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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

Wir sind keineswegs gegen Milde, wo sie angebracht ist; im Gegenteil, wir
wünschen sie, verlangen aber Strenge, wo man nicht ohne sie auskommt. Der
einzelne Homosexuelle mag zu bedauern sein, wie der Wahnsinnige, den man ins
Irrenhaus sperrt, oder wie der erblich belastete Verbrecher, den der Kerker auf¬
nimmt, aber das Bedauern darf nicht den Arm der Tat lähmen. Wenn es
die Vernunft und Gesundheit des Volkstums gilt, so ist es ganz gleichgültig,
ob einige hundert oder tausend Ungesunde zugrunde gehen, im Gegenteil, vom
Standpunkt der Mafsengesundheit ist dies nur zu wünschen.

Um aber zu zeigen, wie schonend wir denken, werfen wir die Frage auf,
ob die Homosexuellen nicht als teilirrsinnig zu behandeln und deshalb nicht
in gewöhnliche Gefängnisse abzuführen sind, sondern etwa in eigene für sie
errichtete Strafanstalten mit ärztlichem Hintergrunde.




Im Flecken
Erzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher von
Vierzehntes Kapitel: Der erste April.

Der erste Tag des April war angebrochen, und mit ihm gab es im Hause
Botscharows eine Reihe von Überraschungen, die je nach dem Verstandesvermögen
der Betreffenden Lachen oder Schelten, Frohsinn oder Ärger hervorriefen.

Vor allen Dingen trat wie in jedem Jahre an diesem Morgen der Hausknecht
in das Kämmerchen des Kutschers Jlja, der sich im Bett dehnte und streckte, was
bei ihm stets dem Aufstehen voranging.

"Kommst du schon, alter Teufel!" rief Jlja ihm entgegen. "Willst du mir
wieder erzählen, daß die Stalltür geöffnet sei und man die Pferde gestohlen habe?"

"Nein," sprach der Hausknecht ruhig, "seit du im vorigen Jahre böse wurdest
und zeigtest, daß du keinen Spaß verstehst, erzähle ich dir nichts mehr. Es gibt
andere im Hause, mit denen ich Aprilscherz treiben kann. Ich komme, weil
Annuschka mich beauftragt hat, dir zu sagen, daß der Herr in der Nacht krank
geworden ist. Es steht schlimm mit ihm. Dn sollst dich beeilen und dich fertig
halten, nach dem Arzt zu fahren. Den kleinen Korbwagen sollst du herausziehen."

"Lüge du und der TeufelI"

"Ich lüge nicht," versetzte der Hausknecht. "Ich habe dir ja schon gesagt,
daß ich init dir nicht mehr scherze. Ich habe dir den Befehl übergeben. Tue, wie
du willst. Gehorche oder gehorche nicht."

"Seit wann ist es Mode, nach dem Arzt zu fahren? Der kommt ja immer
zu Fuß. Er wohnt doch kaum zweihundert Schritte von uns, du alter Strohkopfl"


Grenzvoten I 1911 60
Im Flecken

Wir sind keineswegs gegen Milde, wo sie angebracht ist; im Gegenteil, wir
wünschen sie, verlangen aber Strenge, wo man nicht ohne sie auskommt. Der
einzelne Homosexuelle mag zu bedauern sein, wie der Wahnsinnige, den man ins
Irrenhaus sperrt, oder wie der erblich belastete Verbrecher, den der Kerker auf¬
nimmt, aber das Bedauern darf nicht den Arm der Tat lähmen. Wenn es
die Vernunft und Gesundheit des Volkstums gilt, so ist es ganz gleichgültig,
ob einige hundert oder tausend Ungesunde zugrunde gehen, im Gegenteil, vom
Standpunkt der Mafsengesundheit ist dies nur zu wünschen.

Um aber zu zeigen, wie schonend wir denken, werfen wir die Frage auf,
ob die Homosexuellen nicht als teilirrsinnig zu behandeln und deshalb nicht
in gewöhnliche Gefängnisse abzuführen sind, sondern etwa in eigene für sie
errichtete Strafanstalten mit ärztlichem Hintergrunde.




Im Flecken
Erzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher von
Vierzehntes Kapitel: Der erste April.

Der erste Tag des April war angebrochen, und mit ihm gab es im Hause
Botscharows eine Reihe von Überraschungen, die je nach dem Verstandesvermögen
der Betreffenden Lachen oder Schelten, Frohsinn oder Ärger hervorriefen.

Vor allen Dingen trat wie in jedem Jahre an diesem Morgen der Hausknecht
in das Kämmerchen des Kutschers Jlja, der sich im Bett dehnte und streckte, was
bei ihm stets dem Aufstehen voranging.

„Kommst du schon, alter Teufel!" rief Jlja ihm entgegen. „Willst du mir
wieder erzählen, daß die Stalltür geöffnet sei und man die Pferde gestohlen habe?"

„Nein," sprach der Hausknecht ruhig, „seit du im vorigen Jahre böse wurdest
und zeigtest, daß du keinen Spaß verstehst, erzähle ich dir nichts mehr. Es gibt
andere im Hause, mit denen ich Aprilscherz treiben kann. Ich komme, weil
Annuschka mich beauftragt hat, dir zu sagen, daß der Herr in der Nacht krank
geworden ist. Es steht schlimm mit ihm. Dn sollst dich beeilen und dich fertig
halten, nach dem Arzt zu fahren. Den kleinen Korbwagen sollst du herausziehen."

„Lüge du und der TeufelI"

„Ich lüge nicht," versetzte der Hausknecht. „Ich habe dir ja schon gesagt,
daß ich init dir nicht mehr scherze. Ich habe dir den Befehl übergeben. Tue, wie
du willst. Gehorche oder gehorche nicht."

„Seit wann ist es Mode, nach dem Arzt zu fahren? Der kommt ja immer
zu Fuß. Er wohnt doch kaum zweihundert Schritte von uns, du alter Strohkopfl"


Grenzvoten I 1911 60
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[0247] Im Flecken Wir sind keineswegs gegen Milde, wo sie angebracht ist; im Gegenteil, wir wünschen sie, verlangen aber Strenge, wo man nicht ohne sie auskommt. Der einzelne Homosexuelle mag zu bedauern sein, wie der Wahnsinnige, den man ins Irrenhaus sperrt, oder wie der erblich belastete Verbrecher, den der Kerker auf¬ nimmt, aber das Bedauern darf nicht den Arm der Tat lähmen. Wenn es die Vernunft und Gesundheit des Volkstums gilt, so ist es ganz gleichgültig, ob einige hundert oder tausend Ungesunde zugrunde gehen, im Gegenteil, vom Standpunkt der Mafsengesundheit ist dies nur zu wünschen. Um aber zu zeigen, wie schonend wir denken, werfen wir die Frage auf, ob die Homosexuellen nicht als teilirrsinnig zu behandeln und deshalb nicht in gewöhnliche Gefängnisse abzuführen sind, sondern etwa in eigene für sie errichtete Strafanstalten mit ärztlichem Hintergrunde. Im Flecken Erzählung aus der russischen Provinz Alexander Andreas-v, Reyher von Vierzehntes Kapitel: Der erste April. Der erste Tag des April war angebrochen, und mit ihm gab es im Hause Botscharows eine Reihe von Überraschungen, die je nach dem Verstandesvermögen der Betreffenden Lachen oder Schelten, Frohsinn oder Ärger hervorriefen. Vor allen Dingen trat wie in jedem Jahre an diesem Morgen der Hausknecht in das Kämmerchen des Kutschers Jlja, der sich im Bett dehnte und streckte, was bei ihm stets dem Aufstehen voranging. „Kommst du schon, alter Teufel!" rief Jlja ihm entgegen. „Willst du mir wieder erzählen, daß die Stalltür geöffnet sei und man die Pferde gestohlen habe?" „Nein," sprach der Hausknecht ruhig, „seit du im vorigen Jahre böse wurdest und zeigtest, daß du keinen Spaß verstehst, erzähle ich dir nichts mehr. Es gibt andere im Hause, mit denen ich Aprilscherz treiben kann. Ich komme, weil Annuschka mich beauftragt hat, dir zu sagen, daß der Herr in der Nacht krank geworden ist. Es steht schlimm mit ihm. Dn sollst dich beeilen und dich fertig halten, nach dem Arzt zu fahren. Den kleinen Korbwagen sollst du herausziehen." „Lüge du und der TeufelI" „Ich lüge nicht," versetzte der Hausknecht. „Ich habe dir ja schon gesagt, daß ich init dir nicht mehr scherze. Ich habe dir den Befehl übergeben. Tue, wie du willst. Gehorche oder gehorche nicht." „Seit wann ist es Mode, nach dem Arzt zu fahren? Der kommt ja immer zu Fuß. Er wohnt doch kaum zweihundert Schritte von uns, du alter Strohkopfl" Grenzvoten I 1911 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/247>, abgerufen am 29.12.2024.