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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Systematische Sprachbildung

Es ist erstaunlich, auf wieviel Überflüssiges man dabei in allen natürlichen
Sprachen stößt, mit wie wenigen und einfachen Regeln man das alles erreichen
kann, was die Zufallsentwickelung der Sprache in einen komplizierten und schweren
Apparat gebracht hat, bei dem es mehr Ausnahmen und Unterausnahmen als
Regeln gibt. Wir haben im Deutschen drei Artikel, das Englische kommt mit
einem aus. Wir sagen: ich gebe, du gibst, er gibt, wir geben, ihr gebet, also
fünf verschiedene Formen, machen aber schon keinen Unterschied zwischen wir
geben und sie geben, ebensowenig wie bei ich gab und er gab. Der Engländer
braucht sogar für alle sechs Personen der Vergangenheit dieselbe Form (Zsve),
wobei noch dazu in dem Fürwort der zweiten Person kein Unterschied zwischen
Einzahl und Mehrzahl gemacht wird.

Was die natürliche Entwickelung schon bei abgeschliffenen Sprachen wie dem
Englischen planlos gemacht hat, das kann bei einer künstlichen Sprache planmäßig
noch weitergehend geschaffen werden; die größere Einfachheit führt dabei nicht
etwa zu geringerer, sondern zu größerer Genauigkeit, denn wird einmal z. B,,
wie es notwendig ist, die Vergangenheit anders ausgedrückt als die Gegenwart,
so geschieht das ausnahmeloS in allen Fällen, so daß Unklarheiten wie bei den:
englischen "put" oder "sse" und anderen, die alles mögliche bedeuten können,
ausgeschlossen sind.

Nicht nur in der Grammatik, sondern auch in dem Wortschatz kann eine
ungeheure Vereinfachung bewirkt werden, wenn man nur den Fingerzeigen der
natürlichen Sprachen folgt. Wir sagen Vater und Mutter, Bruder und Schwester,
Sohn und Tochter, Kater und Katze usw., während wir in anderen Fällen die
Verschiedenheit des Geschlecht durch eine einfache Nachsilbe ausdrücken: König,
Königin, Freund, Freundin, Hund, Hündin. Es würde zu weit führen, hier
genauer auf die Möglichkeiten der Vereinfachung bei einer planmäßigen Sprach¬
bildung einzugehen. Eine große Pionierarbeit hat auf diesem Gebiet der
Schöpfer des Volapük verrichtet, wenn auch seine Schöpfung selbst aus ver¬
schiedenen Gründen kein brauchbares internationales Verständigungsmittel werden
konnte; aber er hat gewisse Prinzipien festgelegt, die bei der Schaffung eines den
natürlichen Sprachen ähnlichen Verständigungsmittels notwendigerweise berück¬
sichtigt werden mußten. Bei der wichtigsten Frage, der Wortbildung, ist er leider
fehlgegangen. Hier hat erst Esperanto das Nichtige getroffen. Jedenfalls hat man
jetzt nicht nur theoretisch erkannt, sondern auch durch Esperanto praktisch erwiesen,
welche Grundsätze bei der Bildung einer Hilfssprache befolgt werden müssen, so
daß alle Kenner darüber einig sind, daß, wenn überhaupt eine künstliche Sprache
möglich ist, sie in den Grundzügen so gebaut sein muß wie Esperanto.

Viele Gegner des Hilfssprachegedankeus, darunter Fritz Mcmthner, behaupten,
eine Sprache könne nicht von einem einzelnen Menschen geschaffen werden, da ein
solcher nie ein vollständiges, für die Sprache doch notwendiges Wörterbuch allein
schaffen könnte. Aber das ist auch gar nicht nötig. Zunächst braucht, wie aus
den oben gegebenen Beispielen ersichtlich, eine künstliche Sprache nicht so viele
Wörter wie eine natürliche, da sie an Stelle einer großen Zahl selbständiger Wörter
von jedermann selbst zu bildende Ableitungen hat. Die Wörter, die sie trotzdem
noch braucht, werden wie bei einer natürlichen Sprache allmählich gebildet. Der
geschäftliche Verkehr, die immer zunehmende Literatur, kurz der praktische


Grenzboten I 1911 6
Systematische Sprachbildung

Es ist erstaunlich, auf wieviel Überflüssiges man dabei in allen natürlichen
Sprachen stößt, mit wie wenigen und einfachen Regeln man das alles erreichen
kann, was die Zufallsentwickelung der Sprache in einen komplizierten und schweren
Apparat gebracht hat, bei dem es mehr Ausnahmen und Unterausnahmen als
Regeln gibt. Wir haben im Deutschen drei Artikel, das Englische kommt mit
einem aus. Wir sagen: ich gebe, du gibst, er gibt, wir geben, ihr gebet, also
fünf verschiedene Formen, machen aber schon keinen Unterschied zwischen wir
geben und sie geben, ebensowenig wie bei ich gab und er gab. Der Engländer
braucht sogar für alle sechs Personen der Vergangenheit dieselbe Form (Zsve),
wobei noch dazu in dem Fürwort der zweiten Person kein Unterschied zwischen
Einzahl und Mehrzahl gemacht wird.

Was die natürliche Entwickelung schon bei abgeschliffenen Sprachen wie dem
Englischen planlos gemacht hat, das kann bei einer künstlichen Sprache planmäßig
noch weitergehend geschaffen werden; die größere Einfachheit führt dabei nicht
etwa zu geringerer, sondern zu größerer Genauigkeit, denn wird einmal z. B,,
wie es notwendig ist, die Vergangenheit anders ausgedrückt als die Gegenwart,
so geschieht das ausnahmeloS in allen Fällen, so daß Unklarheiten wie bei den:
englischen „put" oder „sse" und anderen, die alles mögliche bedeuten können,
ausgeschlossen sind.

Nicht nur in der Grammatik, sondern auch in dem Wortschatz kann eine
ungeheure Vereinfachung bewirkt werden, wenn man nur den Fingerzeigen der
natürlichen Sprachen folgt. Wir sagen Vater und Mutter, Bruder und Schwester,
Sohn und Tochter, Kater und Katze usw., während wir in anderen Fällen die
Verschiedenheit des Geschlecht durch eine einfache Nachsilbe ausdrücken: König,
Königin, Freund, Freundin, Hund, Hündin. Es würde zu weit führen, hier
genauer auf die Möglichkeiten der Vereinfachung bei einer planmäßigen Sprach¬
bildung einzugehen. Eine große Pionierarbeit hat auf diesem Gebiet der
Schöpfer des Volapük verrichtet, wenn auch seine Schöpfung selbst aus ver¬
schiedenen Gründen kein brauchbares internationales Verständigungsmittel werden
konnte; aber er hat gewisse Prinzipien festgelegt, die bei der Schaffung eines den
natürlichen Sprachen ähnlichen Verständigungsmittels notwendigerweise berück¬
sichtigt werden mußten. Bei der wichtigsten Frage, der Wortbildung, ist er leider
fehlgegangen. Hier hat erst Esperanto das Nichtige getroffen. Jedenfalls hat man
jetzt nicht nur theoretisch erkannt, sondern auch durch Esperanto praktisch erwiesen,
welche Grundsätze bei der Bildung einer Hilfssprache befolgt werden müssen, so
daß alle Kenner darüber einig sind, daß, wenn überhaupt eine künstliche Sprache
möglich ist, sie in den Grundzügen so gebaut sein muß wie Esperanto.

Viele Gegner des Hilfssprachegedankeus, darunter Fritz Mcmthner, behaupten,
eine Sprache könne nicht von einem einzelnen Menschen geschaffen werden, da ein
solcher nie ein vollständiges, für die Sprache doch notwendiges Wörterbuch allein
schaffen könnte. Aber das ist auch gar nicht nötig. Zunächst braucht, wie aus
den oben gegebenen Beispielen ersichtlich, eine künstliche Sprache nicht so viele
Wörter wie eine natürliche, da sie an Stelle einer großen Zahl selbständiger Wörter
von jedermann selbst zu bildende Ableitungen hat. Die Wörter, die sie trotzdem
noch braucht, werden wie bei einer natürlichen Sprache allmählich gebildet. Der
geschäftliche Verkehr, die immer zunehmende Literatur, kurz der praktische


Grenzboten I 1911 6
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[0047] Systematische Sprachbildung Es ist erstaunlich, auf wieviel Überflüssiges man dabei in allen natürlichen Sprachen stößt, mit wie wenigen und einfachen Regeln man das alles erreichen kann, was die Zufallsentwickelung der Sprache in einen komplizierten und schweren Apparat gebracht hat, bei dem es mehr Ausnahmen und Unterausnahmen als Regeln gibt. Wir haben im Deutschen drei Artikel, das Englische kommt mit einem aus. Wir sagen: ich gebe, du gibst, er gibt, wir geben, ihr gebet, also fünf verschiedene Formen, machen aber schon keinen Unterschied zwischen wir geben und sie geben, ebensowenig wie bei ich gab und er gab. Der Engländer braucht sogar für alle sechs Personen der Vergangenheit dieselbe Form (Zsve), wobei noch dazu in dem Fürwort der zweiten Person kein Unterschied zwischen Einzahl und Mehrzahl gemacht wird. Was die natürliche Entwickelung schon bei abgeschliffenen Sprachen wie dem Englischen planlos gemacht hat, das kann bei einer künstlichen Sprache planmäßig noch weitergehend geschaffen werden; die größere Einfachheit führt dabei nicht etwa zu geringerer, sondern zu größerer Genauigkeit, denn wird einmal z. B,, wie es notwendig ist, die Vergangenheit anders ausgedrückt als die Gegenwart, so geschieht das ausnahmeloS in allen Fällen, so daß Unklarheiten wie bei den: englischen „put" oder „sse" und anderen, die alles mögliche bedeuten können, ausgeschlossen sind. Nicht nur in der Grammatik, sondern auch in dem Wortschatz kann eine ungeheure Vereinfachung bewirkt werden, wenn man nur den Fingerzeigen der natürlichen Sprachen folgt. Wir sagen Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Sohn und Tochter, Kater und Katze usw., während wir in anderen Fällen die Verschiedenheit des Geschlecht durch eine einfache Nachsilbe ausdrücken: König, Königin, Freund, Freundin, Hund, Hündin. Es würde zu weit führen, hier genauer auf die Möglichkeiten der Vereinfachung bei einer planmäßigen Sprach¬ bildung einzugehen. Eine große Pionierarbeit hat auf diesem Gebiet der Schöpfer des Volapük verrichtet, wenn auch seine Schöpfung selbst aus ver¬ schiedenen Gründen kein brauchbares internationales Verständigungsmittel werden konnte; aber er hat gewisse Prinzipien festgelegt, die bei der Schaffung eines den natürlichen Sprachen ähnlichen Verständigungsmittels notwendigerweise berück¬ sichtigt werden mußten. Bei der wichtigsten Frage, der Wortbildung, ist er leider fehlgegangen. Hier hat erst Esperanto das Nichtige getroffen. Jedenfalls hat man jetzt nicht nur theoretisch erkannt, sondern auch durch Esperanto praktisch erwiesen, welche Grundsätze bei der Bildung einer Hilfssprache befolgt werden müssen, so daß alle Kenner darüber einig sind, daß, wenn überhaupt eine künstliche Sprache möglich ist, sie in den Grundzügen so gebaut sein muß wie Esperanto. Viele Gegner des Hilfssprachegedankeus, darunter Fritz Mcmthner, behaupten, eine Sprache könne nicht von einem einzelnen Menschen geschaffen werden, da ein solcher nie ein vollständiges, für die Sprache doch notwendiges Wörterbuch allein schaffen könnte. Aber das ist auch gar nicht nötig. Zunächst braucht, wie aus den oben gegebenen Beispielen ersichtlich, eine künstliche Sprache nicht so viele Wörter wie eine natürliche, da sie an Stelle einer großen Zahl selbständiger Wörter von jedermann selbst zu bildende Ableitungen hat. Die Wörter, die sie trotzdem noch braucht, werden wie bei einer natürlichen Sprache allmählich gebildet. Der geschäftliche Verkehr, die immer zunehmende Literatur, kurz der praktische Grenzboten I 1911 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/47>, abgerufen am 28.12.2024.