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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Das Zweckverbcmdsgesctz für Groß-Berlin

Praxis die schwersten wirtschaftlichen Folgen zeitigen. Es macht sich dies
besonders bemerkbar bei den Anforderungen und Leistungen der Kranken¬
kassen, in Handel und Gewerbe bei der Sonntagsruhe, beim Ladenschluß,
Herausstellen der Waren, Straßenhandel, im Gastwirtsgewerbe bei den
Konzessionsfragen, bei der Polizeistunde, den Tanzlustbarkeiten, sodann
beim Straßenbau, den Straßendoppelnamen, den Schulverhältnissen, beim
Melde- und Feuerlöschwesen. Ausführlicheres hierüber mit reichhaltigem
statistischen Material findet man in der von den Ältesten^der Kaufmannschaft
herausgegebenen Denkschrift "Die Zersplitterung des Wirtschaftsgebietes von Groß-
Berlin". Als besonders nachteilig und schwerwiegend erweist sich besonders die
Verschiedenheit in der Handhabung der Baupolizei und auf dem Gebiete des
Steuerwesens. Die Sätze der kommunalen Zuschlage zur Staatseinkommensteuer
schwanken zwischen 64 und 180 Prozent. Dabei erheben die größeren Gemeinden
fast alle nur 100 Prozent als Normalsteuersatz, und jede Gemeinde, die am
Einfange der leistungsfähigen Steuerzahler mitkonkurrieren will, versucht selbst
auf Kosten einer ordentlichen Finanzgebarung hierbei mitzutaten. So entsteht
ein wilder Konkurrenzkampf. Bei der Grund- und Gebäudesteuer -- in den
meisten Ortschaften ist schon die Steuer von gemeinen: Werte eingeführt --
gehen die Sätze von 150 bis 1158 Prozent hinauf. Ähnliche Differenzen sind
bei der Gewerbe-, der Umsatz-, der Wertzuwachssteuer, den Kanalisationsgebühren,
überhaupt bei allen Arten von Steuern, Gebühren und Beiträgen vorhanden.
Fühlbar werden alle diese Mißstände besonders denjenigen Leuten, die X-Straße 20
in der Gemeinde wohnen und von ihrem Visavis X-Straße 75 wissen, daß
er soundso viel weniger an Steuern usw. bezahlt, weil er zur Gemeinde K
gehört. Unter diesen Verhältnissen erwächst natürlich kein besonderes Boden-
ständigkeitsgefühl, eine Tatsache, die sich in der geringen aktiven Beteiligung
der Bevölkerung am kommunalen Leben, besonders den kommunalen Wahlen
bemerkbar macht.

Angesichts dieser aus der Zersplitterung Groß-Berlins sich ergebenden Mi߬
stände, die man jetzt beim Erscheinen des Gesetzentwurfs plötzlich völlig vergessen
zu haben scheint, dürfte es klar sein, daß diese Verhältnisse geradezu zur Schaffung
einer einheitlichen Verwaltungsorganisation drängen. Die Vorteile sind so hand¬
greiflich gegenüber den unleidlichen Zuständen, daß daran auch die Überzeugung,
daß große Werke auf dem Gebiete kommunaler Tätigkeit in Groß-Berlin ihre
Ursachen letzten Endes in dem Wettbewerb der Gemeinden haben, nichts ändern
kann. Die Schäden, die erwachsen sind, sind demgegenüber bei weitem größer.
Und sie waren nur möglich durch den Partikularismus der Gemeinden, ihre
Kirchturmpolitik und ihre Konkurrenzsucht, die man Wettbewerb nicht mehr
nennen kann und die bei mancher Gemeinde ihren verderblichen Einfluß auf die
Finanzwirtschaft bereits ausgeübt hat. Wie gesagt, der sich immer schärfer aus¬
prägende wirtschaftliche Vereinheitlichungsprozeß drängt eben zu Formen kommunal¬
rechtlicher Organisation.


Das Zweckverbcmdsgesctz für Groß-Berlin

Praxis die schwersten wirtschaftlichen Folgen zeitigen. Es macht sich dies
besonders bemerkbar bei den Anforderungen und Leistungen der Kranken¬
kassen, in Handel und Gewerbe bei der Sonntagsruhe, beim Ladenschluß,
Herausstellen der Waren, Straßenhandel, im Gastwirtsgewerbe bei den
Konzessionsfragen, bei der Polizeistunde, den Tanzlustbarkeiten, sodann
beim Straßenbau, den Straßendoppelnamen, den Schulverhältnissen, beim
Melde- und Feuerlöschwesen. Ausführlicheres hierüber mit reichhaltigem
statistischen Material findet man in der von den Ältesten^der Kaufmannschaft
herausgegebenen Denkschrift „Die Zersplitterung des Wirtschaftsgebietes von Groß-
Berlin". Als besonders nachteilig und schwerwiegend erweist sich besonders die
Verschiedenheit in der Handhabung der Baupolizei und auf dem Gebiete des
Steuerwesens. Die Sätze der kommunalen Zuschlage zur Staatseinkommensteuer
schwanken zwischen 64 und 180 Prozent. Dabei erheben die größeren Gemeinden
fast alle nur 100 Prozent als Normalsteuersatz, und jede Gemeinde, die am
Einfange der leistungsfähigen Steuerzahler mitkonkurrieren will, versucht selbst
auf Kosten einer ordentlichen Finanzgebarung hierbei mitzutaten. So entsteht
ein wilder Konkurrenzkampf. Bei der Grund- und Gebäudesteuer — in den
meisten Ortschaften ist schon die Steuer von gemeinen: Werte eingeführt —
gehen die Sätze von 150 bis 1158 Prozent hinauf. Ähnliche Differenzen sind
bei der Gewerbe-, der Umsatz-, der Wertzuwachssteuer, den Kanalisationsgebühren,
überhaupt bei allen Arten von Steuern, Gebühren und Beiträgen vorhanden.
Fühlbar werden alle diese Mißstände besonders denjenigen Leuten, die X-Straße 20
in der Gemeinde wohnen und von ihrem Visavis X-Straße 75 wissen, daß
er soundso viel weniger an Steuern usw. bezahlt, weil er zur Gemeinde K
gehört. Unter diesen Verhältnissen erwächst natürlich kein besonderes Boden-
ständigkeitsgefühl, eine Tatsache, die sich in der geringen aktiven Beteiligung
der Bevölkerung am kommunalen Leben, besonders den kommunalen Wahlen
bemerkbar macht.

Angesichts dieser aus der Zersplitterung Groß-Berlins sich ergebenden Mi߬
stände, die man jetzt beim Erscheinen des Gesetzentwurfs plötzlich völlig vergessen
zu haben scheint, dürfte es klar sein, daß diese Verhältnisse geradezu zur Schaffung
einer einheitlichen Verwaltungsorganisation drängen. Die Vorteile sind so hand¬
greiflich gegenüber den unleidlichen Zuständen, daß daran auch die Überzeugung,
daß große Werke auf dem Gebiete kommunaler Tätigkeit in Groß-Berlin ihre
Ursachen letzten Endes in dem Wettbewerb der Gemeinden haben, nichts ändern
kann. Die Schäden, die erwachsen sind, sind demgegenüber bei weitem größer.
Und sie waren nur möglich durch den Partikularismus der Gemeinden, ihre
Kirchturmpolitik und ihre Konkurrenzsucht, die man Wettbewerb nicht mehr
nennen kann und die bei mancher Gemeinde ihren verderblichen Einfluß auf die
Finanzwirtschaft bereits ausgeübt hat. Wie gesagt, der sich immer schärfer aus¬
prägende wirtschaftliche Vereinheitlichungsprozeß drängt eben zu Formen kommunal¬
rechtlicher Organisation.


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[0435] Das Zweckverbcmdsgesctz für Groß-Berlin Praxis die schwersten wirtschaftlichen Folgen zeitigen. Es macht sich dies besonders bemerkbar bei den Anforderungen und Leistungen der Kranken¬ kassen, in Handel und Gewerbe bei der Sonntagsruhe, beim Ladenschluß, Herausstellen der Waren, Straßenhandel, im Gastwirtsgewerbe bei den Konzessionsfragen, bei der Polizeistunde, den Tanzlustbarkeiten, sodann beim Straßenbau, den Straßendoppelnamen, den Schulverhältnissen, beim Melde- und Feuerlöschwesen. Ausführlicheres hierüber mit reichhaltigem statistischen Material findet man in der von den Ältesten^der Kaufmannschaft herausgegebenen Denkschrift „Die Zersplitterung des Wirtschaftsgebietes von Groß- Berlin". Als besonders nachteilig und schwerwiegend erweist sich besonders die Verschiedenheit in der Handhabung der Baupolizei und auf dem Gebiete des Steuerwesens. Die Sätze der kommunalen Zuschlage zur Staatseinkommensteuer schwanken zwischen 64 und 180 Prozent. Dabei erheben die größeren Gemeinden fast alle nur 100 Prozent als Normalsteuersatz, und jede Gemeinde, die am Einfange der leistungsfähigen Steuerzahler mitkonkurrieren will, versucht selbst auf Kosten einer ordentlichen Finanzgebarung hierbei mitzutaten. So entsteht ein wilder Konkurrenzkampf. Bei der Grund- und Gebäudesteuer — in den meisten Ortschaften ist schon die Steuer von gemeinen: Werte eingeführt — gehen die Sätze von 150 bis 1158 Prozent hinauf. Ähnliche Differenzen sind bei der Gewerbe-, der Umsatz-, der Wertzuwachssteuer, den Kanalisationsgebühren, überhaupt bei allen Arten von Steuern, Gebühren und Beiträgen vorhanden. Fühlbar werden alle diese Mißstände besonders denjenigen Leuten, die X-Straße 20 in der Gemeinde wohnen und von ihrem Visavis X-Straße 75 wissen, daß er soundso viel weniger an Steuern usw. bezahlt, weil er zur Gemeinde K gehört. Unter diesen Verhältnissen erwächst natürlich kein besonderes Boden- ständigkeitsgefühl, eine Tatsache, die sich in der geringen aktiven Beteiligung der Bevölkerung am kommunalen Leben, besonders den kommunalen Wahlen bemerkbar macht. Angesichts dieser aus der Zersplitterung Groß-Berlins sich ergebenden Mi߬ stände, die man jetzt beim Erscheinen des Gesetzentwurfs plötzlich völlig vergessen zu haben scheint, dürfte es klar sein, daß diese Verhältnisse geradezu zur Schaffung einer einheitlichen Verwaltungsorganisation drängen. Die Vorteile sind so hand¬ greiflich gegenüber den unleidlichen Zuständen, daß daran auch die Überzeugung, daß große Werke auf dem Gebiete kommunaler Tätigkeit in Groß-Berlin ihre Ursachen letzten Endes in dem Wettbewerb der Gemeinden haben, nichts ändern kann. Die Schäden, die erwachsen sind, sind demgegenüber bei weitem größer. Und sie waren nur möglich durch den Partikularismus der Gemeinden, ihre Kirchturmpolitik und ihre Konkurrenzsucht, die man Wettbewerb nicht mehr nennen kann und die bei mancher Gemeinde ihren verderblichen Einfluß auf die Finanzwirtschaft bereits ausgeübt hat. Wie gesagt, der sich immer schärfer aus¬ prägende wirtschaftliche Vereinheitlichungsprozeß drängt eben zu Formen kommunal¬ rechtlicher Organisation.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/435>, abgerufen am 24.07.2024.