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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Lin neues Begnadigungsrecht

andeutungsweise gedacht werden. Es soll hier die öffentliche Aufmerksamkeit
nur auf eine einschneidende Neuerung gelenkt werden, die darin besteht, daß
der Richter in besonders leichten Fällen von einer Strafe ganz soll absehen
können.

Die Zubilligung völliger Straffreiheit trotz festgestellter Schuld in diesen:
Sinne bedeutet etwas in der neueren deutschen Rechtspflege noch nicht Dagewesenes.
Es wird damit dem Richter für die Fälle, die der Entwurf im Auge hat, das
Recht der Begnadigung eingeräumt, das bisher nur der Krone zustand. Wohl¬
bewußt und absichtlich will der Entwurf hier dem Richter ein besonders weit¬
gehendes Vertrauen schenken, eine für außergewöhnlich mild liegende Fälle
berechnete, diskretionäre Befugnis.

Der leitende Gedanke hierbei ist die Individualisierung.

Die Rechtsprechung hat die tatsächlichen Lebensverhältnisse in ihren besonderen
Gestaltungen und Eigenarten zu berücksichtigen. Die Gesetzgebung schafft die
Regeln und Anleitungen dazu. Das Leben ist aber mächtiger als jede Gesetz¬
gebung; seine Tatsachen gruppieren sich vielfach anders, als der Gesetzgeber es
sich vorstellt. Sie schießen zu verwickelten und immer verwickelteren Formen
zusammen, deren Vielgestaltigkeit der Kunst des Gesetzgebers spottet. Kein Tat¬
bestand, der ein Eingreifen der öffentlichen Gewalt nötig macht, gleicht einen:
andern so vollständig wie ein El dem andern, und doch muß jeder einzelne
Fall aus sich heraus unter Beachtung aller seiner besonderen Umstände und
Merkmale nach dem nur die allgemeine Regel gebenden Gesetz beurteilt und
entschieden werden. So ereignet es sich häufig, daß den Strafgerichten Ver¬
fehlungen anheimfallen, die zwar das formale Recht verletzen und den Richter
zur Anwendung der dafür angedrohten Strafe zwingen, die aber an und für
sich so geringfügig sind, daß jede Bestrafung deswegen, und sei sie auch die
mildeste, die das Gesetz zuläßt, dem Rechtsbewußtsein des Volkes zuwiderläuft
und insofern als eine Ungerechtigkeit erscheint. Dieser Art von Bestrafungen
will der Entwurf vorbeugen, indem er dem Richter eine größere Individualisierung
der einzelnen Tat ermöglicht und ihn ermächtigt, in ausdrücklich bestimmten,
zahlreichen Fällen, wenn diese besonders leicht sind, von einer Strafe ganz
abzusehen. Ein besonders leichter Fall liegt nach der Begriffsbestimmung des
Entwurfs dann vor, "wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend
sind und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Um¬
ständen entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des
Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde" (Z 83 Abs. 2). Die unter diesen
Voraussetzungen eintretende Strasbefreiungsmöglichkeit, die sich der Natur der
Sache nach als ein richterliches Begnadigungsrecht darstellt, kann insbesondere
stattfinden: beim Strafrechtsirrtum ("hält der Täter die Handlung für erlaubt,
weil er sich über das Strafgesetz irrt", Z 61 Abs. 2), bei der verminderten
Zurechnungsfähigkeit (§ 63 Abs. 2), bei der strafbaren Überschreitung der Not¬
wehr (Z 66 Abs. 2), bei Jugendlichkeit des Täters (§ 69 Abs. 1), beim


Lin neues Begnadigungsrecht

andeutungsweise gedacht werden. Es soll hier die öffentliche Aufmerksamkeit
nur auf eine einschneidende Neuerung gelenkt werden, die darin besteht, daß
der Richter in besonders leichten Fällen von einer Strafe ganz soll absehen
können.

Die Zubilligung völliger Straffreiheit trotz festgestellter Schuld in diesen:
Sinne bedeutet etwas in der neueren deutschen Rechtspflege noch nicht Dagewesenes.
Es wird damit dem Richter für die Fälle, die der Entwurf im Auge hat, das
Recht der Begnadigung eingeräumt, das bisher nur der Krone zustand. Wohl¬
bewußt und absichtlich will der Entwurf hier dem Richter ein besonders weit¬
gehendes Vertrauen schenken, eine für außergewöhnlich mild liegende Fälle
berechnete, diskretionäre Befugnis.

Der leitende Gedanke hierbei ist die Individualisierung.

Die Rechtsprechung hat die tatsächlichen Lebensverhältnisse in ihren besonderen
Gestaltungen und Eigenarten zu berücksichtigen. Die Gesetzgebung schafft die
Regeln und Anleitungen dazu. Das Leben ist aber mächtiger als jede Gesetz¬
gebung; seine Tatsachen gruppieren sich vielfach anders, als der Gesetzgeber es
sich vorstellt. Sie schießen zu verwickelten und immer verwickelteren Formen
zusammen, deren Vielgestaltigkeit der Kunst des Gesetzgebers spottet. Kein Tat¬
bestand, der ein Eingreifen der öffentlichen Gewalt nötig macht, gleicht einen:
andern so vollständig wie ein El dem andern, und doch muß jeder einzelne
Fall aus sich heraus unter Beachtung aller seiner besonderen Umstände und
Merkmale nach dem nur die allgemeine Regel gebenden Gesetz beurteilt und
entschieden werden. So ereignet es sich häufig, daß den Strafgerichten Ver¬
fehlungen anheimfallen, die zwar das formale Recht verletzen und den Richter
zur Anwendung der dafür angedrohten Strafe zwingen, die aber an und für
sich so geringfügig sind, daß jede Bestrafung deswegen, und sei sie auch die
mildeste, die das Gesetz zuläßt, dem Rechtsbewußtsein des Volkes zuwiderläuft
und insofern als eine Ungerechtigkeit erscheint. Dieser Art von Bestrafungen
will der Entwurf vorbeugen, indem er dem Richter eine größere Individualisierung
der einzelnen Tat ermöglicht und ihn ermächtigt, in ausdrücklich bestimmten,
zahlreichen Fällen, wenn diese besonders leicht sind, von einer Strafe ganz
abzusehen. Ein besonders leichter Fall liegt nach der Begriffsbestimmung des
Entwurfs dann vor, „wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend
sind und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Um¬
ständen entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des
Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde" (Z 83 Abs. 2). Die unter diesen
Voraussetzungen eintretende Strasbefreiungsmöglichkeit, die sich der Natur der
Sache nach als ein richterliches Begnadigungsrecht darstellt, kann insbesondere
stattfinden: beim Strafrechtsirrtum („hält der Täter die Handlung für erlaubt,
weil er sich über das Strafgesetz irrt", Z 61 Abs. 2), bei der verminderten
Zurechnungsfähigkeit (§ 63 Abs. 2), bei der strafbaren Überschreitung der Not¬
wehr (Z 66 Abs. 2), bei Jugendlichkeit des Täters (§ 69 Abs. 1), beim


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[0034] Lin neues Begnadigungsrecht andeutungsweise gedacht werden. Es soll hier die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf eine einschneidende Neuerung gelenkt werden, die darin besteht, daß der Richter in besonders leichten Fällen von einer Strafe ganz soll absehen können. Die Zubilligung völliger Straffreiheit trotz festgestellter Schuld in diesen: Sinne bedeutet etwas in der neueren deutschen Rechtspflege noch nicht Dagewesenes. Es wird damit dem Richter für die Fälle, die der Entwurf im Auge hat, das Recht der Begnadigung eingeräumt, das bisher nur der Krone zustand. Wohl¬ bewußt und absichtlich will der Entwurf hier dem Richter ein besonders weit¬ gehendes Vertrauen schenken, eine für außergewöhnlich mild liegende Fälle berechnete, diskretionäre Befugnis. Der leitende Gedanke hierbei ist die Individualisierung. Die Rechtsprechung hat die tatsächlichen Lebensverhältnisse in ihren besonderen Gestaltungen und Eigenarten zu berücksichtigen. Die Gesetzgebung schafft die Regeln und Anleitungen dazu. Das Leben ist aber mächtiger als jede Gesetz¬ gebung; seine Tatsachen gruppieren sich vielfach anders, als der Gesetzgeber es sich vorstellt. Sie schießen zu verwickelten und immer verwickelteren Formen zusammen, deren Vielgestaltigkeit der Kunst des Gesetzgebers spottet. Kein Tat¬ bestand, der ein Eingreifen der öffentlichen Gewalt nötig macht, gleicht einen: andern so vollständig wie ein El dem andern, und doch muß jeder einzelne Fall aus sich heraus unter Beachtung aller seiner besonderen Umstände und Merkmale nach dem nur die allgemeine Regel gebenden Gesetz beurteilt und entschieden werden. So ereignet es sich häufig, daß den Strafgerichten Ver¬ fehlungen anheimfallen, die zwar das formale Recht verletzen und den Richter zur Anwendung der dafür angedrohten Strafe zwingen, die aber an und für sich so geringfügig sind, daß jede Bestrafung deswegen, und sei sie auch die mildeste, die das Gesetz zuläßt, dem Rechtsbewußtsein des Volkes zuwiderläuft und insofern als eine Ungerechtigkeit erscheint. Dieser Art von Bestrafungen will der Entwurf vorbeugen, indem er dem Richter eine größere Individualisierung der einzelnen Tat ermöglicht und ihn ermächtigt, in ausdrücklich bestimmten, zahlreichen Fällen, wenn diese besonders leicht sind, von einer Strafe ganz abzusehen. Ein besonders leichter Fall liegt nach der Begriffsbestimmung des Entwurfs dann vor, „wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Um¬ ständen entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde" (Z 83 Abs. 2). Die unter diesen Voraussetzungen eintretende Strasbefreiungsmöglichkeit, die sich der Natur der Sache nach als ein richterliches Begnadigungsrecht darstellt, kann insbesondere stattfinden: beim Strafrechtsirrtum („hält der Täter die Handlung für erlaubt, weil er sich über das Strafgesetz irrt", Z 61 Abs. 2), bei der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 63 Abs. 2), bei der strafbaren Überschreitung der Not¬ wehr (Z 66 Abs. 2), bei Jugendlichkeit des Täters (§ 69 Abs. 1), beim

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/34>, abgerufen am 28.12.2024.