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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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vergessene Bücher und vergessene Dichter

Wer weiß, wie sich die Dinge wenden, die lange Trennung entfremdet, und
schließlich ergibt sich von selbst, was sich sonst nicht hatte erzwingen lassen.
Geduld, Freund Nonguie! hatte der diplomatische Marcellin im Vertrauen gesagt.
Geduld, du bist noch jung! Das Alter macht es nicht! Und Rouquie war der
Mann, der gelernt hatte, sich in Geduld zu fassen. Gedanken sind gut, Hinter-
gedanken sind besser. Der direkte Weg geht um die Ecke. Die Hauptsache ist, zu
berechnen, wie die Sache in der dritten Potenz wirkt!

Im Oberstock des feudalen Gemäuers wütete das Schicksal über Land, Menschen
und Dinge. Hier hatte Marcellin seine vertraulichen Unterredungen mit Nouguie,
Bürgermeister ans Carcassone. Hier wurden die Pläne geschmiedet, die das per¬
sönliche, das öffentliche und das wirtschaftliche Interesse betrafen, hier hatte die
Bereinigung der Winzer ihre Zusammenkünfte, hier wurde Marcellin zum Geschäfts-
träger und Oberhaupt der vereinigten Winzer ernannt, hier hatte er Gaston, den
Sohn seines verstorbenen Freundes, seinen Schützling und vorbestimmten Schwieger
beredet, Liebe und Heimat auf einige Jahre zu vergessen, weil ihn: doch beides
sicher sei, und hier wurde heute in einem scharfen Kampfe mit den Vertretern des
großen Pariser Weinsyndikats das "Aktionskomitee zum Schutz der Winzer¬
interessen" unter dem Vorsitz Marcellins und der Beiordnung Rouqniös und
Frcmcillons begründet und zugleich beschlossen, den Krieg mit dem Syndikat auf¬
zunehmen, den Wein nicht unter dem Preis zu verkaufen und die Regierung zu
Maßnahmen gegen den Finanzring zu bestimmen. Marcellin und Genossen hatten
die Drähte in der Hand, und, das muß man glauben, sie waren gute Drahtzieher.

(Fortsetzung folgt.)




Vergessene Bücher und vergessene Dichter
Dr. Heinrich Zpiero- vou

s gibt Augenblicke, in denen dem Kritiker schmerzlich zum Bewußtsein
kommt, daß er ungerecht gewesen ist. Ein solcher Moment war es,
als Walther Siegfrieds Roman "Tino Moralt" in seiner neuen,
durchgesehenen Aufgabe (Berlin, Meyer u. Jessen) mir wieder in
die Hände kam. Das Buch erschien zum erstenmal vor zwanzig
Jahren, und sein Verfasser ist seitdem mit neuen Gaben überaus sparsam gewesen.
Selten aber ward in dieser Zeit auf "Tino Moralt" wieder hingewiesen, und anch
ich muß mich dessen schuldig bekennen, daß ich an dieser Stelle bei meinen
gelegentlichen Rückblicken auf die Entwicklung des deutschen Romans in den letzten
Jahrzehnten an diesem starken Werk vorbeigegangen bin. Jetzt wirkt es wie eine
neue Erscheinung, ganz unveraltet, wie es denn damals schon nicht als das Werk
irgendeiner herrschenden Richtung, sondern als ein selbständiges, tiefes Kunstwerk
erschien. Der Untertitel "Kampf und Ende eines Künstlers" ist nicht ganz richtig.
Tino Moralt ist ein begabter Maler.. Die Klippe, eine solche Begabung wirklich
glaubhaft zu machen, umschifft Siegfried sehr glücklich, indem er den elementaren


Grenzboten I 1911 67
vergessene Bücher und vergessene Dichter

Wer weiß, wie sich die Dinge wenden, die lange Trennung entfremdet, und
schließlich ergibt sich von selbst, was sich sonst nicht hatte erzwingen lassen.
Geduld, Freund Nonguie! hatte der diplomatische Marcellin im Vertrauen gesagt.
Geduld, du bist noch jung! Das Alter macht es nicht! Und Rouquie war der
Mann, der gelernt hatte, sich in Geduld zu fassen. Gedanken sind gut, Hinter-
gedanken sind besser. Der direkte Weg geht um die Ecke. Die Hauptsache ist, zu
berechnen, wie die Sache in der dritten Potenz wirkt!

Im Oberstock des feudalen Gemäuers wütete das Schicksal über Land, Menschen
und Dinge. Hier hatte Marcellin seine vertraulichen Unterredungen mit Nouguie,
Bürgermeister ans Carcassone. Hier wurden die Pläne geschmiedet, die das per¬
sönliche, das öffentliche und das wirtschaftliche Interesse betrafen, hier hatte die
Bereinigung der Winzer ihre Zusammenkünfte, hier wurde Marcellin zum Geschäfts-
träger und Oberhaupt der vereinigten Winzer ernannt, hier hatte er Gaston, den
Sohn seines verstorbenen Freundes, seinen Schützling und vorbestimmten Schwieger
beredet, Liebe und Heimat auf einige Jahre zu vergessen, weil ihn: doch beides
sicher sei, und hier wurde heute in einem scharfen Kampfe mit den Vertretern des
großen Pariser Weinsyndikats das „Aktionskomitee zum Schutz der Winzer¬
interessen" unter dem Vorsitz Marcellins und der Beiordnung Rouqniös und
Frcmcillons begründet und zugleich beschlossen, den Krieg mit dem Syndikat auf¬
zunehmen, den Wein nicht unter dem Preis zu verkaufen und die Regierung zu
Maßnahmen gegen den Finanzring zu bestimmen. Marcellin und Genossen hatten
die Drähte in der Hand, und, das muß man glauben, sie waren gute Drahtzieher.

(Fortsetzung folgt.)




Vergessene Bücher und vergessene Dichter
Dr. Heinrich Zpiero- vou

s gibt Augenblicke, in denen dem Kritiker schmerzlich zum Bewußtsein
kommt, daß er ungerecht gewesen ist. Ein solcher Moment war es,
als Walther Siegfrieds Roman „Tino Moralt" in seiner neuen,
durchgesehenen Aufgabe (Berlin, Meyer u. Jessen) mir wieder in
die Hände kam. Das Buch erschien zum erstenmal vor zwanzig
Jahren, und sein Verfasser ist seitdem mit neuen Gaben überaus sparsam gewesen.
Selten aber ward in dieser Zeit auf „Tino Moralt" wieder hingewiesen, und anch
ich muß mich dessen schuldig bekennen, daß ich an dieser Stelle bei meinen
gelegentlichen Rückblicken auf die Entwicklung des deutschen Romans in den letzten
Jahrzehnten an diesem starken Werk vorbeigegangen bin. Jetzt wirkt es wie eine
neue Erscheinung, ganz unveraltet, wie es denn damals schon nicht als das Werk
irgendeiner herrschenden Richtung, sondern als ein selbständiges, tiefes Kunstwerk
erschien. Der Untertitel „Kampf und Ende eines Künstlers" ist nicht ganz richtig.
Tino Moralt ist ein begabter Maler.. Die Klippe, eine solche Begabung wirklich
glaubhaft zu machen, umschifft Siegfried sehr glücklich, indem er den elementaren


Grenzboten I 1911 67
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[0543] vergessene Bücher und vergessene Dichter Wer weiß, wie sich die Dinge wenden, die lange Trennung entfremdet, und schließlich ergibt sich von selbst, was sich sonst nicht hatte erzwingen lassen. Geduld, Freund Nonguie! hatte der diplomatische Marcellin im Vertrauen gesagt. Geduld, du bist noch jung! Das Alter macht es nicht! Und Rouquie war der Mann, der gelernt hatte, sich in Geduld zu fassen. Gedanken sind gut, Hinter- gedanken sind besser. Der direkte Weg geht um die Ecke. Die Hauptsache ist, zu berechnen, wie die Sache in der dritten Potenz wirkt! Im Oberstock des feudalen Gemäuers wütete das Schicksal über Land, Menschen und Dinge. Hier hatte Marcellin seine vertraulichen Unterredungen mit Nouguie, Bürgermeister ans Carcassone. Hier wurden die Pläne geschmiedet, die das per¬ sönliche, das öffentliche und das wirtschaftliche Interesse betrafen, hier hatte die Bereinigung der Winzer ihre Zusammenkünfte, hier wurde Marcellin zum Geschäfts- träger und Oberhaupt der vereinigten Winzer ernannt, hier hatte er Gaston, den Sohn seines verstorbenen Freundes, seinen Schützling und vorbestimmten Schwieger beredet, Liebe und Heimat auf einige Jahre zu vergessen, weil ihn: doch beides sicher sei, und hier wurde heute in einem scharfen Kampfe mit den Vertretern des großen Pariser Weinsyndikats das „Aktionskomitee zum Schutz der Winzer¬ interessen" unter dem Vorsitz Marcellins und der Beiordnung Rouqniös und Frcmcillons begründet und zugleich beschlossen, den Krieg mit dem Syndikat auf¬ zunehmen, den Wein nicht unter dem Preis zu verkaufen und die Regierung zu Maßnahmen gegen den Finanzring zu bestimmen. Marcellin und Genossen hatten die Drähte in der Hand, und, das muß man glauben, sie waren gute Drahtzieher. (Fortsetzung folgt.) Vergessene Bücher und vergessene Dichter Dr. Heinrich Zpiero- vou s gibt Augenblicke, in denen dem Kritiker schmerzlich zum Bewußtsein kommt, daß er ungerecht gewesen ist. Ein solcher Moment war es, als Walther Siegfrieds Roman „Tino Moralt" in seiner neuen, durchgesehenen Aufgabe (Berlin, Meyer u. Jessen) mir wieder in die Hände kam. Das Buch erschien zum erstenmal vor zwanzig Jahren, und sein Verfasser ist seitdem mit neuen Gaben überaus sparsam gewesen. Selten aber ward in dieser Zeit auf „Tino Moralt" wieder hingewiesen, und anch ich muß mich dessen schuldig bekennen, daß ich an dieser Stelle bei meinen gelegentlichen Rückblicken auf die Entwicklung des deutschen Romans in den letzten Jahrzehnten an diesem starken Werk vorbeigegangen bin. Jetzt wirkt es wie eine neue Erscheinung, ganz unveraltet, wie es denn damals schon nicht als das Werk irgendeiner herrschenden Richtung, sondern als ein selbständiges, tiefes Kunstwerk erschien. Der Untertitel „Kampf und Ende eines Künstlers" ist nicht ganz richtig. Tino Moralt ist ein begabter Maler.. Die Klippe, eine solche Begabung wirklich glaubhaft zu machen, umschifft Siegfried sehr glücklich, indem er den elementaren Grenzboten I 1911 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/543>, abgerufen am 04.07.2024.