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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Llsaß-lothringische Fragen

Jeder, der sich durch die Vorschrift eines deutschen Gesetzes oder einer auf
administrativein Wege erlassenen Verordnung in seiner Bewegungsfreiheit ein¬
geengt fühlt oder zu bisher unbekannten und ungewohnten Leistungen gezwungen
ist, ist ja natürlich geneigt, gleich über Unterdrückung zu klagen.

Aber da sind nun noch weitere Besonderheiten, die angeblich aufs schlagendste
beweisen, daß die Elsaß-Lothringer im Vergleich mit den übrigen Deutschen
zurückgesetzt seien: die Abhängigkeit der elsaß - lothringischen Landesregierung
vom Reiche (d. h. vom Kaiser); das Recht des Reichstags, über Angelegenheiten
Beschlüsse zu fassen, die nach der Reichsverfassung ganz allgemein der landes¬
gesetzlichen Regelung überlassen sind, in Elsaß-Lothringen also durch elsa߬
lothringisches Landesgesetz geregelt werden müßten; endlich die Tatsache, daß
Elsaß-Lothringen allein unter allen deutschen, auch kleineren Staaten nicht
Sitz und Stimme in: Bundesrat hat.

Wie verhält es sich damit?

Durch die Abtretung Elsaß-Lothringens an das neu gegründete Deutsche
Reich war die Staatsgewalt, die Summe staatlicher Hoheitsrechte, welche Frank¬
reich bis dahin in Beziehung auf die abgetretenen Gebietsteile und ihre Bevölkerung
ausgeübt hatte, auf das Reich übergegangen. Statt von Paris, wie früher,
wurde Elsaß-Lothringen nach der Annexion von Berlin aus "regiert", erhielt
es seine Gesetze von Berlin. Nur die laufenden Verwaltungsgeschäfte wurden,
wie früher von den Präfekten, jetzt durch den dein Reichskanzler unterstellten
Oberpräsidenten in Straßburg und durch die Bezirkspräsidenten erledigt. Die
Staatsgewalt wurde vom Kaiser ausgeübt, die elsaß-lothringischen Landesgesetze
von ihm mit Zustimmung des Reichstags und des Bundesrath erlassen.

In Frankreich mit seiner straffen zentralisierten Staatsgewalt wäre -- wenn
wir im umgekehrten Falle z. B. die Rheinprovinz hätten abtreten müssen --
wohl kein Mensch auf den Gedanken gekommen, einen solchen Zustand zu ändern,
weil er den Bewohnern des eroberten Gebietes nicht behagte; -- anders wir
Deutsche! Wir haben ja immer noch nicht gelernt, die theoretische Erkenntnis,
daß politische Macht in der Zusammenfassung der Kräfte zu einer organisierten
Einheit beruht, in die Tat umzusetzen! -- Als die Elsaß-Lothringer anfingen
über die ihnen zugewiesene Stellung im Reiche zu jammern, waren wir also
schnell bei der Hand, ihren -- unter französischer Herrschaft niemals bekundeten,
erst jetzt ganz plötzlich auftauchenden -- partikularistischeu Neigungen entgegen
zik kommen. (Partikularistische Neigungen können in Deutschland immer auf
verständnisvolles Entgegenkommen rechnen!) -- Wir haben also, um die elsa߬
lothringischen Wünsche zu befriedigen, durch die Verfassungsreform vom Jahre
1879 dem Lande eine eigene Landesregierung mit dem Sitze in Straßburg
gegeben: das Ministerium für Elsaß-Lothringen mit einem Statthalter an der
Spitze, auf welchen alle bisherigen Befugnisse des Reichskanzlers übertragen
wurden, und ferner eine eigene gesetzgebende Körperschaft: den ans gewählten
Vertretern des Volkes zusammengesetzten Landesausschuß. Die Rechte des


Llsaß-lothringische Fragen

Jeder, der sich durch die Vorschrift eines deutschen Gesetzes oder einer auf
administrativein Wege erlassenen Verordnung in seiner Bewegungsfreiheit ein¬
geengt fühlt oder zu bisher unbekannten und ungewohnten Leistungen gezwungen
ist, ist ja natürlich geneigt, gleich über Unterdrückung zu klagen.

Aber da sind nun noch weitere Besonderheiten, die angeblich aufs schlagendste
beweisen, daß die Elsaß-Lothringer im Vergleich mit den übrigen Deutschen
zurückgesetzt seien: die Abhängigkeit der elsaß - lothringischen Landesregierung
vom Reiche (d. h. vom Kaiser); das Recht des Reichstags, über Angelegenheiten
Beschlüsse zu fassen, die nach der Reichsverfassung ganz allgemein der landes¬
gesetzlichen Regelung überlassen sind, in Elsaß-Lothringen also durch elsa߬
lothringisches Landesgesetz geregelt werden müßten; endlich die Tatsache, daß
Elsaß-Lothringen allein unter allen deutschen, auch kleineren Staaten nicht
Sitz und Stimme in: Bundesrat hat.

Wie verhält es sich damit?

Durch die Abtretung Elsaß-Lothringens an das neu gegründete Deutsche
Reich war die Staatsgewalt, die Summe staatlicher Hoheitsrechte, welche Frank¬
reich bis dahin in Beziehung auf die abgetretenen Gebietsteile und ihre Bevölkerung
ausgeübt hatte, auf das Reich übergegangen. Statt von Paris, wie früher,
wurde Elsaß-Lothringen nach der Annexion von Berlin aus „regiert", erhielt
es seine Gesetze von Berlin. Nur die laufenden Verwaltungsgeschäfte wurden,
wie früher von den Präfekten, jetzt durch den dein Reichskanzler unterstellten
Oberpräsidenten in Straßburg und durch die Bezirkspräsidenten erledigt. Die
Staatsgewalt wurde vom Kaiser ausgeübt, die elsaß-lothringischen Landesgesetze
von ihm mit Zustimmung des Reichstags und des Bundesrath erlassen.

In Frankreich mit seiner straffen zentralisierten Staatsgewalt wäre — wenn
wir im umgekehrten Falle z. B. die Rheinprovinz hätten abtreten müssen —
wohl kein Mensch auf den Gedanken gekommen, einen solchen Zustand zu ändern,
weil er den Bewohnern des eroberten Gebietes nicht behagte; — anders wir
Deutsche! Wir haben ja immer noch nicht gelernt, die theoretische Erkenntnis,
daß politische Macht in der Zusammenfassung der Kräfte zu einer organisierten
Einheit beruht, in die Tat umzusetzen! — Als die Elsaß-Lothringer anfingen
über die ihnen zugewiesene Stellung im Reiche zu jammern, waren wir also
schnell bei der Hand, ihren — unter französischer Herrschaft niemals bekundeten,
erst jetzt ganz plötzlich auftauchenden — partikularistischeu Neigungen entgegen
zik kommen. (Partikularistische Neigungen können in Deutschland immer auf
verständnisvolles Entgegenkommen rechnen!) — Wir haben also, um die elsa߬
lothringischen Wünsche zu befriedigen, durch die Verfassungsreform vom Jahre
1879 dem Lande eine eigene Landesregierung mit dem Sitze in Straßburg
gegeben: das Ministerium für Elsaß-Lothringen mit einem Statthalter an der
Spitze, auf welchen alle bisherigen Befugnisse des Reichskanzlers übertragen
wurden, und ferner eine eigene gesetzgebende Körperschaft: den ans gewählten
Vertretern des Volkes zusammengesetzten Landesausschuß. Die Rechte des


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[0218] Llsaß-lothringische Fragen Jeder, der sich durch die Vorschrift eines deutschen Gesetzes oder einer auf administrativein Wege erlassenen Verordnung in seiner Bewegungsfreiheit ein¬ geengt fühlt oder zu bisher unbekannten und ungewohnten Leistungen gezwungen ist, ist ja natürlich geneigt, gleich über Unterdrückung zu klagen. Aber da sind nun noch weitere Besonderheiten, die angeblich aufs schlagendste beweisen, daß die Elsaß-Lothringer im Vergleich mit den übrigen Deutschen zurückgesetzt seien: die Abhängigkeit der elsaß - lothringischen Landesregierung vom Reiche (d. h. vom Kaiser); das Recht des Reichstags, über Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen, die nach der Reichsverfassung ganz allgemein der landes¬ gesetzlichen Regelung überlassen sind, in Elsaß-Lothringen also durch elsa߬ lothringisches Landesgesetz geregelt werden müßten; endlich die Tatsache, daß Elsaß-Lothringen allein unter allen deutschen, auch kleineren Staaten nicht Sitz und Stimme in: Bundesrat hat. Wie verhält es sich damit? Durch die Abtretung Elsaß-Lothringens an das neu gegründete Deutsche Reich war die Staatsgewalt, die Summe staatlicher Hoheitsrechte, welche Frank¬ reich bis dahin in Beziehung auf die abgetretenen Gebietsteile und ihre Bevölkerung ausgeübt hatte, auf das Reich übergegangen. Statt von Paris, wie früher, wurde Elsaß-Lothringen nach der Annexion von Berlin aus „regiert", erhielt es seine Gesetze von Berlin. Nur die laufenden Verwaltungsgeschäfte wurden, wie früher von den Präfekten, jetzt durch den dein Reichskanzler unterstellten Oberpräsidenten in Straßburg und durch die Bezirkspräsidenten erledigt. Die Staatsgewalt wurde vom Kaiser ausgeübt, die elsaß-lothringischen Landesgesetze von ihm mit Zustimmung des Reichstags und des Bundesrath erlassen. In Frankreich mit seiner straffen zentralisierten Staatsgewalt wäre — wenn wir im umgekehrten Falle z. B. die Rheinprovinz hätten abtreten müssen — wohl kein Mensch auf den Gedanken gekommen, einen solchen Zustand zu ändern, weil er den Bewohnern des eroberten Gebietes nicht behagte; — anders wir Deutsche! Wir haben ja immer noch nicht gelernt, die theoretische Erkenntnis, daß politische Macht in der Zusammenfassung der Kräfte zu einer organisierten Einheit beruht, in die Tat umzusetzen! — Als die Elsaß-Lothringer anfingen über die ihnen zugewiesene Stellung im Reiche zu jammern, waren wir also schnell bei der Hand, ihren — unter französischer Herrschaft niemals bekundeten, erst jetzt ganz plötzlich auftauchenden — partikularistischeu Neigungen entgegen zik kommen. (Partikularistische Neigungen können in Deutschland immer auf verständnisvolles Entgegenkommen rechnen!) — Wir haben also, um die elsa߬ lothringischen Wünsche zu befriedigen, durch die Verfassungsreform vom Jahre 1879 dem Lande eine eigene Landesregierung mit dem Sitze in Straßburg gegeben: das Ministerium für Elsaß-Lothringen mit einem Statthalter an der Spitze, auf welchen alle bisherigen Befugnisse des Reichskanzlers übertragen wurden, und ferner eine eigene gesetzgebende Körperschaft: den ans gewählten Vertretern des Volkes zusammengesetzten Landesausschuß. Die Rechte des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/218>, abgerufen am 04.07.2024.