Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Der rote Rausch "Will der Prophet sagen, daß den Göttergeschenken nicht zu trauen sei? "Wer denkt ans Sterben, wenn sich der Himmel öffnet und alle Wonnen "Freut euch des Lebens, ihr Freunde," rief der übermütige Gaston! "he, Das Echo antwortete mit feurigen Zungen von den Hügeln, aus den Kellern, Nur der hagere rechnende, grübelnde Marcellin drehte sich nicht im Ringel- Die Herren Makler! Das waren ja die Sendlinge der großen, unbegreif¬ "Mit Nichten, ihr Herren Winzer!" Und die knöcherne, filzige, gierig zupackende Jesus trieb die Wechsler und Makler aus den Vorhöfen des Tempels, weil Grenzvoten I 1911 61
Der rote Rausch „Will der Prophet sagen, daß den Göttergeschenken nicht zu trauen sei? „Wer denkt ans Sterben, wenn sich der Himmel öffnet und alle Wonnen „Freut euch des Lebens, ihr Freunde," rief der übermütige Gaston! „he, Das Echo antwortete mit feurigen Zungen von den Hügeln, aus den Kellern, Nur der hagere rechnende, grübelnde Marcellin drehte sich nicht im Ringel- Die Herren Makler! Das waren ja die Sendlinge der großen, unbegreif¬ „Mit Nichten, ihr Herren Winzer!" Und die knöcherne, filzige, gierig zupackende Jesus trieb die Wechsler und Makler aus den Vorhöfen des Tempels, weil Grenzvoten I 1911 61
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Der rote Rausch
„Will der Prophet sagen, daß den Göttergeschenken nicht zu trauen sei?
Blinder Seher, erkennst du den Tod, diesen hohläugigen Schurken, der in der
Weinlaube, auf den schwangeren, lebenspendenden Hügeln sitzt? Oder meinst du,
daß das Verderben in der verführerischen Gestalt leichtgeschürzter Mädchen komme
und daß das Unheil die Rosenwangen des Glücks als täuschende Maske wähle?
AltweibergeschwätzI" So sprachen die Zweifler.
„Wer denkt ans Sterben, wenn sich der Himmel öffnet und alle Wonnen
niederstürzen?" So sprach die Jugend.
„Freut euch des Lebens, ihr Freunde," rief der übermütige Gaston! „he,
Musik! Und Wein her, diese Trübsalbläser zu ersäufen! Freut euch des Lebens! Musik!"
Das Echo antwortete mit feurigen Zungen von den Hügeln, aus den Kellern,
aus den Herzen, aus allen Baßgeigen, die am Himmel hingen, aus allen Flöten,
die sonst einsam und liebeskrank zum Steinerweichen jammerten, aus Geigen,
die jubelten und weinten, aus Messinghörnern der Winzer, die grell und zackig
melodeiten, aus Kehlen, die zu krähen anfingen, gröhlend, grunzend, piepsend, grob,
überfein, und in diesem menschlichen Hühnerhofgeschnatter manche wirkliche Sing¬
stimme, die wie ein metallenes Bächlein durch die tönende Luft rann. Weinrote
Winzcrhände flogen in die Höhe und klatschten im Takt, plumpe Beine mit erdigen
Bauernstiefeln wurden leicht und graziös und tanzten zierliche Figuren. Alles
drehte sich im Kreis, und die sinkende Sonne, die trunkenen Hügel, die Häuser,
die Bäume, die Kirche, das Rathaus, die ganze Welt drehte sich mit.
Nur der hagere rechnende, grübelnde Marcellin drehte sich nicht im Ringel-
spiel. Er war in ernste, schwere Geschäfte vertieft. Ein paar Fremde waren
hier, die er den lieben langen Tag umhergeführt von Weinland zu Weinland, von
Kellerei zu Kellerei, die Vorräte zu schätzen, ihren Wert zu berechnen, die Preise
zu bestimmen, den Verkauf für die ganzen vereinigten Winzer zu bewerkstelligen.
Es waren die Herren Makler aus Paris, die mit habgierigen, kritischen und zugleich
ablehnenden Mienen umhergingen, wenig sprachen, spöttisch lächelten und mit
geringschätzigen Gebärden antworteten, während Marcellin sich in Worten über¬
stürzte, beteuerte, vorrechnete, anpries, drohte, beschwor und zu verzweifeln schien.
Die Herren Makler! Das waren ja die Sendlinge der großen, unbegreif¬
lichen Geldmacht, die über Sein und Nichtsein gebot und die nun ihre Diener
und Helfer geschickt hatte, diese rubinroten, kostbaren Blutstropfen der Erde mit
Gold aufzuwiegen. Sie waren längst erwartet worden, auf daß sie diesen grünen
Hügeln, denen der Herbst nun eine goldene Rüstung verliehen, aus Dukaten
geschmiedet, denn soviel war die Ernte wert! Und man rechnete dabei mit alten,
mäßigen Preisen aus der früheren gutenZeit, ohne Wucher: Fünfzig Franken proHekto!
„Mit Nichten, ihr Herren Winzer!" Und die knöcherne, filzige, gierig zupackende
Hand jener erbarmungslosen Macht schrieb eine Zahl hin, die vor den Augen des
armen Marcellin wie ein Todesurteil in flammenden Zügen an dem heiter blauen
Himmel aufzuckte: „Fünf Franken pro Hello!"
Jesus trieb die Wechsler und Makler aus den Vorhöfen des Tempels, weil
sie Wucher trieben mit den heiligen Gaben und das Volk zum Darben brachten,
dieweil die Schatzkammern der Natur in Reichtümern überflossen. Marcellin war
Grenzvoten I 1911 61
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