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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

geraten sei. Allein wenn man an dem Maßstab der kirchlichen Moral das Leben
und Treiben der Menschen -- auch das der Katholiken -- mißt (die Kriminal¬
statistik z. B. ist für die Katholiken gar nicht günstig): muß da nicht die
Besorgnis auftauchen, daß nur verhältnismäßig wenige vom ewigen Verderben
gerettet werden -- selbst unter den "gläubigen" Katholiken? (Denn wie viele,
die dem Namen nach zur katholischen Kirche zählen, sind "ungläubig" oder
kirchlich indifferent!) Und wie verhält es sich mit den Millionen und aber
Millionen, die nicht dieser Kirche angehörten? Und umfaßt sie nicht auch jetzt
erst einen bescheidenen Bruchteil der Menschheit? Wie steht es da um den
Satz: "extra eLclssiam nulla haln8" (außerhalb der Kirche gibt es kein Heil)?
Entweder man nimmt ihn in seiner eigentlichen Bedeutung: dann zeige man,
wie sich die unverdiente Bevorzugung der innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft
Geborenen mit der Gerechtigkeit Gottes, und wie sich die Verdammnis Unzähliger
mit seiner Güte verträgt! Oder man schwächt jenen Satz ab -- und im Ab¬
schwächen und Andenken waren ja Theologen von jeher Meister --, dann sehe
man sich vor, daß man nicht auch den behaupteten Vorrang der katholischen
Kirche vor allen anderen religiösen Gemeinschaften derart abschwächt, daß er
schließlich verschwindet.

So kommen Zweifel über Zweifel, die immer tiefer bohren; mannigfache
Lebenserfahrungen aber unterstützen ihre Wirksamkeit. Der junge Katholik lernt
etwa innerlich gereifte und sittlich hochstehende Persönlichkeiten kennen, die seinen
Glauben nicht teilen, ja es vielleicht für ihre Pflicht ansehen, ihn zu bekämpfen.
Auch wird er mehr und mehr von einer Literatur, einer Presse berührt, der die
katholische Kirche als eine Institution gilt, die bestenfalls noch für die breite
Masse der ewig Unmündigen einigen Wert habe, die aber diejenigen nicht mehr
fassen könne, die zu innerer Freiheit und geistiger Selbständigkeit gelangt sind.
Er wird endlich inne, daß das sogenannte moderne Geistesleben, das ihm in
der Schule, auf der Universität, im Leben entgegentritt und vielfach gewinnend
und imponierend entgegentritt, sich zumeist außerhalb der Kirche, ja oft im
Kampfe mit ihr entwickelt hat.

Wenn nun so vieles auf den jungen Katholiken einstürmt, was ihm Be¬
denken gegen die Wahrheit seines Glaubens zu erregen vermag: wie hat er sich
demgegenüber nach der Vorschrift der Kirche zu verhalten? Er soll vor allem
Gott inständig bitten, daß er ihm die Gnade des Glaubens weiterhin schenke,
und er soll durch ein frommes und sittliches Leben sich dessen würdig zu machen
suchen; er darf aber auch, ja er soll Belehrung suchen über seine Zweifel --
bei feinen: Seelsorger, in der katholischen apologetischen Literatur. Eines aber
darf er nicht: er darf es nie als möglich ansehen, daß seine Bedenken sich nicht
sachlich widerlegen ließen; er muß von vornherein unverbrüchlich daran fest¬
halten, daß alles, was die katholische Kirche als Glaubensinhalt lehrt, in vollsten:
Sinne "wahr" sei. Freiwilliger Zweifel am Glauben ist schwere Sünde: das
wird ihm in dem Religionsunterricht eingeschärft. Jede Beichte, jeder Empfang


Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

geraten sei. Allein wenn man an dem Maßstab der kirchlichen Moral das Leben
und Treiben der Menschen — auch das der Katholiken — mißt (die Kriminal¬
statistik z. B. ist für die Katholiken gar nicht günstig): muß da nicht die
Besorgnis auftauchen, daß nur verhältnismäßig wenige vom ewigen Verderben
gerettet werden — selbst unter den „gläubigen" Katholiken? (Denn wie viele,
die dem Namen nach zur katholischen Kirche zählen, sind „ungläubig" oder
kirchlich indifferent!) Und wie verhält es sich mit den Millionen und aber
Millionen, die nicht dieser Kirche angehörten? Und umfaßt sie nicht auch jetzt
erst einen bescheidenen Bruchteil der Menschheit? Wie steht es da um den
Satz: „extra eLclssiam nulla haln8" (außerhalb der Kirche gibt es kein Heil)?
Entweder man nimmt ihn in seiner eigentlichen Bedeutung: dann zeige man,
wie sich die unverdiente Bevorzugung der innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft
Geborenen mit der Gerechtigkeit Gottes, und wie sich die Verdammnis Unzähliger
mit seiner Güte verträgt! Oder man schwächt jenen Satz ab — und im Ab¬
schwächen und Andenken waren ja Theologen von jeher Meister —, dann sehe
man sich vor, daß man nicht auch den behaupteten Vorrang der katholischen
Kirche vor allen anderen religiösen Gemeinschaften derart abschwächt, daß er
schließlich verschwindet.

So kommen Zweifel über Zweifel, die immer tiefer bohren; mannigfache
Lebenserfahrungen aber unterstützen ihre Wirksamkeit. Der junge Katholik lernt
etwa innerlich gereifte und sittlich hochstehende Persönlichkeiten kennen, die seinen
Glauben nicht teilen, ja es vielleicht für ihre Pflicht ansehen, ihn zu bekämpfen.
Auch wird er mehr und mehr von einer Literatur, einer Presse berührt, der die
katholische Kirche als eine Institution gilt, die bestenfalls noch für die breite
Masse der ewig Unmündigen einigen Wert habe, die aber diejenigen nicht mehr
fassen könne, die zu innerer Freiheit und geistiger Selbständigkeit gelangt sind.
Er wird endlich inne, daß das sogenannte moderne Geistesleben, das ihm in
der Schule, auf der Universität, im Leben entgegentritt und vielfach gewinnend
und imponierend entgegentritt, sich zumeist außerhalb der Kirche, ja oft im
Kampfe mit ihr entwickelt hat.

Wenn nun so vieles auf den jungen Katholiken einstürmt, was ihm Be¬
denken gegen die Wahrheit seines Glaubens zu erregen vermag: wie hat er sich
demgegenüber nach der Vorschrift der Kirche zu verhalten? Er soll vor allem
Gott inständig bitten, daß er ihm die Gnade des Glaubens weiterhin schenke,
und er soll durch ein frommes und sittliches Leben sich dessen würdig zu machen
suchen; er darf aber auch, ja er soll Belehrung suchen über seine Zweifel —
bei feinen: Seelsorger, in der katholischen apologetischen Literatur. Eines aber
darf er nicht: er darf es nie als möglich ansehen, daß seine Bedenken sich nicht
sachlich widerlegen ließen; er muß von vornherein unverbrüchlich daran fest¬
halten, daß alles, was die katholische Kirche als Glaubensinhalt lehrt, in vollsten:
Sinne „wahr" sei. Freiwilliger Zweifel am Glauben ist schwere Sünde: das
wird ihm in dem Religionsunterricht eingeschärft. Jede Beichte, jeder Empfang


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[0369] Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens geraten sei. Allein wenn man an dem Maßstab der kirchlichen Moral das Leben und Treiben der Menschen — auch das der Katholiken — mißt (die Kriminal¬ statistik z. B. ist für die Katholiken gar nicht günstig): muß da nicht die Besorgnis auftauchen, daß nur verhältnismäßig wenige vom ewigen Verderben gerettet werden — selbst unter den „gläubigen" Katholiken? (Denn wie viele, die dem Namen nach zur katholischen Kirche zählen, sind „ungläubig" oder kirchlich indifferent!) Und wie verhält es sich mit den Millionen und aber Millionen, die nicht dieser Kirche angehörten? Und umfaßt sie nicht auch jetzt erst einen bescheidenen Bruchteil der Menschheit? Wie steht es da um den Satz: „extra eLclssiam nulla haln8" (außerhalb der Kirche gibt es kein Heil)? Entweder man nimmt ihn in seiner eigentlichen Bedeutung: dann zeige man, wie sich die unverdiente Bevorzugung der innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft Geborenen mit der Gerechtigkeit Gottes, und wie sich die Verdammnis Unzähliger mit seiner Güte verträgt! Oder man schwächt jenen Satz ab — und im Ab¬ schwächen und Andenken waren ja Theologen von jeher Meister —, dann sehe man sich vor, daß man nicht auch den behaupteten Vorrang der katholischen Kirche vor allen anderen religiösen Gemeinschaften derart abschwächt, daß er schließlich verschwindet. So kommen Zweifel über Zweifel, die immer tiefer bohren; mannigfache Lebenserfahrungen aber unterstützen ihre Wirksamkeit. Der junge Katholik lernt etwa innerlich gereifte und sittlich hochstehende Persönlichkeiten kennen, die seinen Glauben nicht teilen, ja es vielleicht für ihre Pflicht ansehen, ihn zu bekämpfen. Auch wird er mehr und mehr von einer Literatur, einer Presse berührt, der die katholische Kirche als eine Institution gilt, die bestenfalls noch für die breite Masse der ewig Unmündigen einigen Wert habe, die aber diejenigen nicht mehr fassen könne, die zu innerer Freiheit und geistiger Selbständigkeit gelangt sind. Er wird endlich inne, daß das sogenannte moderne Geistesleben, das ihm in der Schule, auf der Universität, im Leben entgegentritt und vielfach gewinnend und imponierend entgegentritt, sich zumeist außerhalb der Kirche, ja oft im Kampfe mit ihr entwickelt hat. Wenn nun so vieles auf den jungen Katholiken einstürmt, was ihm Be¬ denken gegen die Wahrheit seines Glaubens zu erregen vermag: wie hat er sich demgegenüber nach der Vorschrift der Kirche zu verhalten? Er soll vor allem Gott inständig bitten, daß er ihm die Gnade des Glaubens weiterhin schenke, und er soll durch ein frommes und sittliches Leben sich dessen würdig zu machen suchen; er darf aber auch, ja er soll Belehrung suchen über seine Zweifel — bei feinen: Seelsorger, in der katholischen apologetischen Literatur. Eines aber darf er nicht: er darf es nie als möglich ansehen, daß seine Bedenken sich nicht sachlich widerlegen ließen; er muß von vornherein unverbrüchlich daran fest¬ halten, daß alles, was die katholische Kirche als Glaubensinhalt lehrt, in vollsten: Sinne „wahr" sei. Freiwilliger Zweifel am Glauben ist schwere Sünde: das wird ihm in dem Religionsunterricht eingeschärft. Jede Beichte, jeder Empfang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/369>, abgerufen am 29.12.2024.