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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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ist nicht mit örtlichen und nationalen Eigenheiten verknüpft. Sie dringt nicht in
das Familienleben ein, nicht in den täglichen Verkehr der Volksgenossen unter¬
einander, sondern wird immer als fremde Sprache behandelt und empfunden
werden. Alle Nationen sind ihr gegenüber in derselben Lage, keine erhält durch
sie über eine andere einen Vorteil noch ein Interesse, sie zum Nachteil einer
nationalen Sprache politisch so auszunutzen, wie etwa ein Herrschervolk seine
Sprache unterworfenen Völkern aufzuzwingen sucht. Die künstliche Sprache wird
also immer nur die zweite Sprache neben der Muttersprache sein, und so wenig
etwa das international verständliche Morse-Alphabet des Telegraphen die ver¬
schiedenen Schriften der einzelnen Völker verdrängt hat, so wenig kann die Hilfs¬
sprache zu einer allgemeinen Menschheitssprache werden. Sie soll und kann nie
etwas anderes sein als ein Notbehelf für alle Fälle des internationalen Verkehrs,
in denen man mit seiner Muttersprache nicht auskommt. Ein Behelf freilich, der
für die Kultur von unberechenbarem Segen werden kann, wie Eisenbahn und
Luftschiff, die der Mensch ja auch nicht brauchen würde, wenn er wie der Vogel
fliegen könnte.




Gustav Wustmann
Prof. Dr. Groth i von

> in 22. Dezember d. Is. starb zu Leipzig im Alter von siebenundsechzig
Jahren der Archivdirektor und Oberbibliothekar Gustav Wustmann,
dessen Name mit der Geschichte der "Grenzboten" aufs engste ver¬
knüpft ist; denn von 1879 bis 1898 führte er mit Johannes Grunow
I die Redaktion dieser Zeitschrift. Im Jahre 1844 in Dresden geboren,
hatte sich Wustmann auf der Kreuzschule dort eine gediegene Bildung erworben
und schon damals (vgl. seine "Alumneumserinnerungen", 1890) Anregungen philo¬
logisch-historischer Art erhalten, die ihm später sehr zunutze kamen. Er studierte in
Leipzig von 1862 bis 1866, war anfangs Gymnasiallehrer und übernahm 1881
die Verwaltung der Stadtbibliothek. Schon 1879 war er in die Redaktion der
"Grenzboten" eingetreten. Mit scharfem kritischen Urteil ausgestattet, mit feinem
Sprachgefühl, das sich besonders durch die Arbeiten Rudolf Hildebrands entwickelt
hatte, und mit lebhaftem Interesse für wissenschaftliche Zeit- und Streitfragen,
gelang es Wustmann, den "Grenzboten" einen beständig wachsenden Leserkreis
namentlich in der akademisch gebildeten Gesellschaft zu erwerben; und indem er
den literarischen und künstlerischen Fragen einen größeren Raum zuerkannte als
den politisch-wirtschaftlichen, schloß er sich an die besten Traditionen der "Grenz¬
boten" an, aus den Zeiten, wo Gustav Freytag und Julian Schmidt diese
Wochenschrift leiteten.

Wustmann war kein bequemer Redakteur; er legte auf die Form der Dar¬
stellung einen ganz besonderen Wert, um so mehr, als sich damals in den achtziger
Jahren nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in wissenschaftlichen Publikationen
eine genial dumbe Nichtachtung der Form und eine unverkennbare Verlotterung


Gustav wustmann

ist nicht mit örtlichen und nationalen Eigenheiten verknüpft. Sie dringt nicht in
das Familienleben ein, nicht in den täglichen Verkehr der Volksgenossen unter¬
einander, sondern wird immer als fremde Sprache behandelt und empfunden
werden. Alle Nationen sind ihr gegenüber in derselben Lage, keine erhält durch
sie über eine andere einen Vorteil noch ein Interesse, sie zum Nachteil einer
nationalen Sprache politisch so auszunutzen, wie etwa ein Herrschervolk seine
Sprache unterworfenen Völkern aufzuzwingen sucht. Die künstliche Sprache wird
also immer nur die zweite Sprache neben der Muttersprache sein, und so wenig
etwa das international verständliche Morse-Alphabet des Telegraphen die ver¬
schiedenen Schriften der einzelnen Völker verdrängt hat, so wenig kann die Hilfs¬
sprache zu einer allgemeinen Menschheitssprache werden. Sie soll und kann nie
etwas anderes sein als ein Notbehelf für alle Fälle des internationalen Verkehrs,
in denen man mit seiner Muttersprache nicht auskommt. Ein Behelf freilich, der
für die Kultur von unberechenbarem Segen werden kann, wie Eisenbahn und
Luftschiff, die der Mensch ja auch nicht brauchen würde, wenn er wie der Vogel
fliegen könnte.




Gustav Wustmann
Prof. Dr. Groth i von

> in 22. Dezember d. Is. starb zu Leipzig im Alter von siebenundsechzig
Jahren der Archivdirektor und Oberbibliothekar Gustav Wustmann,
dessen Name mit der Geschichte der „Grenzboten" aufs engste ver¬
knüpft ist; denn von 1879 bis 1898 führte er mit Johannes Grunow
I die Redaktion dieser Zeitschrift. Im Jahre 1844 in Dresden geboren,
hatte sich Wustmann auf der Kreuzschule dort eine gediegene Bildung erworben
und schon damals (vgl. seine „Alumneumserinnerungen", 1890) Anregungen philo¬
logisch-historischer Art erhalten, die ihm später sehr zunutze kamen. Er studierte in
Leipzig von 1862 bis 1866, war anfangs Gymnasiallehrer und übernahm 1881
die Verwaltung der Stadtbibliothek. Schon 1879 war er in die Redaktion der
„Grenzboten" eingetreten. Mit scharfem kritischen Urteil ausgestattet, mit feinem
Sprachgefühl, das sich besonders durch die Arbeiten Rudolf Hildebrands entwickelt
hatte, und mit lebhaftem Interesse für wissenschaftliche Zeit- und Streitfragen,
gelang es Wustmann, den „Grenzboten" einen beständig wachsenden Leserkreis
namentlich in der akademisch gebildeten Gesellschaft zu erwerben; und indem er
den literarischen und künstlerischen Fragen einen größeren Raum zuerkannte als
den politisch-wirtschaftlichen, schloß er sich an die besten Traditionen der „Grenz¬
boten" an, aus den Zeiten, wo Gustav Freytag und Julian Schmidt diese
Wochenschrift leiteten.

Wustmann war kein bequemer Redakteur; er legte auf die Form der Dar¬
stellung einen ganz besonderen Wert, um so mehr, als sich damals in den achtziger
Jahren nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in wissenschaftlichen Publikationen
eine genial dumbe Nichtachtung der Form und eine unverkennbare Verlotterung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/49>, abgerufen am 24.07.2024.