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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Clara viebig

Jan Witotzki sah sich bedächtig nach derselben um. Dann schlenkerte er das
Rasiermesser ab, säuberte es an dem Ärmel seines Uniformrocks und nahm dein
Verdutzten die Serviette vom Halse.

"Aber, mein Lieber, so machen Sie doch weiterI" rief der Beamte.

"Das darf ich nicht, wohlgeborener Herr Postinspektor. Nach neueren Be¬
stimmungen nutz ich Punkt 2 Uhr meinen Bestellgang antreten -- und es hat
eben geschlagen."

Damit warf er die verhaßte Ledertasche über die Schulter und verließ daS
Dienstzimmer. Der Postinspektor bekam die andere Hälfte seines Antlitzes erst
abends in der Stadt gesäubert.

Jetzt ist Jan Witotzki gestorben. Was es da oben auch zu tun geben mag --
ich setze das Vertrauen in ihn, datz er sich auch dort unentbehrlich machen wird.




Llara Viebig
Victor Ale mxerc von

HM! s ist immerfort die Rede von der besonderen Subjektivität der Frauen
eine größere Objektivität aber, als sie zwei gegenwärtigen deutschen
Dichterinnen eignet, scheint kaum denkbar. Zwar die Objektivität
Ricarda Huchs ließe sich wohl in Zweifel ziehen, weil sich in dieser
I Dichterin zwei Geistesströmungen unaufhörlich bekämpfen, weil die
klassisch, wissenschaftlich und historisch Gerichtete zugleich leidenschaftlich an roman¬
tische Willkür hingegeben ist und bisweilen das Sachlichste mit bunter Romantik
schmückt, um dann aber auch wieder inmitten kapriziösester Phantasiegebilde ihr
durchaus objektives Denken zu bewähren. Dagegen ist Clara Viebig so ganz auf
das Objektive gestellt, daß sie im Subjektiven geradezu versagt.

Ihre ersten Romane, die sozusagen innerliche Autobiographien sind, entbehren
des eigenen Gepräges, bringen kaum etwas anderes, als was in den neunziger
Jahren hundertmal beschrieben wurde. Die Heldin der "Nheinlandstöchter" und
der "Dilettanten des Lebens" ist das moderne Mädchen schlechthin mit seiner
Sehnsucht nach Befreiung aus den Fesseln der Schicklichkeit und Gesellschaftsmoral,
seinem Leben-, Lieben-, Jndividuellseinwollen. Die Lebensdilettantin unterscheidet
sich von der Rheinlandstochter nur dadurch, daß sie außer an all diesen heißen
Wünschen noch am Hunger nach Kunst leidet. Beide Mädchen leben in drückender
Enge, jenes kostet die Qualen der Kleinstadt aus, dieses die Not der haltlosen
Bohöme. Clara Viebig, die in Düsseldorf aufwuchs und sich in Berlin zur
Sängerin ausbildete, ehe sie ihren wahren Beruf erkannte, hat gewiß sehr viele
der lebhaften und wohlgelungenen Gesellschaftsschilderungen dieser Bücher mit
Herzensanteil nach eigenem Erleben gemalt. Und doch fehlt überall die Eigenart,
und manchen anderen Verfassernamen könnte man sich aus dem Buchdeckel denken.
Nur eine sachlich gehaltene Episode aus den "Rheinlandstöchtern" -- ein Kapitel
aus dem Eifelhochland -- weist auf die eigentliche Clara Viebig hin. Noch einmal
zeichnete die Dichterin sich selber in ihrem Roman: "Es lebe die Kunst", und


Clara viebig

Jan Witotzki sah sich bedächtig nach derselben um. Dann schlenkerte er das
Rasiermesser ab, säuberte es an dem Ärmel seines Uniformrocks und nahm dein
Verdutzten die Serviette vom Halse.

„Aber, mein Lieber, so machen Sie doch weiterI" rief der Beamte.

„Das darf ich nicht, wohlgeborener Herr Postinspektor. Nach neueren Be¬
stimmungen nutz ich Punkt 2 Uhr meinen Bestellgang antreten — und es hat
eben geschlagen."

Damit warf er die verhaßte Ledertasche über die Schulter und verließ daS
Dienstzimmer. Der Postinspektor bekam die andere Hälfte seines Antlitzes erst
abends in der Stadt gesäubert.

Jetzt ist Jan Witotzki gestorben. Was es da oben auch zu tun geben mag —
ich setze das Vertrauen in ihn, datz er sich auch dort unentbehrlich machen wird.




Llara Viebig
Victor Ale mxerc von

HM! s ist immerfort die Rede von der besonderen Subjektivität der Frauen
eine größere Objektivität aber, als sie zwei gegenwärtigen deutschen
Dichterinnen eignet, scheint kaum denkbar. Zwar die Objektivität
Ricarda Huchs ließe sich wohl in Zweifel ziehen, weil sich in dieser
I Dichterin zwei Geistesströmungen unaufhörlich bekämpfen, weil die
klassisch, wissenschaftlich und historisch Gerichtete zugleich leidenschaftlich an roman¬
tische Willkür hingegeben ist und bisweilen das Sachlichste mit bunter Romantik
schmückt, um dann aber auch wieder inmitten kapriziösester Phantasiegebilde ihr
durchaus objektives Denken zu bewähren. Dagegen ist Clara Viebig so ganz auf
das Objektive gestellt, daß sie im Subjektiven geradezu versagt.

Ihre ersten Romane, die sozusagen innerliche Autobiographien sind, entbehren
des eigenen Gepräges, bringen kaum etwas anderes, als was in den neunziger
Jahren hundertmal beschrieben wurde. Die Heldin der „Nheinlandstöchter" und
der „Dilettanten des Lebens" ist das moderne Mädchen schlechthin mit seiner
Sehnsucht nach Befreiung aus den Fesseln der Schicklichkeit und Gesellschaftsmoral,
seinem Leben-, Lieben-, Jndividuellseinwollen. Die Lebensdilettantin unterscheidet
sich von der Rheinlandstochter nur dadurch, daß sie außer an all diesen heißen
Wünschen noch am Hunger nach Kunst leidet. Beide Mädchen leben in drückender
Enge, jenes kostet die Qualen der Kleinstadt aus, dieses die Not der haltlosen
Bohöme. Clara Viebig, die in Düsseldorf aufwuchs und sich in Berlin zur
Sängerin ausbildete, ehe sie ihren wahren Beruf erkannte, hat gewiß sehr viele
der lebhaften und wohlgelungenen Gesellschaftsschilderungen dieser Bücher mit
Herzensanteil nach eigenem Erleben gemalt. Und doch fehlt überall die Eigenart,
und manchen anderen Verfassernamen könnte man sich aus dem Buchdeckel denken.
Nur eine sachlich gehaltene Episode aus den „Rheinlandstöchtern" — ein Kapitel
aus dem Eifelhochland — weist auf die eigentliche Clara Viebig hin. Noch einmal
zeichnete die Dichterin sich selber in ihrem Roman: „Es lebe die Kunst", und


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[0398] Clara viebig Jan Witotzki sah sich bedächtig nach derselben um. Dann schlenkerte er das Rasiermesser ab, säuberte es an dem Ärmel seines Uniformrocks und nahm dein Verdutzten die Serviette vom Halse. „Aber, mein Lieber, so machen Sie doch weiterI" rief der Beamte. „Das darf ich nicht, wohlgeborener Herr Postinspektor. Nach neueren Be¬ stimmungen nutz ich Punkt 2 Uhr meinen Bestellgang antreten — und es hat eben geschlagen." Damit warf er die verhaßte Ledertasche über die Schulter und verließ daS Dienstzimmer. Der Postinspektor bekam die andere Hälfte seines Antlitzes erst abends in der Stadt gesäubert. Jetzt ist Jan Witotzki gestorben. Was es da oben auch zu tun geben mag — ich setze das Vertrauen in ihn, datz er sich auch dort unentbehrlich machen wird. Llara Viebig Victor Ale mxerc von HM! s ist immerfort die Rede von der besonderen Subjektivität der Frauen eine größere Objektivität aber, als sie zwei gegenwärtigen deutschen Dichterinnen eignet, scheint kaum denkbar. Zwar die Objektivität Ricarda Huchs ließe sich wohl in Zweifel ziehen, weil sich in dieser I Dichterin zwei Geistesströmungen unaufhörlich bekämpfen, weil die klassisch, wissenschaftlich und historisch Gerichtete zugleich leidenschaftlich an roman¬ tische Willkür hingegeben ist und bisweilen das Sachlichste mit bunter Romantik schmückt, um dann aber auch wieder inmitten kapriziösester Phantasiegebilde ihr durchaus objektives Denken zu bewähren. Dagegen ist Clara Viebig so ganz auf das Objektive gestellt, daß sie im Subjektiven geradezu versagt. Ihre ersten Romane, die sozusagen innerliche Autobiographien sind, entbehren des eigenen Gepräges, bringen kaum etwas anderes, als was in den neunziger Jahren hundertmal beschrieben wurde. Die Heldin der „Nheinlandstöchter" und der „Dilettanten des Lebens" ist das moderne Mädchen schlechthin mit seiner Sehnsucht nach Befreiung aus den Fesseln der Schicklichkeit und Gesellschaftsmoral, seinem Leben-, Lieben-, Jndividuellseinwollen. Die Lebensdilettantin unterscheidet sich von der Rheinlandstochter nur dadurch, daß sie außer an all diesen heißen Wünschen noch am Hunger nach Kunst leidet. Beide Mädchen leben in drückender Enge, jenes kostet die Qualen der Kleinstadt aus, dieses die Not der haltlosen Bohöme. Clara Viebig, die in Düsseldorf aufwuchs und sich in Berlin zur Sängerin ausbildete, ehe sie ihren wahren Beruf erkannte, hat gewiß sehr viele der lebhaften und wohlgelungenen Gesellschaftsschilderungen dieser Bücher mit Herzensanteil nach eigenem Erleben gemalt. Und doch fehlt überall die Eigenart, und manchen anderen Verfassernamen könnte man sich aus dem Buchdeckel denken. Nur eine sachlich gehaltene Episode aus den „Rheinlandstöchtern" — ein Kapitel aus dem Eifelhochland — weist auf die eigentliche Clara Viebig hin. Noch einmal zeichnete die Dichterin sich selber in ihrem Roman: „Es lebe die Kunst", und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/398>, abgerufen am 04.07.2024.