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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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schaftlichen Ausfall beachten, well er von der alles verneinenden Partei ausgeht,
die in jedeni eingebrachten Gesetzentwurf ein Danaergeschenk erblickt und mit
der eine sachliche Auseinandersetzung fast unmöglich scheint.

Wohin treiben wir? Selbst ein so großer, überzeugter und bis dahin
optimistischer Individualist, wie Herbert Spencer, hat in einem Briefe den Aus¬
spruch getan: "Ein böses Wetter wütet durch die Welt. Nach meiner Ansicht
kommt der Sozialismus unausbleiblich. Er wird das größte Unglück sein, das
je die Welt über sich ergehen sah."

Doch auch er kann sich irren.

Als der Bauernkrieg durch Deutschland tobte, entstand zum erstenmal in
der Welt ein kodifiziertes Strafrecht: Kaiser Karls des Fünften und des heiligen
Römischen Reiches peinliche Gerichtsordnung. Auch während der heißen
sozialistischen Geisteskämpfe unserer Tage ist ein neues Strafrecht im Werden.
Augenblicklich liegen dem Reichstag der Entwurf zu einer neuen Strafproze߬
ordnung sowie ein solcher zu einer Novelle zum Strafgesetzbuch zur Beratung vor.

Inzwischen wird auch ein neues Strafgesetzbuch vorbereitet. Am 1. Mai 1906
ist zufolge Verfügung des Staatssekretärs des Reichsjustizamts eine Kommission
zur Ausarbeitung eines Vorentwurfs zu einem neuen Strafgesetzbuch im Reichs¬
justizamt zusammengetreten. Das Ergebnis ihrer unter dem Vorsitz des
preußischen Ministerialdirektors or. Lukas abgehaltenen Beratungen ist im Herbst
vorigen Jahres veröffentlicht worden. Der Entwurf legt sich, obschon er von
der höchsten Amtsstelle der deutschen Justizverwaltung veranlaßt ist, keine amtliche
Bedeutung bei, da die verbündeten Regierungen und die Neichsjustizverwaltung
zik ihn: keine Stellung genommen haben. Er ist auch nicht zur Vorlegung an
die gesetzgebenden Körperschaften, sondern zunächst nur zur öffentlichen Beurteilung
bestimmt.

Diese ist im großen und ganzen außerordentlich anerkennend ausgefallen.
Es läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß wir es hier mit einer durch
Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit und ernsten Fleiß hervorragenden Arbeit zu tun
haben. Besonders muß dies auch von der Form des vorgeschlagenen Gesetzes¬
textes gelten, der an Kürze, Schlagkräftigkeit und Reinheit des Ausdrucks eine
bisher noch nicht erreichte Höhe gesetzgeberischer Sprachkunst darstellt. Die dem
Entwurf in zwei Bänden beigegebenen Begründungen zeigen fast auf jeder Seite
das Bestreben, "praktisch" zu sein, d. h. ein dem gesunden Menschenverstand
und den Erfahrungen des täglichen Lebens entsprechendes, zeitgemäßes Recht zu
schaffen. Möge der hochverdienstvollen Arbeit auf dem weiteren Wege, den sie
zu durchlaufe" hat, um Gesetz zu werden, ein verständnisvolles Entgegenkommen
der beteiligten Stellen nicht fehlen. Dann wird sie in hohem Maße dazu bei¬
tragen, das Ideal aller Rechtsprechung zu erreichen, die Übereinstimmung mit
dem Rechtsbewußtsein des Volkes.

Der vielen wichtigen Änderungen des bestehenden Rechts und der zahlreichen
Neubestimmmigen, die der Entwurf vorschlägt, kann hier auch uicht einmal


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schaftlichen Ausfall beachten, well er von der alles verneinenden Partei ausgeht,
die in jedeni eingebrachten Gesetzentwurf ein Danaergeschenk erblickt und mit
der eine sachliche Auseinandersetzung fast unmöglich scheint.

Wohin treiben wir? Selbst ein so großer, überzeugter und bis dahin
optimistischer Individualist, wie Herbert Spencer, hat in einem Briefe den Aus¬
spruch getan: „Ein böses Wetter wütet durch die Welt. Nach meiner Ansicht
kommt der Sozialismus unausbleiblich. Er wird das größte Unglück sein, das
je die Welt über sich ergehen sah."

Doch auch er kann sich irren.

Als der Bauernkrieg durch Deutschland tobte, entstand zum erstenmal in
der Welt ein kodifiziertes Strafrecht: Kaiser Karls des Fünften und des heiligen
Römischen Reiches peinliche Gerichtsordnung. Auch während der heißen
sozialistischen Geisteskämpfe unserer Tage ist ein neues Strafrecht im Werden.
Augenblicklich liegen dem Reichstag der Entwurf zu einer neuen Strafproze߬
ordnung sowie ein solcher zu einer Novelle zum Strafgesetzbuch zur Beratung vor.

Inzwischen wird auch ein neues Strafgesetzbuch vorbereitet. Am 1. Mai 1906
ist zufolge Verfügung des Staatssekretärs des Reichsjustizamts eine Kommission
zur Ausarbeitung eines Vorentwurfs zu einem neuen Strafgesetzbuch im Reichs¬
justizamt zusammengetreten. Das Ergebnis ihrer unter dem Vorsitz des
preußischen Ministerialdirektors or. Lukas abgehaltenen Beratungen ist im Herbst
vorigen Jahres veröffentlicht worden. Der Entwurf legt sich, obschon er von
der höchsten Amtsstelle der deutschen Justizverwaltung veranlaßt ist, keine amtliche
Bedeutung bei, da die verbündeten Regierungen und die Neichsjustizverwaltung
zik ihn: keine Stellung genommen haben. Er ist auch nicht zur Vorlegung an
die gesetzgebenden Körperschaften, sondern zunächst nur zur öffentlichen Beurteilung
bestimmt.

Diese ist im großen und ganzen außerordentlich anerkennend ausgefallen.
Es läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß wir es hier mit einer durch
Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit und ernsten Fleiß hervorragenden Arbeit zu tun
haben. Besonders muß dies auch von der Form des vorgeschlagenen Gesetzes¬
textes gelten, der an Kürze, Schlagkräftigkeit und Reinheit des Ausdrucks eine
bisher noch nicht erreichte Höhe gesetzgeberischer Sprachkunst darstellt. Die dem
Entwurf in zwei Bänden beigegebenen Begründungen zeigen fast auf jeder Seite
das Bestreben, „praktisch" zu sein, d. h. ein dem gesunden Menschenverstand
und den Erfahrungen des täglichen Lebens entsprechendes, zeitgemäßes Recht zu
schaffen. Möge der hochverdienstvollen Arbeit auf dem weiteren Wege, den sie
zu durchlaufe» hat, um Gesetz zu werden, ein verständnisvolles Entgegenkommen
der beteiligten Stellen nicht fehlen. Dann wird sie in hohem Maße dazu bei¬
tragen, das Ideal aller Rechtsprechung zu erreichen, die Übereinstimmung mit
dem Rechtsbewußtsein des Volkes.

Der vielen wichtigen Änderungen des bestehenden Rechts und der zahlreichen
Neubestimmmigen, die der Entwurf vorschlägt, kann hier auch uicht einmal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/33>, abgerufen am 28.12.2024.