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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Clara vicbig

wieder fehlte das völlige Gelingen, wieder überwogen die durchaus typisch-modernen
Schilderungen, diesmal aus den Berliner Börsen- und Kunstkreisen. Eine junge,
sehr begabte, doch allzu naive Schriftstellerin kommt nach Berlin, um dort Erfolg
zu finden. Die maßgebende Gesellschaft verhätschelt Elisabeth enthusiastisch und
läßt sie fallen, als sie einen kleinen Vankbeamten heiratet.

Nun könnte man wohl die gelegentlich etwas schablonenhafte Ausführung
dieser Werke daraus erklären, daß der Dichter immer einer gewissen Zeit und
Übung bedürfe, um seiner Besonderheit auf die Spur zu kommen. Aber als die
völlig reife Clara Viebig nach einer Reihe der tüchtigsten Leistungen auf rein
objektivem Gebiet sich wieder einmal in subjektiver Tonart vernehmen ließ, da bot
sie wieder nur etwas schwächeres. Sie widmete die breite Erzählung "Einer
Mutter Sohn" ihrem kleinen Sohn, und ganz offenbar führte sie das Vollgefühl
der eigenen Mutterwürde in die Irre. Die Dichterin schilderte die vergeblichen,
tragisch endenden Bemühungen eines sehr und vielleicht allzu kultivierten Ehe-
Paares um ein proletarisches Adoptivkind. Und sie bauschte nun aus einem per¬
sönlichen und wohl auch aus Augenblicksempfinden heraus diesen Einzelfall zum
typischen Roman auf, derart, als wäre alles erzieherische Einwirken des geistig
Hochstehenden auf den minder Entwickelten unmöglich, sobald die Blutsbande fehlen.

Clara Viebig muß ihr Ich fast ausschalten, sie muß sich mit der Sachlichkeit
des Historikers durchdringen, um wahrhaft Künstlerisches zu schaffen. Wenn von
ihren persönlichen Gefühlen nichts wirksam ist als das Mitleid mit allen Schwachen
und Leidenden, das Verzeihen für jeden Strauchelnden, die Freude an herber
Naturschönheit, wenn dies alles aber nur unter den eigentlichen Worten anklingt
und diese selber nur berichten, rein sachlich das Ergründete berichten, dann einzig,
aber dann auch immer, bietet Clara Niebig Kunstwerke. Das Registrieren dieser
Werke schafft einige Schwierigkeit. Es sind vielleicht mehr geschichtliche und kultur¬
geschichtliche Arbeiten als dichterische. Besonders wenn man den Beruf des
Historikers so hoch faßt, als es die aus den besten Geschichtsdarstellungen ge¬
nommenen Maßstäbe gestatten oder fordern. Da handelt es sich ja auch nicht
nur um den Bericht des Äußerlichen, der Taten und Zustände, da wird vielmehr
auch den seelischen Ursprüngen, den Charakteren nachgegangen, wird auch jedes
Landes und jeder Epoche Atmosphäre mitgezeichnet. Nimmt man als die Besonder¬
heit des Dichters, daß er über das Ausmalen von Zuständen und Charakteren
hinaus Entwicklungen biete, Wege andeute, die aufwärts führen, daß er nicht nur
ein Gestalter, sondern irgendwie auch ein Priester und Prophet sei -- dann ist
Clara Viebig ganz gewiß keine Dichterin. Sie vermag keine Aufwärtsentwicklung
SU schildern, weil sie an keine glaubt; die Seelen ihrer ungemein scharf gezeichneten
Menschen bleiben im wesentlichen immer unverändert, der Ausblick ins Freiere,
Größere, Reinere fehlt immer bei ihr. Aber dennoch besitzt sie eine Kunst, die
über das Gebiet der noch so hoch aufgefaßten Geschichtsschreibung hinausgreift
und eine offenbar rein dichterische ist, die Kunst, einen Einzelfall zu allgemeiner
Bedeutung zu erheben, ihn zum Symbol zu gestalten, sozusagen eine Fackel aus
ihm zu macheu, die über den engen Umkreis des eben beschriebenen Feldes hinaus
ein unabsehbares Gebiet beleuchtet. Diese Kunst ist ihr gewiß eingeborenihrer
bewußt aber wurde sie sich erst durch die Vertiefung in Zolas Werke, deren
Dichterischstes eben in diesem Symbolisieren besteht. Ich habe es aus Clara


Grenzvoten I 1911 49
Clara vicbig

wieder fehlte das völlige Gelingen, wieder überwogen die durchaus typisch-modernen
Schilderungen, diesmal aus den Berliner Börsen- und Kunstkreisen. Eine junge,
sehr begabte, doch allzu naive Schriftstellerin kommt nach Berlin, um dort Erfolg
zu finden. Die maßgebende Gesellschaft verhätschelt Elisabeth enthusiastisch und
läßt sie fallen, als sie einen kleinen Vankbeamten heiratet.

Nun könnte man wohl die gelegentlich etwas schablonenhafte Ausführung
dieser Werke daraus erklären, daß der Dichter immer einer gewissen Zeit und
Übung bedürfe, um seiner Besonderheit auf die Spur zu kommen. Aber als die
völlig reife Clara Viebig nach einer Reihe der tüchtigsten Leistungen auf rein
objektivem Gebiet sich wieder einmal in subjektiver Tonart vernehmen ließ, da bot
sie wieder nur etwas schwächeres. Sie widmete die breite Erzählung „Einer
Mutter Sohn" ihrem kleinen Sohn, und ganz offenbar führte sie das Vollgefühl
der eigenen Mutterwürde in die Irre. Die Dichterin schilderte die vergeblichen,
tragisch endenden Bemühungen eines sehr und vielleicht allzu kultivierten Ehe-
Paares um ein proletarisches Adoptivkind. Und sie bauschte nun aus einem per¬
sönlichen und wohl auch aus Augenblicksempfinden heraus diesen Einzelfall zum
typischen Roman auf, derart, als wäre alles erzieherische Einwirken des geistig
Hochstehenden auf den minder Entwickelten unmöglich, sobald die Blutsbande fehlen.

Clara Viebig muß ihr Ich fast ausschalten, sie muß sich mit der Sachlichkeit
des Historikers durchdringen, um wahrhaft Künstlerisches zu schaffen. Wenn von
ihren persönlichen Gefühlen nichts wirksam ist als das Mitleid mit allen Schwachen
und Leidenden, das Verzeihen für jeden Strauchelnden, die Freude an herber
Naturschönheit, wenn dies alles aber nur unter den eigentlichen Worten anklingt
und diese selber nur berichten, rein sachlich das Ergründete berichten, dann einzig,
aber dann auch immer, bietet Clara Niebig Kunstwerke. Das Registrieren dieser
Werke schafft einige Schwierigkeit. Es sind vielleicht mehr geschichtliche und kultur¬
geschichtliche Arbeiten als dichterische. Besonders wenn man den Beruf des
Historikers so hoch faßt, als es die aus den besten Geschichtsdarstellungen ge¬
nommenen Maßstäbe gestatten oder fordern. Da handelt es sich ja auch nicht
nur um den Bericht des Äußerlichen, der Taten und Zustände, da wird vielmehr
auch den seelischen Ursprüngen, den Charakteren nachgegangen, wird auch jedes
Landes und jeder Epoche Atmosphäre mitgezeichnet. Nimmt man als die Besonder¬
heit des Dichters, daß er über das Ausmalen von Zuständen und Charakteren
hinaus Entwicklungen biete, Wege andeute, die aufwärts führen, daß er nicht nur
ein Gestalter, sondern irgendwie auch ein Priester und Prophet sei — dann ist
Clara Viebig ganz gewiß keine Dichterin. Sie vermag keine Aufwärtsentwicklung
SU schildern, weil sie an keine glaubt; die Seelen ihrer ungemein scharf gezeichneten
Menschen bleiben im wesentlichen immer unverändert, der Ausblick ins Freiere,
Größere, Reinere fehlt immer bei ihr. Aber dennoch besitzt sie eine Kunst, die
über das Gebiet der noch so hoch aufgefaßten Geschichtsschreibung hinausgreift
und eine offenbar rein dichterische ist, die Kunst, einen Einzelfall zu allgemeiner
Bedeutung zu erheben, ihn zum Symbol zu gestalten, sozusagen eine Fackel aus
ihm zu macheu, die über den engen Umkreis des eben beschriebenen Feldes hinaus
ein unabsehbares Gebiet beleuchtet. Diese Kunst ist ihr gewiß eingeborenihrer
bewußt aber wurde sie sich erst durch die Vertiefung in Zolas Werke, deren
Dichterischstes eben in diesem Symbolisieren besteht. Ich habe es aus Clara


Grenzvoten I 1911 49
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/399>, abgerufen am 28.12.2024.