Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Clara Viebig Viebigs eigenem Munde, in wie hohem Maße, wie überwältigend Zola auf sie Ein kurzer Vergleich mag zeigen, wie eng diese Verknüpfung zwischen Zolas Man rühmt des öftern Clara Viebigs Vielseitigkeit; diese scheint mir gleicher¬ In dem umfangreichen Roman "Das tägliche Brot" gab sie ein breites Clara Viebig Viebigs eigenem Munde, in wie hohem Maße, wie überwältigend Zola auf sie Ein kurzer Vergleich mag zeigen, wie eng diese Verknüpfung zwischen Zolas Man rühmt des öftern Clara Viebigs Vielseitigkeit; diese scheint mir gleicher¬ In dem umfangreichen Roman „Das tägliche Brot" gab sie ein breites <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318013"/> <fw type="header" place="top"> Clara Viebig</fw><lb/> <p xml:id="ID_1853" prev="#ID_1852"> Viebigs eigenem Munde, in wie hohem Maße, wie überwältigend Zola auf sie<lb/> gewirkt habe, und welche Freude es ihr gewesen sei, sich später einmal in einer<lb/> französischen Zeitschrift die beste deutsche Jüngerin des Franzosen genannt zu sehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1854"> Ein kurzer Vergleich mag zeigen, wie eng diese Verknüpfung zwischen Zolas<lb/> und Clara Viebigs Schaffen ist. Zola schildert im „Germinal" einen Zug streitender<lb/> Bergarbeiter mit völlig realistischer Deutlichkeit. Dann plötzlich beleuchtet die<lb/> untergehende Sonne Weg und Menschen. ^Jors. Ja route sembla cksrrier 6u<lb/> SÄNZ, les leinenes, les Kommes Lontinuaient ä galoper, smMants comme clef<lb/> boucliors en pleine tuerie . . . Einige Herren und Damen, die den Zug aus ihrem<lb/> Versteck betrachten, entsetzen sich. L'soll w vision rouM c!s 1a revolution. Zu<lb/> so gewaltiger Allgemeinheit erhebt Zola die armselige Gruppe dieser Streitenden<lb/> zu so dichterischer Symbolik erhebt sich sein „roman SLientikique". Hierneben<lb/> stelle man nun einen Passus aus Clara Viebigs „Weiberdorf". Die Dichterin<lb/> schildert die Zustände in einem armen Eifcldorfe, dessen Männer auswärts ihr<lb/> Brot suchen müssen. Die sich selbst überlassenen Frauen halten sich alle an den<lb/> einzigen jüngeren Mann des Ortes, an „das Pittchen". Im Nachbardorf war<lb/> Tanzfest. Das Pittchen hat zwei Frauen hinführen wollen, doch eine ganze Schar<lb/> drängte sich ihm auf. Es wurde dann wild getanzt und getrunken. Der Mann<lb/> ist völlig benebelt, als man heimkehrt; die Weiber umdrängen ihn, keine gönnt<lb/> ihn der andern, jede will ihn für sich allein haben. Es ist Nacht, der Weg ist<lb/> schwierig. „Ein Ungeheuer, vielfüßig, vielköpfig, schiebt sich langsam die Weiber¬<lb/> schar bergab. Sie hat den Weg verloren. Über Gestein und Geröll, durch Acker<lb/> und Gestrüpp, ohne Pfad wälzt sie sich zu Tal, mit fortreißend, was nicht Kraft<lb/> hat, sich zu wehren. Einer Lawine gleich, die verheert und zerstört, furchtbar in<lb/> fühlloser Lebendigkeit, unheimlich im unerbittlichen Vorrücken, todbringend in<lb/> grausamer Geschlossenheit. .." Auch das ist eine vision rouge, auch hier liegt<lb/> eine Verkörperung des weitaus Umfassenderen vor, und die jämmerliche Schar<lb/> der Weiber aus der Eifel ist vergessen wie jene Gruppe streitender Arbeiter. Hier<lb/> ist der bis zur Vernichtung grausame Trieb selber dichterisch dargestellt, wie dort<lb/> die Revolution, und beide Bilder sind in genau übereinstimmender Technik gewonnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1855"> Man rühmt des öftern Clara Viebigs Vielseitigkeit; diese scheint mir gleicher¬<lb/> weise aus dem geschilderten Mangel wie Vorzug der Dichterin zu erwachsen. Sie<lb/> hat das ungemein scharfe Auge für jeden Zustand und jeden Charakter, sie weiß<lb/> im Besonderen das Allgemeine zu erkennen und es mit eigenartiger Kunst dar¬<lb/> zustellen. Sie braucht nicht auf das stark subjektive, sozusagen lyrische Erlebnis<lb/> zu warten, mit dem sie künstlerisch doch nichts Rechtes anzufangen weiß, und sie<lb/> braucht sich nicht über irgendwelche Aufwärtsentwicklungen, an die sie nicht glaubt,<lb/> den Kopf zu zerbreche». So vermochte sie denn im Roman wie in der Novelle,<lb/> in der sie eben jenen von Zola gewiesenen Weg betreten hat, ohne sichtbare An¬<lb/> strengung geographisch zu ihrer heimatlichen Eifel, thematisch zu den Geschlechts¬<lb/> dingen mancherlei Neues hinzuzufügen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1856"> In dem umfangreichen Roman „Das tägliche Brot" gab sie ein breites<lb/> Gemälde Berliner Großstadtelends. Aber hier gelang es ihr doch wohl nicht so<lb/> völlig wie im „Weiberdorf", jene symbolische Erhöhung und Verallgemeinerung<lb/> herbeizuführen. Zumeist lernt man weniger das allgemeine Elend des niederen<lb/> Volkes als die Not etlicher Kellerbewohner und Dienstmädchen kennen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0400]
Clara Viebig
Viebigs eigenem Munde, in wie hohem Maße, wie überwältigend Zola auf sie
gewirkt habe, und welche Freude es ihr gewesen sei, sich später einmal in einer
französischen Zeitschrift die beste deutsche Jüngerin des Franzosen genannt zu sehen.
Ein kurzer Vergleich mag zeigen, wie eng diese Verknüpfung zwischen Zolas
und Clara Viebigs Schaffen ist. Zola schildert im „Germinal" einen Zug streitender
Bergarbeiter mit völlig realistischer Deutlichkeit. Dann plötzlich beleuchtet die
untergehende Sonne Weg und Menschen. ^Jors. Ja route sembla cksrrier 6u
SÄNZ, les leinenes, les Kommes Lontinuaient ä galoper, smMants comme clef
boucliors en pleine tuerie . . . Einige Herren und Damen, die den Zug aus ihrem
Versteck betrachten, entsetzen sich. L'soll w vision rouM c!s 1a revolution. Zu
so gewaltiger Allgemeinheit erhebt Zola die armselige Gruppe dieser Streitenden
zu so dichterischer Symbolik erhebt sich sein „roman SLientikique". Hierneben
stelle man nun einen Passus aus Clara Viebigs „Weiberdorf". Die Dichterin
schildert die Zustände in einem armen Eifcldorfe, dessen Männer auswärts ihr
Brot suchen müssen. Die sich selbst überlassenen Frauen halten sich alle an den
einzigen jüngeren Mann des Ortes, an „das Pittchen". Im Nachbardorf war
Tanzfest. Das Pittchen hat zwei Frauen hinführen wollen, doch eine ganze Schar
drängte sich ihm auf. Es wurde dann wild getanzt und getrunken. Der Mann
ist völlig benebelt, als man heimkehrt; die Weiber umdrängen ihn, keine gönnt
ihn der andern, jede will ihn für sich allein haben. Es ist Nacht, der Weg ist
schwierig. „Ein Ungeheuer, vielfüßig, vielköpfig, schiebt sich langsam die Weiber¬
schar bergab. Sie hat den Weg verloren. Über Gestein und Geröll, durch Acker
und Gestrüpp, ohne Pfad wälzt sie sich zu Tal, mit fortreißend, was nicht Kraft
hat, sich zu wehren. Einer Lawine gleich, die verheert und zerstört, furchtbar in
fühlloser Lebendigkeit, unheimlich im unerbittlichen Vorrücken, todbringend in
grausamer Geschlossenheit. .." Auch das ist eine vision rouge, auch hier liegt
eine Verkörperung des weitaus Umfassenderen vor, und die jämmerliche Schar
der Weiber aus der Eifel ist vergessen wie jene Gruppe streitender Arbeiter. Hier
ist der bis zur Vernichtung grausame Trieb selber dichterisch dargestellt, wie dort
die Revolution, und beide Bilder sind in genau übereinstimmender Technik gewonnen.
Man rühmt des öftern Clara Viebigs Vielseitigkeit; diese scheint mir gleicher¬
weise aus dem geschilderten Mangel wie Vorzug der Dichterin zu erwachsen. Sie
hat das ungemein scharfe Auge für jeden Zustand und jeden Charakter, sie weiß
im Besonderen das Allgemeine zu erkennen und es mit eigenartiger Kunst dar¬
zustellen. Sie braucht nicht auf das stark subjektive, sozusagen lyrische Erlebnis
zu warten, mit dem sie künstlerisch doch nichts Rechtes anzufangen weiß, und sie
braucht sich nicht über irgendwelche Aufwärtsentwicklungen, an die sie nicht glaubt,
den Kopf zu zerbreche». So vermochte sie denn im Roman wie in der Novelle,
in der sie eben jenen von Zola gewiesenen Weg betreten hat, ohne sichtbare An¬
strengung geographisch zu ihrer heimatlichen Eifel, thematisch zu den Geschlechts¬
dingen mancherlei Neues hinzuzufügen.
In dem umfangreichen Roman „Das tägliche Brot" gab sie ein breites
Gemälde Berliner Großstadtelends. Aber hier gelang es ihr doch wohl nicht so
völlig wie im „Weiberdorf", jene symbolische Erhöhung und Verallgemeinerung
herbeizuführen. Zumeist lernt man weniger das allgemeine Elend des niederen
Volkes als die Not etlicher Kellerbewohner und Dienstmädchen kennen.
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