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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Der Unentbehrliche

zuleiten. Nie mehr hätte er mich mitgenommen, und der Umgang mit der
bekanntesten Persönlichkeit des Kreises wäre mir überhaupt abgeschnitten gewesen.

In den Ortschaften seines Bestellbezirks gab es kaum eine Lebensbetntigung,
die ohne Jan Witotzki denkbar gewesen wäre. War er verhindert, so wurden
Kindtaufen abbestellt und Hochzeiten hinausgeschoben. Wer nach Amerika aus>
wandern wollte, holte den Rat des Herrn Witotzki ein, und bei Grenzstreitigkeiten
war er die entscheidende Instanz. Er kannte alle, er wußte alles und machte alles.
Er diente zur Messe und spielte zum Tanz auf-, beim Schweineschlachten war er
ebenso unentbehrlich wie als Festredner; auch hatte er schon kränkliche Dorfschul-
lehrer vertreten und -- die Bezirkshebamine.

Diese vielseitige Betätigung im Dienste des Gemeinwohls brachte es natürlich
mit sich, das; die Bestellgänge nicht mit der wünschenswerten Pünktlichkeit aus¬
geführt wurden. Wenn er nicht annahm, datz die Briefe äußerst Wichtiges ent¬
hielten, trug er sie zwei Tage und länger in der betreffenden Tasche seines Rockfutters.

Natürlich dachte kein Mensch daran, sich zu beschweren, denn Jan Witotzki
war gefährlich in seinem Zorn. Der Schulze von Miasta, der den Alten einmal
einen Narren und einen Schwätzer gescholten hatte, mußte nach zwei Tagen fest¬
stellen, daß sein Viehstand von der Maul- und Klauenseuche befallen war. Erst
nach vielen guten Worten schaffte Jan Witotzki das nötige Weihwasser zur Stelle,
und vor der Beschwörung wies er mit Nachdruck darauf hin, daß mit dieser bösen
Krankheit gemeinhin nur die Ställe solcher Leute befallen werden, die sich irgendwie
mit dem Maule versündigt haben.

Schließlich mußte doch wohl etwas nach oben hin bekannt geworden sein,
denn eines Tages reiste aus der Provinzialhciuptstadt ein höherer Postbeamter an,
der sich Herrn Witotzki vorknöpfte und ihm sehr eindringlich nahelegte, daß die
Pflichten eines Reichsbeamten unter der weitherzigen Auffassung allgemeiner
Menschenpflichten nicht leiden dürften. Es sei ihm unverwehrt, sich so viel Taschen
in das Rockfutter einnahm zu lassen, als ihm irgend beliebe, die amtlichen Post¬
sachen aber seien in der amtlich vorgeschriebenen schwarzen Ledertasche zu tragen!
auch seien fortan pünktlich um 8 Uhr 15 morgens und um 2 Uhr nachmittags
die Bestellgänge anzutreten.

Der Alte stand wie vom Donner gerührt. Die Stahlbrille aus seiner Tomaten-
uase zitterte, und die kleinen, in tiefen Tränensäcken schwimmenden Augen blickten
leblos wie Knöpfe auf den hohen Vorgesetzten. Erst ganz allmählich löste sich der
starre Schreck. Er neigte den Kops auf die rechte Schulter und sagte zwischen
Vertraulichkeit und Mißbilligung:

"Aber der wohlgeborene Herr Postinspektor sind nicht rasiert, wie ich sehe --"

"Allerdings/' erwiderte der Beamte lächelnd, indem er sein Kinn rieb, "ich
bin seit vorgestern unterwegs." Und da er dem Alten ein Pflaster auf die Wunde
legen wollte, fügte er hinzu: "Es wäre sehr nett, wenn Sie mich von Ihrer
Kunst profitieren ließen, Witotzki. Ich setze natürlich voraus, daß Sie mir nicht
den Hals abschneiden."

"AberhochmögenderHerrPostinspektor--!"sah:nunzeltederAlte,denKopfschüttelnd.

Gleich darauf war er mit der ersten Klasse seines Rafierzeugs im Gange --
und er hatte dem Vorgesetzten gerade die eine Hälfte des Gesichts kunstgerecht
abgeschabt, als die Uhr im Dienstzimmer schlug.


Der Unentbehrliche

zuleiten. Nie mehr hätte er mich mitgenommen, und der Umgang mit der
bekanntesten Persönlichkeit des Kreises wäre mir überhaupt abgeschnitten gewesen.

In den Ortschaften seines Bestellbezirks gab es kaum eine Lebensbetntigung,
die ohne Jan Witotzki denkbar gewesen wäre. War er verhindert, so wurden
Kindtaufen abbestellt und Hochzeiten hinausgeschoben. Wer nach Amerika aus>
wandern wollte, holte den Rat des Herrn Witotzki ein, und bei Grenzstreitigkeiten
war er die entscheidende Instanz. Er kannte alle, er wußte alles und machte alles.
Er diente zur Messe und spielte zum Tanz auf-, beim Schweineschlachten war er
ebenso unentbehrlich wie als Festredner; auch hatte er schon kränkliche Dorfschul-
lehrer vertreten und — die Bezirkshebamine.

Diese vielseitige Betätigung im Dienste des Gemeinwohls brachte es natürlich
mit sich, das; die Bestellgänge nicht mit der wünschenswerten Pünktlichkeit aus¬
geführt wurden. Wenn er nicht annahm, datz die Briefe äußerst Wichtiges ent¬
hielten, trug er sie zwei Tage und länger in der betreffenden Tasche seines Rockfutters.

Natürlich dachte kein Mensch daran, sich zu beschweren, denn Jan Witotzki
war gefährlich in seinem Zorn. Der Schulze von Miasta, der den Alten einmal
einen Narren und einen Schwätzer gescholten hatte, mußte nach zwei Tagen fest¬
stellen, daß sein Viehstand von der Maul- und Klauenseuche befallen war. Erst
nach vielen guten Worten schaffte Jan Witotzki das nötige Weihwasser zur Stelle,
und vor der Beschwörung wies er mit Nachdruck darauf hin, daß mit dieser bösen
Krankheit gemeinhin nur die Ställe solcher Leute befallen werden, die sich irgendwie
mit dem Maule versündigt haben.

Schließlich mußte doch wohl etwas nach oben hin bekannt geworden sein,
denn eines Tages reiste aus der Provinzialhciuptstadt ein höherer Postbeamter an,
der sich Herrn Witotzki vorknöpfte und ihm sehr eindringlich nahelegte, daß die
Pflichten eines Reichsbeamten unter der weitherzigen Auffassung allgemeiner
Menschenpflichten nicht leiden dürften. Es sei ihm unverwehrt, sich so viel Taschen
in das Rockfutter einnahm zu lassen, als ihm irgend beliebe, die amtlichen Post¬
sachen aber seien in der amtlich vorgeschriebenen schwarzen Ledertasche zu tragen!
auch seien fortan pünktlich um 8 Uhr 15 morgens und um 2 Uhr nachmittags
die Bestellgänge anzutreten.

Der Alte stand wie vom Donner gerührt. Die Stahlbrille aus seiner Tomaten-
uase zitterte, und die kleinen, in tiefen Tränensäcken schwimmenden Augen blickten
leblos wie Knöpfe auf den hohen Vorgesetzten. Erst ganz allmählich löste sich der
starre Schreck. Er neigte den Kops auf die rechte Schulter und sagte zwischen
Vertraulichkeit und Mißbilligung:

„Aber der wohlgeborene Herr Postinspektor sind nicht rasiert, wie ich sehe —"

„Allerdings/' erwiderte der Beamte lächelnd, indem er sein Kinn rieb, „ich
bin seit vorgestern unterwegs." Und da er dem Alten ein Pflaster auf die Wunde
legen wollte, fügte er hinzu: „Es wäre sehr nett, wenn Sie mich von Ihrer
Kunst profitieren ließen, Witotzki. Ich setze natürlich voraus, daß Sie mir nicht
den Hals abschneiden."

„AberhochmögenderHerrPostinspektor—!"sah:nunzeltederAlte,denKopfschüttelnd.

Gleich darauf war er mit der ersten Klasse seines Rafierzeugs im Gange —
und er hatte dem Vorgesetzten gerade die eine Hälfte des Gesichts kunstgerecht
abgeschabt, als die Uhr im Dienstzimmer schlug.


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[0397] Der Unentbehrliche zuleiten. Nie mehr hätte er mich mitgenommen, und der Umgang mit der bekanntesten Persönlichkeit des Kreises wäre mir überhaupt abgeschnitten gewesen. In den Ortschaften seines Bestellbezirks gab es kaum eine Lebensbetntigung, die ohne Jan Witotzki denkbar gewesen wäre. War er verhindert, so wurden Kindtaufen abbestellt und Hochzeiten hinausgeschoben. Wer nach Amerika aus> wandern wollte, holte den Rat des Herrn Witotzki ein, und bei Grenzstreitigkeiten war er die entscheidende Instanz. Er kannte alle, er wußte alles und machte alles. Er diente zur Messe und spielte zum Tanz auf-, beim Schweineschlachten war er ebenso unentbehrlich wie als Festredner; auch hatte er schon kränkliche Dorfschul- lehrer vertreten und — die Bezirkshebamine. Diese vielseitige Betätigung im Dienste des Gemeinwohls brachte es natürlich mit sich, das; die Bestellgänge nicht mit der wünschenswerten Pünktlichkeit aus¬ geführt wurden. Wenn er nicht annahm, datz die Briefe äußerst Wichtiges ent¬ hielten, trug er sie zwei Tage und länger in der betreffenden Tasche seines Rockfutters. Natürlich dachte kein Mensch daran, sich zu beschweren, denn Jan Witotzki war gefährlich in seinem Zorn. Der Schulze von Miasta, der den Alten einmal einen Narren und einen Schwätzer gescholten hatte, mußte nach zwei Tagen fest¬ stellen, daß sein Viehstand von der Maul- und Klauenseuche befallen war. Erst nach vielen guten Worten schaffte Jan Witotzki das nötige Weihwasser zur Stelle, und vor der Beschwörung wies er mit Nachdruck darauf hin, daß mit dieser bösen Krankheit gemeinhin nur die Ställe solcher Leute befallen werden, die sich irgendwie mit dem Maule versündigt haben. Schließlich mußte doch wohl etwas nach oben hin bekannt geworden sein, denn eines Tages reiste aus der Provinzialhciuptstadt ein höherer Postbeamter an, der sich Herrn Witotzki vorknöpfte und ihm sehr eindringlich nahelegte, daß die Pflichten eines Reichsbeamten unter der weitherzigen Auffassung allgemeiner Menschenpflichten nicht leiden dürften. Es sei ihm unverwehrt, sich so viel Taschen in das Rockfutter einnahm zu lassen, als ihm irgend beliebe, die amtlichen Post¬ sachen aber seien in der amtlich vorgeschriebenen schwarzen Ledertasche zu tragen! auch seien fortan pünktlich um 8 Uhr 15 morgens und um 2 Uhr nachmittags die Bestellgänge anzutreten. Der Alte stand wie vom Donner gerührt. Die Stahlbrille aus seiner Tomaten- uase zitterte, und die kleinen, in tiefen Tränensäcken schwimmenden Augen blickten leblos wie Knöpfe auf den hohen Vorgesetzten. Erst ganz allmählich löste sich der starre Schreck. Er neigte den Kops auf die rechte Schulter und sagte zwischen Vertraulichkeit und Mißbilligung: „Aber der wohlgeborene Herr Postinspektor sind nicht rasiert, wie ich sehe —" „Allerdings/' erwiderte der Beamte lächelnd, indem er sein Kinn rieb, „ich bin seit vorgestern unterwegs." Und da er dem Alten ein Pflaster auf die Wunde legen wollte, fügte er hinzu: „Es wäre sehr nett, wenn Sie mich von Ihrer Kunst profitieren ließen, Witotzki. Ich setze natürlich voraus, daß Sie mir nicht den Hals abschneiden." „AberhochmögenderHerrPostinspektor—!"sah:nunzeltederAlte,denKopfschüttelnd. Gleich darauf war er mit der ersten Klasse seines Rafierzeugs im Gange — und er hatte dem Vorgesetzten gerade die eine Hälfte des Gesichts kunstgerecht abgeschabt, als die Uhr im Dienstzimmer schlug.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/397>, abgerufen am 28.12.2024.