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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Ein Tendenzroman

Freikonservativen in sein Schema hineinzwängen? Er erwähnt sie zwar einmal,
unterläßt es jedoch wohlweislich, ihre Stellung näher zu würdigen. Sodann
bleibt es bestehen, daß die Nationalliberalen von den Freisinnigen durch einen
tiefen Graben getrennt gewesen sind (auf ihr gegenwärtiges Verhältnis komme
ich später zurück). Ihre historische Stellung beruht darauf, daß sie sich ini
Gegensatz zu diesen den Bismarckschen Gedanken zugänglich gezeigt haben.
Naumann gewährt dem Leser auch kein Bild von den Parteiverhültnissen inner¬
halb des süddeutschen Liberalismus. Von den Kämpfen, die die deutsche Partei
in Württemberg und die Nationalliberalen in Baden gegen die partikularistische
Volkspartei geführt haben, erfahren wir nichts. Wenn man aber die Verdienste
des Liberalismus aufzählen will, darf man nicht unerwähnt lassen, wie wacker
die national gesinnten Württemberger und Badener gerade gegen die Lieblinge
Naumanns, die Volksparteiler, gestritten haben. Man würde sonst ein Haupt¬
verdienst des echten Liberalismus verschweigen. Nach Naumanns Schilderung*)
müßte man freilich annehmen, daß ganz Süddeutschland (wenn von den ultra¬
montanen Kreisen abgesehen wird) sich zu dem Standpunkt der Frankfurter
Zeitung bekannt hat, wobei es dann nur unbegreiflich wäre, wie trotzdem
Bismarck hier so beliebt sein und der Süden sich mit dein Norden einigen konnte.

Natürlich muß Naumann trotz aller seiner Bemühungen, die Einheit des
Liberalisinus und dessen wesentliche Übereinstimmung mit der Demokratie zu
predigen, wiederholt selbst auf die starken Differenzen der Nationalliberalen
gegenüber den weiter links stehenden Gruppen zurückkommen. Er hilft sich aus
dieser Verlegenheit, indem er die Nationallibcralen als Abtrünnige vom liberalen
Programm und auch als minderwertig schildert. In dieser Beziehung findet
sich S. 34 die amüsante Behauptung, daß in den vereinigten Sezessionisten und
Fortschrittlern (von 1884) "eine Fülle von Geist und Talent lebte; denn außer
Bennigsen und Miquel. . . war so ziemlich alles, was an Begabung und Talent
von der vorhergehenden großen liberalen Zeit noch übrig war, nach links
gegangen". Sehr niedlich ist zunächst die Bemerkung "außer Bennigsen und
Miquel". Miquel war ja der begabteste der damaligen liberalen Politiker und
Bennigsen derjenige, der am meisten parlamentarische Würde besaß! Sodann
besaßen die vereinigten Freisinnigen gewiß manchen sehr begabten Mann, aber
den politischen Aufgaben der Zeit hat sich keiner gewachsen gefühlt. Der
Nationalökonom G. v. Schulze-Gävernitz, den Naumann doch gelten lassen wird,
sagt über jene Politiker: "Die deutschen Manchesterleute waren, selbst in ihrer
besten Zeit, kleinbürgerlichen Kalibers".**) Gerade in dem Munde Naumanns,
der so viel Beredsamkeit der Sozial- und Kolonialpolitik gewidmet hat, nimmt
sich das Lob des politischen Talents der Führer des Manchestertums recht
seltsam aus. Bamberger verurteilte die Sozialpolitik bis zu seinem Tode




*) Vgl. Grenzl'öden loin 13. Juli 1910, S, "3.
Dies und andere dahin gehörige Urteile habe ich in meiner erwähnten Schrift
(S, 46) nngefi'ihri.
Ein Tendenzroman

Freikonservativen in sein Schema hineinzwängen? Er erwähnt sie zwar einmal,
unterläßt es jedoch wohlweislich, ihre Stellung näher zu würdigen. Sodann
bleibt es bestehen, daß die Nationalliberalen von den Freisinnigen durch einen
tiefen Graben getrennt gewesen sind (auf ihr gegenwärtiges Verhältnis komme
ich später zurück). Ihre historische Stellung beruht darauf, daß sie sich ini
Gegensatz zu diesen den Bismarckschen Gedanken zugänglich gezeigt haben.
Naumann gewährt dem Leser auch kein Bild von den Parteiverhültnissen inner¬
halb des süddeutschen Liberalismus. Von den Kämpfen, die die deutsche Partei
in Württemberg und die Nationalliberalen in Baden gegen die partikularistische
Volkspartei geführt haben, erfahren wir nichts. Wenn man aber die Verdienste
des Liberalismus aufzählen will, darf man nicht unerwähnt lassen, wie wacker
die national gesinnten Württemberger und Badener gerade gegen die Lieblinge
Naumanns, die Volksparteiler, gestritten haben. Man würde sonst ein Haupt¬
verdienst des echten Liberalismus verschweigen. Nach Naumanns Schilderung*)
müßte man freilich annehmen, daß ganz Süddeutschland (wenn von den ultra¬
montanen Kreisen abgesehen wird) sich zu dem Standpunkt der Frankfurter
Zeitung bekannt hat, wobei es dann nur unbegreiflich wäre, wie trotzdem
Bismarck hier so beliebt sein und der Süden sich mit dein Norden einigen konnte.

Natürlich muß Naumann trotz aller seiner Bemühungen, die Einheit des
Liberalisinus und dessen wesentliche Übereinstimmung mit der Demokratie zu
predigen, wiederholt selbst auf die starken Differenzen der Nationalliberalen
gegenüber den weiter links stehenden Gruppen zurückkommen. Er hilft sich aus
dieser Verlegenheit, indem er die Nationallibcralen als Abtrünnige vom liberalen
Programm und auch als minderwertig schildert. In dieser Beziehung findet
sich S. 34 die amüsante Behauptung, daß in den vereinigten Sezessionisten und
Fortschrittlern (von 1884) „eine Fülle von Geist und Talent lebte; denn außer
Bennigsen und Miquel. . . war so ziemlich alles, was an Begabung und Talent
von der vorhergehenden großen liberalen Zeit noch übrig war, nach links
gegangen". Sehr niedlich ist zunächst die Bemerkung „außer Bennigsen und
Miquel". Miquel war ja der begabteste der damaligen liberalen Politiker und
Bennigsen derjenige, der am meisten parlamentarische Würde besaß! Sodann
besaßen die vereinigten Freisinnigen gewiß manchen sehr begabten Mann, aber
den politischen Aufgaben der Zeit hat sich keiner gewachsen gefühlt. Der
Nationalökonom G. v. Schulze-Gävernitz, den Naumann doch gelten lassen wird,
sagt über jene Politiker: „Die deutschen Manchesterleute waren, selbst in ihrer
besten Zeit, kleinbürgerlichen Kalibers".**) Gerade in dem Munde Naumanns,
der so viel Beredsamkeit der Sozial- und Kolonialpolitik gewidmet hat, nimmt
sich das Lob des politischen Talents der Führer des Manchestertums recht
seltsam aus. Bamberger verurteilte die Sozialpolitik bis zu seinem Tode




*) Vgl. Grenzl'öden loin 13. Juli 1910, S, «3.
Dies und andere dahin gehörige Urteile habe ich in meiner erwähnten Schrift
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[0342] Ein Tendenzroman Freikonservativen in sein Schema hineinzwängen? Er erwähnt sie zwar einmal, unterläßt es jedoch wohlweislich, ihre Stellung näher zu würdigen. Sodann bleibt es bestehen, daß die Nationalliberalen von den Freisinnigen durch einen tiefen Graben getrennt gewesen sind (auf ihr gegenwärtiges Verhältnis komme ich später zurück). Ihre historische Stellung beruht darauf, daß sie sich ini Gegensatz zu diesen den Bismarckschen Gedanken zugänglich gezeigt haben. Naumann gewährt dem Leser auch kein Bild von den Parteiverhültnissen inner¬ halb des süddeutschen Liberalismus. Von den Kämpfen, die die deutsche Partei in Württemberg und die Nationalliberalen in Baden gegen die partikularistische Volkspartei geführt haben, erfahren wir nichts. Wenn man aber die Verdienste des Liberalismus aufzählen will, darf man nicht unerwähnt lassen, wie wacker die national gesinnten Württemberger und Badener gerade gegen die Lieblinge Naumanns, die Volksparteiler, gestritten haben. Man würde sonst ein Haupt¬ verdienst des echten Liberalismus verschweigen. Nach Naumanns Schilderung*) müßte man freilich annehmen, daß ganz Süddeutschland (wenn von den ultra¬ montanen Kreisen abgesehen wird) sich zu dem Standpunkt der Frankfurter Zeitung bekannt hat, wobei es dann nur unbegreiflich wäre, wie trotzdem Bismarck hier so beliebt sein und der Süden sich mit dein Norden einigen konnte. Natürlich muß Naumann trotz aller seiner Bemühungen, die Einheit des Liberalisinus und dessen wesentliche Übereinstimmung mit der Demokratie zu predigen, wiederholt selbst auf die starken Differenzen der Nationalliberalen gegenüber den weiter links stehenden Gruppen zurückkommen. Er hilft sich aus dieser Verlegenheit, indem er die Nationallibcralen als Abtrünnige vom liberalen Programm und auch als minderwertig schildert. In dieser Beziehung findet sich S. 34 die amüsante Behauptung, daß in den vereinigten Sezessionisten und Fortschrittlern (von 1884) „eine Fülle von Geist und Talent lebte; denn außer Bennigsen und Miquel. . . war so ziemlich alles, was an Begabung und Talent von der vorhergehenden großen liberalen Zeit noch übrig war, nach links gegangen". Sehr niedlich ist zunächst die Bemerkung „außer Bennigsen und Miquel". Miquel war ja der begabteste der damaligen liberalen Politiker und Bennigsen derjenige, der am meisten parlamentarische Würde besaß! Sodann besaßen die vereinigten Freisinnigen gewiß manchen sehr begabten Mann, aber den politischen Aufgaben der Zeit hat sich keiner gewachsen gefühlt. Der Nationalökonom G. v. Schulze-Gävernitz, den Naumann doch gelten lassen wird, sagt über jene Politiker: „Die deutschen Manchesterleute waren, selbst in ihrer besten Zeit, kleinbürgerlichen Kalibers".**) Gerade in dem Munde Naumanns, der so viel Beredsamkeit der Sozial- und Kolonialpolitik gewidmet hat, nimmt sich das Lob des politischen Talents der Führer des Manchestertums recht seltsam aus. Bamberger verurteilte die Sozialpolitik bis zu seinem Tode *) Vgl. Grenzl'öden loin 13. Juli 1910, S, «3. Dies und andere dahin gehörige Urteile habe ich in meiner erwähnten Schrift (S, 46) nngefi'ihri.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/342>, abgerufen am 29.12.2024.