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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Lin neues Begnadigungsrecht

Versuch (Z 7" Abs. 2), bei der Beihilfe (H 79), bei der falschen uneidlichen
Aussage (Z 168 Abs. 3), bei der leichten Körperverletzung (Z 227), bei der
Beleidigung (Z 259), bei der Entwertung (Z 272) und bei allen Übertretungen
(8 310 Abs. 1).

Es läßt sich annehmen, daß dieser Vorschlag, falls er Gesetz wird, die
breite Masse des Volkes treffen und ein weites Anwendungsgebiet finden wird.
Für den Richter aber bedeutet dieser Flügelschlag der neuen Zeit eine außer¬
ordentliche Erweiterung seines freien Ermessens und darum auch seiner Macht¬
befugnisse, die wohl dazu geeignet ist, das Vertrauen zur Rechtspflege zu kräftigen.

Vor 162 Jahren schrieb Montesquieu in seinem weltberühmten Werke
"ve l'espnt c!e8 lois" (livre XI c. ü):

,,I^e8 juZes la Nation us 8vnd que la boucne, qui pronones Je8
petrole8 cle la loi, cle8 eel-s8 marin63, qui n'en peuvent mociöi-er, ni la
loi'Lo, ni la nZueur."

Wenn es auch für die heutige Zeit nicht mehr zutrifft, daß der Richter
lediglich das Mundstück des Gesetzgebers und ein sozusagen unbeseeltes Wesen,
d. h. ein mechanisch funktionierender Apparat ist, so ist es doch gewiß auch
heute wahr, daß schlechte Urteile vielfach nicht seine Schuld, sondern die einer
mangelhaften Gesetzgebung sind. Namentlich hat die Unzufriedenheit der öffent¬
lichen Meinung mit vielen strafgerichtlichen Urteilen viel seltener ihren Grund
in der angeblichen Weltfremdheit und Rückständigkeit der Richter, als darin,
daß das Gesetz diesen nicht die nötige Freiheit in der Wahl und der Bemessung
der Strafen einräumt. Nicht den Richter, fondern das Gesetz klage man daher
an. Nicht mit Unrecht sagt der um die Strafrechtswissenschaft hochverdiente
Tübinger Universitätsprofessor Frank: "Der deutsche Richter, wenigstens der
Strafrichter, ist der Prügelknabe einer schlechten Gesetzgebung."

Viele Klagen dieser Art werden verstummen, wenn das neue Begnadigungs¬
recht Gesetz wird.

Der dankenswerte und großzügige Vorschlag ist indes nicht ohne vereinzelten
Widerspruch geblieben. Ein süddeutscher Rechtsgelehrter und ein reichsdeutscher
Richter haben warnend dagegen ihre Stimmen erhoben. In Ur. 534 der
"Münchener Neuesten Nachrichten" von 1909 hat der Universitätsprofessor
von Birkmeuer aus München und in Ur. 1 der "Deutschen Richterzeitung"
von 1910 der Oberlandesgerichtsrat Oppler aus Kolmar i. E. schwere Bedenken
dagegen geltend gemacht. Ersterer befürchtet, es werde mit dem neuen Be¬
gnadigungsrecht dem Richter eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet, letzterer,
daß das Verfahren des Richters bei Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen
der Straflosigkeit nach außen den Anschein der Willkür erwecken würde, weil
es sich lediglich nach Zweckmäßigkeitsgründen zu bestimmen habe.

Ich meine, der Richter wird für die ihm von dem Gesetzgeber gewährte
Erweiterung seiner Vollmachten das gesteigerte Maß seiner Verantwortlichkeit
gern auf sich nehmen, weil er dadurch in gleichem Maße an Kraft, Ansehen


Lin neues Begnadigungsrecht

Versuch (Z 7« Abs. 2), bei der Beihilfe (H 79), bei der falschen uneidlichen
Aussage (Z 168 Abs. 3), bei der leichten Körperverletzung (Z 227), bei der
Beleidigung (Z 259), bei der Entwertung (Z 272) und bei allen Übertretungen
(8 310 Abs. 1).

Es läßt sich annehmen, daß dieser Vorschlag, falls er Gesetz wird, die
breite Masse des Volkes treffen und ein weites Anwendungsgebiet finden wird.
Für den Richter aber bedeutet dieser Flügelschlag der neuen Zeit eine außer¬
ordentliche Erweiterung seines freien Ermessens und darum auch seiner Macht¬
befugnisse, die wohl dazu geeignet ist, das Vertrauen zur Rechtspflege zu kräftigen.

Vor 162 Jahren schrieb Montesquieu in seinem weltberühmten Werke
„ve l'espnt c!e8 lois" (livre XI c. ü):

,,I^e8 juZes la Nation us 8vnd que la boucne, qui pronones Je8
petrole8 cle la loi, cle8 eel-s8 marin63, qui n'en peuvent mociöi-er, ni la
loi'Lo, ni la nZueur."

Wenn es auch für die heutige Zeit nicht mehr zutrifft, daß der Richter
lediglich das Mundstück des Gesetzgebers und ein sozusagen unbeseeltes Wesen,
d. h. ein mechanisch funktionierender Apparat ist, so ist es doch gewiß auch
heute wahr, daß schlechte Urteile vielfach nicht seine Schuld, sondern die einer
mangelhaften Gesetzgebung sind. Namentlich hat die Unzufriedenheit der öffent¬
lichen Meinung mit vielen strafgerichtlichen Urteilen viel seltener ihren Grund
in der angeblichen Weltfremdheit und Rückständigkeit der Richter, als darin,
daß das Gesetz diesen nicht die nötige Freiheit in der Wahl und der Bemessung
der Strafen einräumt. Nicht den Richter, fondern das Gesetz klage man daher
an. Nicht mit Unrecht sagt der um die Strafrechtswissenschaft hochverdiente
Tübinger Universitätsprofessor Frank: „Der deutsche Richter, wenigstens der
Strafrichter, ist der Prügelknabe einer schlechten Gesetzgebung."

Viele Klagen dieser Art werden verstummen, wenn das neue Begnadigungs¬
recht Gesetz wird.

Der dankenswerte und großzügige Vorschlag ist indes nicht ohne vereinzelten
Widerspruch geblieben. Ein süddeutscher Rechtsgelehrter und ein reichsdeutscher
Richter haben warnend dagegen ihre Stimmen erhoben. In Ur. 534 der
„Münchener Neuesten Nachrichten" von 1909 hat der Universitätsprofessor
von Birkmeuer aus München und in Ur. 1 der „Deutschen Richterzeitung"
von 1910 der Oberlandesgerichtsrat Oppler aus Kolmar i. E. schwere Bedenken
dagegen geltend gemacht. Ersterer befürchtet, es werde mit dem neuen Be¬
gnadigungsrecht dem Richter eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet, letzterer,
daß das Verfahren des Richters bei Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen
der Straflosigkeit nach außen den Anschein der Willkür erwecken würde, weil
es sich lediglich nach Zweckmäßigkeitsgründen zu bestimmen habe.

Ich meine, der Richter wird für die ihm von dem Gesetzgeber gewährte
Erweiterung seiner Vollmachten das gesteigerte Maß seiner Verantwortlichkeit
gern auf sich nehmen, weil er dadurch in gleichem Maße an Kraft, Ansehen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/35>, abgerufen am 24.07.2024.