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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Ein Tendenzroman

Bismarcksche Politik und ihre Wirkungen folgende Urteile fällt: "Das hohe,
freie Wort .national' bekam mit einem Male lauter ängstliche Züge". "Es
klang jetzt fast plötzlich wie der Weheruf einer ächzenden Volkswirtschaft."
"Jetzt kam die Zeit der geschichtlichen Alltäglichkeiten wieder heraus, und alle
alten Neigungen und alten Streite und alten Kleinlichkeiten des Deutschtums
krochen aus ihren verschiedenen Ecken hervor." (S. 30.) "Alle die, denen die
moderne liberale Entwicklung zu schnell gewesen war, die von den Milliarden
der Franzosen selber nichts mit abbekommen hatten, die im Zeitalter des Verkehrs
zu straucheln begannen und sich nicht zurechtfinden konnten, sie alle häuften sich
zusammen." (S. 27.) "Alles, was jener ältere Liberalismus jugendlich kühn
für die Zukunft geschaffen hat, ist . . . in Hände von ängstlichen Lehrmeistern
gebracht worden." (S. 77.) Immer von neuem klagt Naumann über die
"Bevormundung", die Bismarcks System über das deutsche Volk gebracht habe.
Er gibt zu verstehen, daß bei derjenigen Form der nationalen Idee, die Bismarck
begründet habe, das einzelne Glied der Nation Zukunftsfreudigkeit, Selbständigkeit
und Stolz nicht in sich trage. (S. 85.) Weiter hören wir (S. 60): "Es ertönte
nun ein stets wachsendes allgemeines Rückwärts, Rückwärts". Auch der Par¬
tikularismus soll eine neue Wiederkehr gehabt haben (S. 58). Von jenen
Anschauungen aus begreift es sich, daß Naumann (S. 35) die Wahlbewegung
von 1887, die ganz in Bismarcks Sinne gehalten war, aufs schärfste tadelt;
er nennt sie "unerhört". Und so schließt er denn mit dem Ausdruck der Be¬
sorgnis, daß Deutschland unter der Herrschaft der Mächte, die Bismarck gro߬
gezogen, Gefahr laufe, ein zweites Spanien zu werden.

Bei all diesen Sätzen ist es nun besonders amüsant, daß sie gerade von
Naumann herrühren, der doch die Schlagwörter, welche jahrelang seinen
Agitationsstoff bildeten, eben jenem Bismarckschen Zeitalter entnommen hat.
Denn woher sonst stammen die Vorstellungen von dem Königtum, das sich der
Arbeiter annimmt, von der Notwendigkeit einer starken nationalen Entfaltung
nach außen? Aus dem Lager der manchesterlichen Freisinnigen, der Vorgänger
seiner heutigen Freunde, stammen sie wahrlich nicht. Und auf welcher Seite
mag wohl Naumann selbst in der "unerhörten" Wahlbewegung von 1887
gestanden haben? Etwa bei Richter-Windthorst-Grillenberger?

Damals und noch lange darüber hinaus wird Naumann nicht die Über¬
zeugung gehabt haben, daß Bismarck der nationalen Idee den Charakter der
Engigkeit und Kleinlichkeit gegeben habe. Damals wird er gewußt haben, daß
sie durch Bismarck wesentlich verstärkt und vertieft worden ist. Jeder, der über¬
haupt dem nationalen Gedanken die Stellung eines berechtigten Motivs im
politischen Leben zuerkennt, war in jenen Jahren von dem Gefühl erfüllt, daß
es eine Lust sei, zu leben, und daß die Geister erwachen. Alles, was heute
unsere Ideale ausmacht, stammt ja aus jener Zeit: die nationale Wirtschafts- und
Sozialpolitik, die Kolonialpolitik, die Verteidigung des germanischen Bodens
gegen die Polen und die innere Kolonisation. Der große wirtschaftliche Auf-


Ein Tendenzroman

Bismarcksche Politik und ihre Wirkungen folgende Urteile fällt: „Das hohe,
freie Wort .national' bekam mit einem Male lauter ängstliche Züge". „Es
klang jetzt fast plötzlich wie der Weheruf einer ächzenden Volkswirtschaft."
„Jetzt kam die Zeit der geschichtlichen Alltäglichkeiten wieder heraus, und alle
alten Neigungen und alten Streite und alten Kleinlichkeiten des Deutschtums
krochen aus ihren verschiedenen Ecken hervor." (S. 30.) „Alle die, denen die
moderne liberale Entwicklung zu schnell gewesen war, die von den Milliarden
der Franzosen selber nichts mit abbekommen hatten, die im Zeitalter des Verkehrs
zu straucheln begannen und sich nicht zurechtfinden konnten, sie alle häuften sich
zusammen." (S. 27.) „Alles, was jener ältere Liberalismus jugendlich kühn
für die Zukunft geschaffen hat, ist . . . in Hände von ängstlichen Lehrmeistern
gebracht worden." (S. 77.) Immer von neuem klagt Naumann über die
„Bevormundung", die Bismarcks System über das deutsche Volk gebracht habe.
Er gibt zu verstehen, daß bei derjenigen Form der nationalen Idee, die Bismarck
begründet habe, das einzelne Glied der Nation Zukunftsfreudigkeit, Selbständigkeit
und Stolz nicht in sich trage. (S. 85.) Weiter hören wir (S. 60): „Es ertönte
nun ein stets wachsendes allgemeines Rückwärts, Rückwärts". Auch der Par¬
tikularismus soll eine neue Wiederkehr gehabt haben (S. 58). Von jenen
Anschauungen aus begreift es sich, daß Naumann (S. 35) die Wahlbewegung
von 1887, die ganz in Bismarcks Sinne gehalten war, aufs schärfste tadelt;
er nennt sie „unerhört". Und so schließt er denn mit dem Ausdruck der Be¬
sorgnis, daß Deutschland unter der Herrschaft der Mächte, die Bismarck gro߬
gezogen, Gefahr laufe, ein zweites Spanien zu werden.

Bei all diesen Sätzen ist es nun besonders amüsant, daß sie gerade von
Naumann herrühren, der doch die Schlagwörter, welche jahrelang seinen
Agitationsstoff bildeten, eben jenem Bismarckschen Zeitalter entnommen hat.
Denn woher sonst stammen die Vorstellungen von dem Königtum, das sich der
Arbeiter annimmt, von der Notwendigkeit einer starken nationalen Entfaltung
nach außen? Aus dem Lager der manchesterlichen Freisinnigen, der Vorgänger
seiner heutigen Freunde, stammen sie wahrlich nicht. Und auf welcher Seite
mag wohl Naumann selbst in der „unerhörten" Wahlbewegung von 1887
gestanden haben? Etwa bei Richter-Windthorst-Grillenberger?

Damals und noch lange darüber hinaus wird Naumann nicht die Über¬
zeugung gehabt haben, daß Bismarck der nationalen Idee den Charakter der
Engigkeit und Kleinlichkeit gegeben habe. Damals wird er gewußt haben, daß
sie durch Bismarck wesentlich verstärkt und vertieft worden ist. Jeder, der über¬
haupt dem nationalen Gedanken die Stellung eines berechtigten Motivs im
politischen Leben zuerkennt, war in jenen Jahren von dem Gefühl erfüllt, daß
es eine Lust sei, zu leben, und daß die Geister erwachen. Alles, was heute
unsere Ideale ausmacht, stammt ja aus jener Zeit: die nationale Wirtschafts- und
Sozialpolitik, die Kolonialpolitik, die Verteidigung des germanischen Bodens
gegen die Polen und die innere Kolonisation. Der große wirtschaftliche Auf-


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[0345] Ein Tendenzroman Bismarcksche Politik und ihre Wirkungen folgende Urteile fällt: „Das hohe, freie Wort .national' bekam mit einem Male lauter ängstliche Züge". „Es klang jetzt fast plötzlich wie der Weheruf einer ächzenden Volkswirtschaft." „Jetzt kam die Zeit der geschichtlichen Alltäglichkeiten wieder heraus, und alle alten Neigungen und alten Streite und alten Kleinlichkeiten des Deutschtums krochen aus ihren verschiedenen Ecken hervor." (S. 30.) „Alle die, denen die moderne liberale Entwicklung zu schnell gewesen war, die von den Milliarden der Franzosen selber nichts mit abbekommen hatten, die im Zeitalter des Verkehrs zu straucheln begannen und sich nicht zurechtfinden konnten, sie alle häuften sich zusammen." (S. 27.) „Alles, was jener ältere Liberalismus jugendlich kühn für die Zukunft geschaffen hat, ist . . . in Hände von ängstlichen Lehrmeistern gebracht worden." (S. 77.) Immer von neuem klagt Naumann über die „Bevormundung", die Bismarcks System über das deutsche Volk gebracht habe. Er gibt zu verstehen, daß bei derjenigen Form der nationalen Idee, die Bismarck begründet habe, das einzelne Glied der Nation Zukunftsfreudigkeit, Selbständigkeit und Stolz nicht in sich trage. (S. 85.) Weiter hören wir (S. 60): „Es ertönte nun ein stets wachsendes allgemeines Rückwärts, Rückwärts". Auch der Par¬ tikularismus soll eine neue Wiederkehr gehabt haben (S. 58). Von jenen Anschauungen aus begreift es sich, daß Naumann (S. 35) die Wahlbewegung von 1887, die ganz in Bismarcks Sinne gehalten war, aufs schärfste tadelt; er nennt sie „unerhört". Und so schließt er denn mit dem Ausdruck der Be¬ sorgnis, daß Deutschland unter der Herrschaft der Mächte, die Bismarck gro߬ gezogen, Gefahr laufe, ein zweites Spanien zu werden. Bei all diesen Sätzen ist es nun besonders amüsant, daß sie gerade von Naumann herrühren, der doch die Schlagwörter, welche jahrelang seinen Agitationsstoff bildeten, eben jenem Bismarckschen Zeitalter entnommen hat. Denn woher sonst stammen die Vorstellungen von dem Königtum, das sich der Arbeiter annimmt, von der Notwendigkeit einer starken nationalen Entfaltung nach außen? Aus dem Lager der manchesterlichen Freisinnigen, der Vorgänger seiner heutigen Freunde, stammen sie wahrlich nicht. Und auf welcher Seite mag wohl Naumann selbst in der „unerhörten" Wahlbewegung von 1887 gestanden haben? Etwa bei Richter-Windthorst-Grillenberger? Damals und noch lange darüber hinaus wird Naumann nicht die Über¬ zeugung gehabt haben, daß Bismarck der nationalen Idee den Charakter der Engigkeit und Kleinlichkeit gegeben habe. Damals wird er gewußt haben, daß sie durch Bismarck wesentlich verstärkt und vertieft worden ist. Jeder, der über¬ haupt dem nationalen Gedanken die Stellung eines berechtigten Motivs im politischen Leben zuerkennt, war in jenen Jahren von dem Gefühl erfüllt, daß es eine Lust sei, zu leben, und daß die Geister erwachen. Alles, was heute unsere Ideale ausmacht, stammt ja aus jener Zeit: die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Kolonialpolitik, die Verteidigung des germanischen Bodens gegen die Polen und die innere Kolonisation. Der große wirtschaftliche Auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/345>, abgerufen am 29.12.2024.