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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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durchaus und verlangte die Aufgabe der Kolonien. Mommsen verstand sich
wohl mit dem Sozialistengesetz, erklärte jedoch den Kathedersozialismus für
"Schwindel""). Oder will Naumann vielleicht die politische Einsicht Virchows
loben? Die Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik, auf deren Seite Naumann
doch nach seinem eigenen sozialpolitischen Bekenntnis das politische Urteil finden
müßte, standen in ihrer überwältigenden Mehrheit jenen freisinnigen Manchester-
lenten ablehnend gegenüber. Eine unberechtigte Glorifizierung der Freisinnigen
ist es weiter auch, wenn Naumann (S. 11) der preußischen Fortschrittspartei
der Konfliktszeit ein ganz besonderes Verdienst um die Einigung Deutschlands
zuschreibt""). Hier hätte er eher der Gothaer, der Süddeutschen, die gegen seine
volksparteilichen Lieblinge kämpften, gedenken sollen. Obwohl ja mancher echt
deutsch gesinnte Mann in die Fortschrittspartei geraten war, so lagen die Ideale
der Gruppe aus ihr, die Naumann namentlich hervorhebt, der "Jung-Litauer",
keineswegs in erster Linie auf jenem Gebiet. Man muß die Schilderung, die
Sebastian Hensel aus ihrem Kreise heraus von ihr entwirft, lesen, um eine
Anschauung von dieser sehr planlosen, recht unpolitischen Genossenschaft zu er¬
halten. Hensel schreibt in seiner Selbstbiographie (S. 315) über seine politische
Tätigkeit in jener Zeit: "Ich schäme mich ihrer heute gründlich; sie war doch
im ganzen recht kindisch". Und Joh. G. Droysen, einer von den Männern, die
sich wahrhaft um die Einigung Deutschlands verdient gemacht haben, hat die
damalige Opposition aufs schärfste mißbilligt; er wollte gar nichts mehr von
diesen Oppositionellen wissen. Es ist aber auch wieder charakteristisch, daß
Naumann, der so oft der nationalen Machtpolitik das Wort geredet hat, heute
die Fortschrittsmänner muss höchste preist, denen solche Gedanken Gegenstand
des Abscheus waren.

Wir sagten ferner, daß Naumann die Nationalliberalen als Abtrünnige vom
Liberalisinus schildert. In dieser Hinsicht ist es niedlich (S. 90), wenn er ihre
Gewinnung für die Wirtschaftspolitik Bismarcks nicht wesentlich auf sachliche
Umstände, sondern auf eine "Suggestion der Zollfreunde" zurückführt. Er faßt
den Liberalismus prinzipiell als unvereinbar mit dein Schutzzollsystem auf.
Gewiß kann man aus einer bestimmten Theorie des Liberalismus die unbedingte
Verwerfung desselben deduzieren. Wenn wir jedoch die Frage aufwerfen, wie
sich historisch Liberalisinus und Schutzzoll zueinander verhalten haben, so nehmen
wir wahr, daß sie zwar oft als Gegensätze, wiederholt aber auch als Freunde
aufgetreten find. Blicken wir nur auf die Zeit unmittelbar vor dem Beginn
der Wirtschaftspolitik Bismarcks, so begegnen wir an verschiedenen Stellen in
liberalen Kreisen schutzzöllnerischen Tendenzen. Einmal in Süddeutschland, der




") Der Nachfolger Mommsens auf dem Berliner Lehrstuhl, Eduard Meyer, hat kürzlich
in seinen "Kleinen Schriften" ein ganz klares Urteil über die Unmöglichkeit der Mommsenschen
Politik ausgesprochen.
Vgl. auch die Einwendungen gegen Naumann, die Prof. Hasdach in der Ztschr.
für Sozialivissenschaft 1910. S, 469 ff. macht.
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durchaus und verlangte die Aufgabe der Kolonien. Mommsen verstand sich
wohl mit dem Sozialistengesetz, erklärte jedoch den Kathedersozialismus für
„Schwindel""). Oder will Naumann vielleicht die politische Einsicht Virchows
loben? Die Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik, auf deren Seite Naumann
doch nach seinem eigenen sozialpolitischen Bekenntnis das politische Urteil finden
müßte, standen in ihrer überwältigenden Mehrheit jenen freisinnigen Manchester-
lenten ablehnend gegenüber. Eine unberechtigte Glorifizierung der Freisinnigen
ist es weiter auch, wenn Naumann (S. 11) der preußischen Fortschrittspartei
der Konfliktszeit ein ganz besonderes Verdienst um die Einigung Deutschlands
zuschreibt""). Hier hätte er eher der Gothaer, der Süddeutschen, die gegen seine
volksparteilichen Lieblinge kämpften, gedenken sollen. Obwohl ja mancher echt
deutsch gesinnte Mann in die Fortschrittspartei geraten war, so lagen die Ideale
der Gruppe aus ihr, die Naumann namentlich hervorhebt, der „Jung-Litauer",
keineswegs in erster Linie auf jenem Gebiet. Man muß die Schilderung, die
Sebastian Hensel aus ihrem Kreise heraus von ihr entwirft, lesen, um eine
Anschauung von dieser sehr planlosen, recht unpolitischen Genossenschaft zu er¬
halten. Hensel schreibt in seiner Selbstbiographie (S. 315) über seine politische
Tätigkeit in jener Zeit: „Ich schäme mich ihrer heute gründlich; sie war doch
im ganzen recht kindisch". Und Joh. G. Droysen, einer von den Männern, die
sich wahrhaft um die Einigung Deutschlands verdient gemacht haben, hat die
damalige Opposition aufs schärfste mißbilligt; er wollte gar nichts mehr von
diesen Oppositionellen wissen. Es ist aber auch wieder charakteristisch, daß
Naumann, der so oft der nationalen Machtpolitik das Wort geredet hat, heute
die Fortschrittsmänner muss höchste preist, denen solche Gedanken Gegenstand
des Abscheus waren.

Wir sagten ferner, daß Naumann die Nationalliberalen als Abtrünnige vom
Liberalisinus schildert. In dieser Hinsicht ist es niedlich (S. 90), wenn er ihre
Gewinnung für die Wirtschaftspolitik Bismarcks nicht wesentlich auf sachliche
Umstände, sondern auf eine „Suggestion der Zollfreunde" zurückführt. Er faßt
den Liberalismus prinzipiell als unvereinbar mit dein Schutzzollsystem auf.
Gewiß kann man aus einer bestimmten Theorie des Liberalismus die unbedingte
Verwerfung desselben deduzieren. Wenn wir jedoch die Frage aufwerfen, wie
sich historisch Liberalisinus und Schutzzoll zueinander verhalten haben, so nehmen
wir wahr, daß sie zwar oft als Gegensätze, wiederholt aber auch als Freunde
aufgetreten find. Blicken wir nur auf die Zeit unmittelbar vor dem Beginn
der Wirtschaftspolitik Bismarcks, so begegnen wir an verschiedenen Stellen in
liberalen Kreisen schutzzöllnerischen Tendenzen. Einmal in Süddeutschland, der




") Der Nachfolger Mommsens auf dem Berliner Lehrstuhl, Eduard Meyer, hat kürzlich
in seinen „Kleinen Schriften" ein ganz klares Urteil über die Unmöglichkeit der Mommsenschen
Politik ausgesprochen.
Vgl. auch die Einwendungen gegen Naumann, die Prof. Hasdach in der Ztschr.
für Sozialivissenschaft 1910. S, 469 ff. macht.
Grenzboten l 1911 42
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/343>, abgerufen am 24.07.2024.