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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Lin neues Begnadigungsrecht

und Vertrauenswürdigkeit wächst. Denn er selbst hat schwer darunter gelitten,
daß das bisherige Gesetz ihn häufig zwang, Strafen zu verhängen, die er als
nicht angemessen empfand. Kein Geringerer als Fürst Bismarck hat einst im
Reichstage gesagt, als bei Beratung des jetzt geltenden Strafgesetzbuchs über
Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe gestritten wurde, daß die Scheu
vor Verantwortlichkeit ein Zeichen unserer Zeit sei.

Dem zweiten Tadler ist zuzugeben, daß bei Ausübung des neuen Begnadigungs¬
rechts große Verschiedenheiten in der Bewertung gleicher oder ähnlicher Misse¬
taten vorkommen können und daß das eine Gericht vielleicht straflos lassen
werde, was dem andern strafwürdig erscheint. Ebenso verhält es sich aber
auch mit jeder innerhalb eines weiten Rahmens ermöglichten Strafzumessung.
Die Freiheit des richterlichen Ermessens, ohne die sich die höchsten Ziele des
Strafrechts nicht erreichen lassen, darf darum nicht eingeschränkt werden. Die
Gefahr einer ungleichartigen Rechtspflege muß mit dem neuen Begnadigungs¬
recht in den Kauf genommen werden. Denn jede segensreiche neue Freiheit
bringt die Gefahr ihres Mißbrauchs mit sich. Fehlgriffe in der Rechtsprechung
sind durch keine Gesetzesbestimmung auszuschließen. Schon Friedrich der Große
warnte davor, auf neue Gesetze überspannte Hoffnungen zu setzen, mit den
Worten: "I^e8 ano3L8 parfa,nes ne 80ut pÄ8 an re88ort as 1'ruinam'to."

Ein dritter Gegner des Vorschlags hat gefragt, ob denn der Staat das
Recht habe, nicht zu strafen. Darauf ist zu erwidern, daß das Maß der
Anwendung der staatlichen Strafgewalt sich durch Zweckmäßigkeitsrücksichten
bestimmt. Es soll nur da gestraft werden, wo es zum Schutz der Rechts¬
ordnung notwendig ist. I^lullum crimen 8ins IsM und nulla poerm 8me leZe
sind alte Rechtssätze. Einen Satz nullum crimen 8me poorm gibt es nicht.

Die Widersacher des neuen Begnadigungsrechts sind, wie schon gesagt,
nur vereinzelt. Weit überwiegend sind die Zustimmenden. So hat Professor
Kohler in Berlin, zweifellos einer der ersten Rechtsgelehrten unserer Zeit, der
dem Entwurf im ganzen ablehnend gegenübersteht, für das neue Begnadigungs¬
recht nur Worte der Anerkennung. Er nennt diesen Vorschlag schlechtweg
lobenswert.

Inzwischen haben auch andere Staaten diesen Gedanken zum Gegenstande
gesetzgeberischer Maßnahmen gemacht. Der österreichische Vorentwurf eines
neuen Strafgesetzbuchs enthält in den Z§ 47, 347 ebenfalls dieses richterliche
Begnadigungsrecht, wenn auch in weit engeren Grenzen als der deutsche.

In England aber ist diese Einrichtung schon vor drei Jahren Gesetz
geworden. Am 21. August 1907 ist die probativn off okleneiei-8 Zi.Le, 7
Lat>v. 7 /^et. 17 ergangen mit der Bestimmung, daß die Gerichtshöfe mit
summarischer Jurisdiktion befugt sein sollen, trotz erwiesener Anschuldigung die
Anklage abzuweisen oder den Beschuldigten auf Gutverhalten hin von der
Anklage zu entbinden, wenn die Verhängung einer Strafe wegen Geringfügigkeit
des Delikts, wegen mildernder Umstände oder in Rücksicht auf Charakter, Vor-


Lin neues Begnadigungsrecht

und Vertrauenswürdigkeit wächst. Denn er selbst hat schwer darunter gelitten,
daß das bisherige Gesetz ihn häufig zwang, Strafen zu verhängen, die er als
nicht angemessen empfand. Kein Geringerer als Fürst Bismarck hat einst im
Reichstage gesagt, als bei Beratung des jetzt geltenden Strafgesetzbuchs über
Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe gestritten wurde, daß die Scheu
vor Verantwortlichkeit ein Zeichen unserer Zeit sei.

Dem zweiten Tadler ist zuzugeben, daß bei Ausübung des neuen Begnadigungs¬
rechts große Verschiedenheiten in der Bewertung gleicher oder ähnlicher Misse¬
taten vorkommen können und daß das eine Gericht vielleicht straflos lassen
werde, was dem andern strafwürdig erscheint. Ebenso verhält es sich aber
auch mit jeder innerhalb eines weiten Rahmens ermöglichten Strafzumessung.
Die Freiheit des richterlichen Ermessens, ohne die sich die höchsten Ziele des
Strafrechts nicht erreichen lassen, darf darum nicht eingeschränkt werden. Die
Gefahr einer ungleichartigen Rechtspflege muß mit dem neuen Begnadigungs¬
recht in den Kauf genommen werden. Denn jede segensreiche neue Freiheit
bringt die Gefahr ihres Mißbrauchs mit sich. Fehlgriffe in der Rechtsprechung
sind durch keine Gesetzesbestimmung auszuschließen. Schon Friedrich der Große
warnte davor, auf neue Gesetze überspannte Hoffnungen zu setzen, mit den
Worten: „I^e8 ano3L8 parfa,nes ne 80ut pÄ8 an re88ort as 1'ruinam'to."

Ein dritter Gegner des Vorschlags hat gefragt, ob denn der Staat das
Recht habe, nicht zu strafen. Darauf ist zu erwidern, daß das Maß der
Anwendung der staatlichen Strafgewalt sich durch Zweckmäßigkeitsrücksichten
bestimmt. Es soll nur da gestraft werden, wo es zum Schutz der Rechts¬
ordnung notwendig ist. I^lullum crimen 8ins IsM und nulla poerm 8me leZe
sind alte Rechtssätze. Einen Satz nullum crimen 8me poorm gibt es nicht.

Die Widersacher des neuen Begnadigungsrechts sind, wie schon gesagt,
nur vereinzelt. Weit überwiegend sind die Zustimmenden. So hat Professor
Kohler in Berlin, zweifellos einer der ersten Rechtsgelehrten unserer Zeit, der
dem Entwurf im ganzen ablehnend gegenübersteht, für das neue Begnadigungs¬
recht nur Worte der Anerkennung. Er nennt diesen Vorschlag schlechtweg
lobenswert.

Inzwischen haben auch andere Staaten diesen Gedanken zum Gegenstande
gesetzgeberischer Maßnahmen gemacht. Der österreichische Vorentwurf eines
neuen Strafgesetzbuchs enthält in den Z§ 47, 347 ebenfalls dieses richterliche
Begnadigungsrecht, wenn auch in weit engeren Grenzen als der deutsche.

In England aber ist diese Einrichtung schon vor drei Jahren Gesetz
geworden. Am 21. August 1907 ist die probativn off okleneiei-8 Zi.Le, 7
Lat>v. 7 /^et. 17 ergangen mit der Bestimmung, daß die Gerichtshöfe mit
summarischer Jurisdiktion befugt sein sollen, trotz erwiesener Anschuldigung die
Anklage abzuweisen oder den Beschuldigten auf Gutverhalten hin von der
Anklage zu entbinden, wenn die Verhängung einer Strafe wegen Geringfügigkeit
des Delikts, wegen mildernder Umstände oder in Rücksicht auf Charakter, Vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/36>, abgerufen am 24.07.2024.