungen den katholischen Geist
zur Verknöcherung treibt, um so eher wird das religiöse Empfinden in Sehn¬
sucht nach Befriedigung die deutschen Katholiken zu dem Quell der Erkenntnis
drängen. Mögen darum die katholischen Fakultäten bestehen bleiben, wenn nur
die Schulen dem Ultramontanismus entzogen werden.

Obwohl nun die nationalen Politiker aller politische,: Richtungen sich der
angedeuteten weiteren Folgerungen wohl bewußt sind, richtet sich ihr Haupt¬
augenmerk doch auf die Äußerlichkeiten, und selbst so gemäßigte Männer wie
Herr v. Kardorff möchten den preußischen Ministerpräsidenten in Bismarckschen
Kürassierstiefeln gegen den Vatikan vorgehen sehen. Man fordert die Auf¬
lösung der preußischen Gesandtschaft beim päpstlichen Stuhl. Die
Ereignisse des letzten Jahres, die völlige Ignorierung von deren Vorhandensein
durch den Vatikan können aber doch nur scheinbar die Richtigkeit eines solchen
Schrittes beweisen. Herr v. Kiderlen-Wächter meinte in seiner gemütlich
schwäbischen Art, es müsse doch jemand da sein zum Schreiben. Gewiß!
Man soll von der preußischen Gesandtschaft nicht Leistungen erwarten, die ihr nicht
zukommen. Diese Gesandtschaft hatte nie aktive Funktionen; stets war sie mehr ein
Beobachtungsposten, der beibehalten wurde nicht aus besonderer Hochschätzung für
das Papsttum, sondern ausschließlich mit Rücksicht auf ein friedliches Zusammen¬
leben der preußischen Katholiken mit den Protestanten. Wahrhaft friedliebende
Päpste können sich dauernd und leicht zu allen Preußen betreffenden Fragen
Material geben lassen, und sowohl an der Art des geforderten Materials wie
an der Häufigkeit der Inanspruchnahme vermag der preußische Gesandte den
Absichten der Kurie folgen. Ein geschickter, historisch genügend vorbereiteter
Diplomat wird unter solchen Verhältnissen auch in seiner Eigenschaft als Gesandter
beim Vatikan ein nützlicher Vertreter deutscher Interessen sein, vorausgesetzt, daß er


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die Massen zu gewinnen und sie nach den gleichen Grundsätzen, wie die Sozial¬
demokratie es tut, zu organisieren. Die protestantische Kirche kann dem nichts
gegenüberstellen an Organisation, was befähigt wäre, den Kampf als Kultur¬
kampf auch nur mit der geringsten Aussicht auf Erfolg aufzunehmen. Jeder
Versuch eines Kulturkampfes würde unter solchen Kräfteverhältnissen nur Wasser
auf die Mühlen des Ultramontanismus führen und die seitens der Zeurrums-
partei auf eine weitere Vertiefung unserer Spaltung gerichteten Bemühungen
unterstützen. Darum: nicht wir Protestanten, nicht die Regierung des paritätischen
Staates können ein Interesse an der Entfachung eines Kulturkampfes haben,
sondern einzig und allen: die Ultramontanen. Unsere stärksten Mittel gegen
Rom liegen in den gesunden, durch die Reformation befreiten, durch den
Humanismus entwickelten nationalen Kräften. Sie gilt es zu pflegen, an ihren
Quellen in der Nation selbst zu pflegen. Man befreie die deutsche Schule von
dem schädlichen Einfluß ultramontan gesinnter Lehrer und lasse in ihr den Geist
der Freiheit wehen, so werden sich von selbst die Kräfte bilden, die notwendig
sind, um deu römischen Katholizismus bei den deutschen Katholiken zu über¬
winden. Je mehr der Papst durch seine Verordnungen den katholischen Geist
zur Verknöcherung treibt, um so eher wird das religiöse Empfinden in Sehn¬
sucht nach Befriedigung die deutschen Katholiken zu dem Quell der Erkenntnis
drängen. Mögen darum die katholischen Fakultäten bestehen bleiben, wenn nur
die Schulen dem Ultramontanismus entzogen werden.

Obwohl nun die nationalen Politiker aller politische,: Richtungen sich der
angedeuteten weiteren Folgerungen wohl bewußt sind, richtet sich ihr Haupt¬
augenmerk doch auf die Äußerlichkeiten, und selbst so gemäßigte Männer wie
Herr v. Kardorff möchten den preußischen Ministerpräsidenten in Bismarckschen
Kürassierstiefeln gegen den Vatikan vorgehen sehen. Man fordert die Auf¬
lösung der preußischen Gesandtschaft beim päpstlichen Stuhl. Die
Ereignisse des letzten Jahres, die völlige Ignorierung von deren Vorhandensein
durch den Vatikan können aber doch nur scheinbar die Richtigkeit eines solchen
Schrittes beweisen. Herr v. Kiderlen-Wächter meinte in seiner gemütlich
schwäbischen Art, es müsse doch jemand da sein zum Schreiben. Gewiß!
Man soll von der preußischen Gesandtschaft nicht Leistungen erwarten, die ihr nicht
zukommen. Diese Gesandtschaft hatte nie aktive Funktionen; stets war sie mehr ein
Beobachtungsposten, der beibehalten wurde nicht aus besonderer Hochschätzung für
das Papsttum, sondern ausschließlich mit Rücksicht auf ein friedliches Zusammen¬
leben der preußischen Katholiken mit den Protestanten. Wahrhaft friedliebende
Päpste können sich dauernd und leicht zu allen Preußen betreffenden Fragen
Material geben lassen, und sowohl an der Art des geforderten Materials wie
an der Häufigkeit der Inanspruchnahme vermag der preußische Gesandte den
Absichten der Kurie folgen. Ein geschickter, historisch genügend vorbereiteter
Diplomat wird unter solchen Verhältnissen auch in seiner Eigenschaft als Gesandter
beim Vatikan ein nützlicher Vertreter deutscher Interessen sein, vorausgesetzt, daß er


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[0560] Reichsspiegel die Massen zu gewinnen und sie nach den gleichen Grundsätzen, wie die Sozial¬ demokratie es tut, zu organisieren. Die protestantische Kirche kann dem nichts gegenüberstellen an Organisation, was befähigt wäre, den Kampf als Kultur¬ kampf auch nur mit der geringsten Aussicht auf Erfolg aufzunehmen. Jeder Versuch eines Kulturkampfes würde unter solchen Kräfteverhältnissen nur Wasser auf die Mühlen des Ultramontanismus führen und die seitens der Zeurrums- partei auf eine weitere Vertiefung unserer Spaltung gerichteten Bemühungen unterstützen. Darum: nicht wir Protestanten, nicht die Regierung des paritätischen Staates können ein Interesse an der Entfachung eines Kulturkampfes haben, sondern einzig und allen: die Ultramontanen. Unsere stärksten Mittel gegen Rom liegen in den gesunden, durch die Reformation befreiten, durch den Humanismus entwickelten nationalen Kräften. Sie gilt es zu pflegen, an ihren Quellen in der Nation selbst zu pflegen. Man befreie die deutsche Schule von dem schädlichen Einfluß ultramontan gesinnter Lehrer und lasse in ihr den Geist der Freiheit wehen, so werden sich von selbst die Kräfte bilden, die notwendig sind, um deu römischen Katholizismus bei den deutschen Katholiken zu über¬ winden. Je mehr der Papst durch seine Verordnungen den katholischen Geist zur Verknöcherung treibt, um so eher wird das religiöse Empfinden in Sehn¬ sucht nach Befriedigung die deutschen Katholiken zu dem Quell der Erkenntnis drängen. Mögen darum die katholischen Fakultäten bestehen bleiben, wenn nur die Schulen dem Ultramontanismus entzogen werden. Obwohl nun die nationalen Politiker aller politische,: Richtungen sich der angedeuteten weiteren Folgerungen wohl bewußt sind, richtet sich ihr Haupt¬ augenmerk doch auf die Äußerlichkeiten, und selbst so gemäßigte Männer wie Herr v. Kardorff möchten den preußischen Ministerpräsidenten in Bismarckschen Kürassierstiefeln gegen den Vatikan vorgehen sehen. Man fordert die Auf¬ lösung der preußischen Gesandtschaft beim päpstlichen Stuhl. Die Ereignisse des letzten Jahres, die völlige Ignorierung von deren Vorhandensein durch den Vatikan können aber doch nur scheinbar die Richtigkeit eines solchen Schrittes beweisen. Herr v. Kiderlen-Wächter meinte in seiner gemütlich schwäbischen Art, es müsse doch jemand da sein zum Schreiben. Gewiß! Man soll von der preußischen Gesandtschaft nicht Leistungen erwarten, die ihr nicht zukommen. Diese Gesandtschaft hatte nie aktive Funktionen; stets war sie mehr ein Beobachtungsposten, der beibehalten wurde nicht aus besonderer Hochschätzung für das Papsttum, sondern ausschließlich mit Rücksicht auf ein friedliches Zusammen¬ leben der preußischen Katholiken mit den Protestanten. Wahrhaft friedliebende Päpste können sich dauernd und leicht zu allen Preußen betreffenden Fragen Material geben lassen, und sowohl an der Art des geforderten Materials wie an der Häufigkeit der Inanspruchnahme vermag der preußische Gesandte den Absichten der Kurie folgen. Ein geschickter, historisch genügend vorbereiteter Diplomat wird unter solchen Verhältnissen auch in seiner Eigenschaft als Gesandter beim Vatikan ein nützlicher Vertreter deutscher Interessen sein, vorausgesetzt, daß er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/560>, abgerufen am 24.07.2024.