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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

Als Olenka sich endlich wieder beruhigt hatte, war es schon spät geworden,
und beide suchten, um mit ihren Gedanken allein sein zu können, ihre Schlaf¬
zimmer auf.




Der letzte Maitag war angebrochen und mit ihm der Termin, an dem
Boris den Mietzins für das Häuschen zu bezahlen pflegte. Erledigte er diese
Angelegenheit sonst auch gewöhnlich nachmittags, so war gerade diesmal so viel
Unvorhergesehenes dazwischengetreten, daß schon der Abend über den Flecken zog,
als er sich aufmachte, den Hauptmann aufzusuchen.

Als er ins Haus trat, kam ihn: die Magd entgegen und bat ihn, zum
Fräulein in den Garten zu gehen, da der Herr soeben mit dem alten Soldaten
versandete, der heute aus der Gouvernementsstadt zurückgekehrt sei. Boris folgte
dieser Aufforderung nur zu gern, und auch Schejin, der von seinem Fenster aus
Boris den Garten betreten sah, nahm sich vor, seine Unterredung mit dem alten
Soldaten noch etwas länger auszudehnen, damit die Kinder, wie er sie längst im
stillen nannte, sich ein wenig aussprechen könnten. Er rief Gott und alle Heiligen
an, daß doch sein sehnlichster Wunsch Erfüllung finden möge.

Boris fand Olga Andrejewna nicht sogleich. Sie hatte sich auf eine kleine,
grün umschattete Anhöhe zurückgezogen, die einen prächtigen Rundblick über den
Flecken und die Chaussee gab. Der Abendhimmel sprühte in den leuchtendsten
Farben und überflutete Olga Andrejewnas Gesicht mit einem rosigen Schein.

Sie hatte Schritte gehört und wandte den Kopf.

"Boris Stepcmowitsch? Gerade dachte ich an Sie."

Sie hatte ihm die Hand entgegengestreckt, die er herzlich faßte und einen
Augenblick länger als sonst in der seinen hielt. Schweigend blieben sie ein Weilchen
nebeneinander stehen und blickten auf den Abendfrieden vor sich.

"Wie herrlich ist es, wenn ein Tag so in Schönheit verhaucht," sagte das
junge Mädchen leise und strich mit der Hand über die Stirn, als wünschte sie,
daß alles Quälende, was an Gedanken dahinter verborgen war, auch so in Frieden
vergehen möchte.

"Bald werden Sie dort sein," fuhr sie fort, indem sie mit der Hand in die
Richtung der Gouverncmentsstadt zeigte und dann etwas spöttisch hinzufügte:

"Da werden Sie wohl mit anderen Gefühlen in den Abend sehen als heute,
denn erst am Abend beginnt ja Wohl eigentlich das Tagewerk der hohen Polizei."

"So ist es, Olga Andrejewna," entgegnete Boris, "und deshalb dürfen Sie
mir heute nicht die Laune verderben. Muß doch die Erinnerung an diesen Sonnen¬
untergang für lange vorhaltenl"

Seine Stimme hatte warm geklungen, und er suchte Olenkas Augen.

Diese hatte sich, als er von der Erinnerung sprach, abgewandt, um ihm nicht
das verräterische Zucken der Mundwinkel zu zeigen.

"Nein, Sie haben recht, Boris Stepanowitsch," sagte sie ruhig, "ich will den
Abend nicht stören. Aber eins muß ich noch von Ihnen wissen, bevor Sie fort¬
reisen, und es wäre gut von Ihnen, wenn Sie es mir jetzt sagten. Lassen Sie
uns so ehrlich sein, wie es immer zwischen uns gewesen ist und besonders in
jener Zeit, als Sie sich für uns um die Wiedererlangung unseres Geldes bemühten;


Im Flecken

Als Olenka sich endlich wieder beruhigt hatte, war es schon spät geworden,
und beide suchten, um mit ihren Gedanken allein sein zu können, ihre Schlaf¬
zimmer auf.




Der letzte Maitag war angebrochen und mit ihm der Termin, an dem
Boris den Mietzins für das Häuschen zu bezahlen pflegte. Erledigte er diese
Angelegenheit sonst auch gewöhnlich nachmittags, so war gerade diesmal so viel
Unvorhergesehenes dazwischengetreten, daß schon der Abend über den Flecken zog,
als er sich aufmachte, den Hauptmann aufzusuchen.

Als er ins Haus trat, kam ihn: die Magd entgegen und bat ihn, zum
Fräulein in den Garten zu gehen, da der Herr soeben mit dem alten Soldaten
versandete, der heute aus der Gouvernementsstadt zurückgekehrt sei. Boris folgte
dieser Aufforderung nur zu gern, und auch Schejin, der von seinem Fenster aus
Boris den Garten betreten sah, nahm sich vor, seine Unterredung mit dem alten
Soldaten noch etwas länger auszudehnen, damit die Kinder, wie er sie längst im
stillen nannte, sich ein wenig aussprechen könnten. Er rief Gott und alle Heiligen
an, daß doch sein sehnlichster Wunsch Erfüllung finden möge.

Boris fand Olga Andrejewna nicht sogleich. Sie hatte sich auf eine kleine,
grün umschattete Anhöhe zurückgezogen, die einen prächtigen Rundblick über den
Flecken und die Chaussee gab. Der Abendhimmel sprühte in den leuchtendsten
Farben und überflutete Olga Andrejewnas Gesicht mit einem rosigen Schein.

Sie hatte Schritte gehört und wandte den Kopf.

„Boris Stepcmowitsch? Gerade dachte ich an Sie."

Sie hatte ihm die Hand entgegengestreckt, die er herzlich faßte und einen
Augenblick länger als sonst in der seinen hielt. Schweigend blieben sie ein Weilchen
nebeneinander stehen und blickten auf den Abendfrieden vor sich.

„Wie herrlich ist es, wenn ein Tag so in Schönheit verhaucht," sagte das
junge Mädchen leise und strich mit der Hand über die Stirn, als wünschte sie,
daß alles Quälende, was an Gedanken dahinter verborgen war, auch so in Frieden
vergehen möchte.

„Bald werden Sie dort sein," fuhr sie fort, indem sie mit der Hand in die
Richtung der Gouverncmentsstadt zeigte und dann etwas spöttisch hinzufügte:

„Da werden Sie wohl mit anderen Gefühlen in den Abend sehen als heute,
denn erst am Abend beginnt ja Wohl eigentlich das Tagewerk der hohen Polizei."

„So ist es, Olga Andrejewna," entgegnete Boris, „und deshalb dürfen Sie
mir heute nicht die Laune verderben. Muß doch die Erinnerung an diesen Sonnen¬
untergang für lange vorhaltenl"

Seine Stimme hatte warm geklungen, und er suchte Olenkas Augen.

Diese hatte sich, als er von der Erinnerung sprach, abgewandt, um ihm nicht
das verräterische Zucken der Mundwinkel zu zeigen.

„Nein, Sie haben recht, Boris Stepanowitsch," sagte sie ruhig, „ich will den
Abend nicht stören. Aber eins muß ich noch von Ihnen wissen, bevor Sie fort¬
reisen, und es wäre gut von Ihnen, wenn Sie es mir jetzt sagten. Lassen Sie
uns so ehrlich sein, wie es immer zwischen uns gewesen ist und besonders in
jener Zeit, als Sie sich für uns um die Wiedererlangung unseres Geldes bemühten;


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[0301] Im Flecken Als Olenka sich endlich wieder beruhigt hatte, war es schon spät geworden, und beide suchten, um mit ihren Gedanken allein sein zu können, ihre Schlaf¬ zimmer auf. Der letzte Maitag war angebrochen und mit ihm der Termin, an dem Boris den Mietzins für das Häuschen zu bezahlen pflegte. Erledigte er diese Angelegenheit sonst auch gewöhnlich nachmittags, so war gerade diesmal so viel Unvorhergesehenes dazwischengetreten, daß schon der Abend über den Flecken zog, als er sich aufmachte, den Hauptmann aufzusuchen. Als er ins Haus trat, kam ihn: die Magd entgegen und bat ihn, zum Fräulein in den Garten zu gehen, da der Herr soeben mit dem alten Soldaten versandete, der heute aus der Gouvernementsstadt zurückgekehrt sei. Boris folgte dieser Aufforderung nur zu gern, und auch Schejin, der von seinem Fenster aus Boris den Garten betreten sah, nahm sich vor, seine Unterredung mit dem alten Soldaten noch etwas länger auszudehnen, damit die Kinder, wie er sie längst im stillen nannte, sich ein wenig aussprechen könnten. Er rief Gott und alle Heiligen an, daß doch sein sehnlichster Wunsch Erfüllung finden möge. Boris fand Olga Andrejewna nicht sogleich. Sie hatte sich auf eine kleine, grün umschattete Anhöhe zurückgezogen, die einen prächtigen Rundblick über den Flecken und die Chaussee gab. Der Abendhimmel sprühte in den leuchtendsten Farben und überflutete Olga Andrejewnas Gesicht mit einem rosigen Schein. Sie hatte Schritte gehört und wandte den Kopf. „Boris Stepcmowitsch? Gerade dachte ich an Sie." Sie hatte ihm die Hand entgegengestreckt, die er herzlich faßte und einen Augenblick länger als sonst in der seinen hielt. Schweigend blieben sie ein Weilchen nebeneinander stehen und blickten auf den Abendfrieden vor sich. „Wie herrlich ist es, wenn ein Tag so in Schönheit verhaucht," sagte das junge Mädchen leise und strich mit der Hand über die Stirn, als wünschte sie, daß alles Quälende, was an Gedanken dahinter verborgen war, auch so in Frieden vergehen möchte. „Bald werden Sie dort sein," fuhr sie fort, indem sie mit der Hand in die Richtung der Gouverncmentsstadt zeigte und dann etwas spöttisch hinzufügte: „Da werden Sie wohl mit anderen Gefühlen in den Abend sehen als heute, denn erst am Abend beginnt ja Wohl eigentlich das Tagewerk der hohen Polizei." „So ist es, Olga Andrejewna," entgegnete Boris, „und deshalb dürfen Sie mir heute nicht die Laune verderben. Muß doch die Erinnerung an diesen Sonnen¬ untergang für lange vorhaltenl" Seine Stimme hatte warm geklungen, und er suchte Olenkas Augen. Diese hatte sich, als er von der Erinnerung sprach, abgewandt, um ihm nicht das verräterische Zucken der Mundwinkel zu zeigen. „Nein, Sie haben recht, Boris Stepanowitsch," sagte sie ruhig, „ich will den Abend nicht stören. Aber eins muß ich noch von Ihnen wissen, bevor Sie fort¬ reisen, und es wäre gut von Ihnen, wenn Sie es mir jetzt sagten. Lassen Sie uns so ehrlich sein, wie es immer zwischen uns gewesen ist und besonders in jener Zeit, als Sie sich für uns um die Wiedererlangung unseres Geldes bemühten;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/301>, abgerufen am 29.06.2024.