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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

denn damals, ich sage es ganz offen, waren wir Wohl sehr gelte Kameraden,
Aber später" -- sie zögerte etwas -- "kam es, ich weiß nicht, was es war,
manchmal anders, als es unter Kameraden eigentlich sein soll, lind sehen Sie,
Boris Stepanowitsch, über dieses unbekannte andere möchte ich gern von Ihnen
hören. Sagen Sie nur bei unserer Kameradschaft von damals, habe ich Sie
vielleicht einmal unbewußt gekränkt, und haben Sie mir etwas nachgetragen?
Wenn es so ist, möchte ich gern, daß Sie es mir offen sagen, denn kränken wollte
ich Sie niemals. Ich möchte nicht, daß Sie vielleicht mit einem Groll gegen
mich fortgingen."

Ihre Stimme war zitternd verhaucht, bevor sie noch den Satz zu Ende bringen
konnte. Dann aber ging plötzlich ein Beben durch den zarten Körper, ein Schütteln
und Rütteln, wie wenn der Sturm die jungen Birken biegt. Sie schlug die Hände
vor das zuckende Gesicht und schluchzte laut in fassungslosem Schmerz.

Erschreckt hatte Boris auf die Weinende gesehen. Er stand wie erstarrt da
und wagte es nicht, sich zu rühren. Leise und bittend rief er ein über das andere
Mal ihren Namen, um sie zu beruhigen. Tausend Gedanken jagten in rasender
Hast ihm durch den Kopf. Weinte sie um ihn? um sein Fortgehen? Und wenn!
Lag ihr denn wirklich so viel an ihm? Er konnte nicht weiter denken. Es war
ein Klang von süßesten Melodien in ihm, und es erschütterte ihn ein solches
Glücksgefühl, eine solche Seligkeit, daß alle seine guten Vorsätze Schiffbruch litten
vor dem einen Gedanken: Sie leidet um dich!

Er war ganz nahe an das weinende Mädchen herangetreten, und sein Atem
streifte ihre Wange. Mit mühsam verhaltener Glut rief er noch einmal innig
ihren Namen. Dann zog er sanft die kleine zuckende Hand von ihren: Antlitz und
legte sie bebend in die seine. Das Blut klopfte in seinen Schläfen. stammelnd
öffneten sich seine Lippen, und die lang gebannte Leidenschaft brach in hellen
Flammen hervor:

"Olga! -- Olenka! -- Um mich? -- Um mich weinen Sie?"

Sie nickte laut aufschluchzend mit dem Kopfe.

Da war es vorbei mit seiner Fassung und mit aller männlichen Kraft und
allem Ringen nach Vernunft und Einsicht, Er riß sie mit einem jubelnden Auf¬
schrei an sich, und sie schlang beide Arme um seinen Hals und legte, wie ein müde
gemeintes Kind, den Kopf an seine Brust.

Boris neigte sich über sie und bedeckte ihr Haar und Gesicht mit heißen
Küssen. Unzählige Male drückte er die Lippen auf ihren roten zuckeirden Mund,
und jedesmal, wenn er sie einen Augenblick freigab, flehte sie leise:

"Bleibe bei mir, Liebster, geh nicht fort!"

Die beiden stolzen Menschen, sie wußten nicht, was sie an heißen Liebes¬
worten einander zuflüstern sollten. Kein Wort erschien ihnen tief und heilig genug,
um das auszudrücken, was sie für einander empfanden.

"Boris! mein Boris! Wie habe ich um dich leiden müssen, du, Boris, mein
Lieber, du."

Sie flüsterte es ihm, alle Scheu vergessend, mädchenhaft-innig zu und erwiderte
Kuß mit Kuß. Und dann war es wieder still zwischen ihnen geworden, und man
hörte nur dann und wann ein zerrissenes Liebeswort.


Im Flecken

denn damals, ich sage es ganz offen, waren wir Wohl sehr gelte Kameraden,
Aber später" — sie zögerte etwas — „kam es, ich weiß nicht, was es war,
manchmal anders, als es unter Kameraden eigentlich sein soll, lind sehen Sie,
Boris Stepanowitsch, über dieses unbekannte andere möchte ich gern von Ihnen
hören. Sagen Sie nur bei unserer Kameradschaft von damals, habe ich Sie
vielleicht einmal unbewußt gekränkt, und haben Sie mir etwas nachgetragen?
Wenn es so ist, möchte ich gern, daß Sie es mir offen sagen, denn kränken wollte
ich Sie niemals. Ich möchte nicht, daß Sie vielleicht mit einem Groll gegen
mich fortgingen."

Ihre Stimme war zitternd verhaucht, bevor sie noch den Satz zu Ende bringen
konnte. Dann aber ging plötzlich ein Beben durch den zarten Körper, ein Schütteln
und Rütteln, wie wenn der Sturm die jungen Birken biegt. Sie schlug die Hände
vor das zuckende Gesicht und schluchzte laut in fassungslosem Schmerz.

Erschreckt hatte Boris auf die Weinende gesehen. Er stand wie erstarrt da
und wagte es nicht, sich zu rühren. Leise und bittend rief er ein über das andere
Mal ihren Namen, um sie zu beruhigen. Tausend Gedanken jagten in rasender
Hast ihm durch den Kopf. Weinte sie um ihn? um sein Fortgehen? Und wenn!
Lag ihr denn wirklich so viel an ihm? Er konnte nicht weiter denken. Es war
ein Klang von süßesten Melodien in ihm, und es erschütterte ihn ein solches
Glücksgefühl, eine solche Seligkeit, daß alle seine guten Vorsätze Schiffbruch litten
vor dem einen Gedanken: Sie leidet um dich!

Er war ganz nahe an das weinende Mädchen herangetreten, und sein Atem
streifte ihre Wange. Mit mühsam verhaltener Glut rief er noch einmal innig
ihren Namen. Dann zog er sanft die kleine zuckende Hand von ihren: Antlitz und
legte sie bebend in die seine. Das Blut klopfte in seinen Schläfen. stammelnd
öffneten sich seine Lippen, und die lang gebannte Leidenschaft brach in hellen
Flammen hervor:

„Olga! — Olenka! — Um mich? — Um mich weinen Sie?"

Sie nickte laut aufschluchzend mit dem Kopfe.

Da war es vorbei mit seiner Fassung und mit aller männlichen Kraft und
allem Ringen nach Vernunft und Einsicht, Er riß sie mit einem jubelnden Auf¬
schrei an sich, und sie schlang beide Arme um seinen Hals und legte, wie ein müde
gemeintes Kind, den Kopf an seine Brust.

Boris neigte sich über sie und bedeckte ihr Haar und Gesicht mit heißen
Küssen. Unzählige Male drückte er die Lippen auf ihren roten zuckeirden Mund,
und jedesmal, wenn er sie einen Augenblick freigab, flehte sie leise:

„Bleibe bei mir, Liebster, geh nicht fort!"

Die beiden stolzen Menschen, sie wußten nicht, was sie an heißen Liebes¬
worten einander zuflüstern sollten. Kein Wort erschien ihnen tief und heilig genug,
um das auszudrücken, was sie für einander empfanden.

„Boris! mein Boris! Wie habe ich um dich leiden müssen, du, Boris, mein
Lieber, du."

Sie flüsterte es ihm, alle Scheu vergessend, mädchenhaft-innig zu und erwiderte
Kuß mit Kuß. Und dann war es wieder still zwischen ihnen geworden, und man
hörte nur dann und wann ein zerrissenes Liebeswort.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/302>, abgerufen am 01.07.2024.