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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Elsaß-lothringische Fragen

Kaisers -- des Trägers der Staatsgewalt -- und des Bundesrath als gesetz¬
gebenden Faktors wurden dadurch nicht berührt; auch der Reichstag blieb,
wenigstens ac jure, Faktor der elsaß-lothringischen Landesgesetzgebung. --Daß
aber das Reich durch diese Änderung den Selbständigkeitswünschen des Landes
in weitesten" Umfange entgegengekommen ist, kann nicht bestritten werden. Die
Erwartungen, welche sich an diese Änderungen knüpften, haben sich indessen
keineswegs erfüllt; -- im Gegenteil, die Klagen über Zurücksetzung, Ausnahme¬
stellung, Minderberechtigung des elsaß-lothringischen Volkes sind nicht verstummt
und neuerdings sogar trotz der schon vor einem Jahrzehnt erfolgten Aufhebung
des Diktaturparagraphen (des letzten Überbleibsels aus der Zeit des Überganges
von französischer unter deutsche Herrschaft) und trotz der reichsgesetzlichen Regelung
des Preß- und Vereinsrechts immer lauter und lauter geworden. Unter beständig
wiederholtem Hinweis auf die in der Verschiedenartigkeit der Stellung des
Reichslandes und der der übrigen Bundesstaaten zum Reiche angeblich liegende
Ungerechtigkeit verlangen die elsaß-lothringischen politischen Führer jetzt völlige
Gleichstellung mit diesen Bundesstaaten (womöglich einschließlich aller ihrer
Reservatrechte) und behaupten, diese Gleichstellung sei die Vorbedingung für die
Aussöhnung der Elsaß-Lothringer mit ihrer durch die Annexion geschaffenen
Lage. -- Aber falsche Argumente werden durch öftere Wiederholung nicht besser.
Mit der Forderung der Gleichstellung können wir uns grundsätzlich ohne weiteres
einverstanden erklären; es kommt nur darauf an, wem Elsaß-Lothringen
gleichgestellt werden soll. Mit demselben und vielleicht noch mit größerem Rechte
als die elsaß-lothringischen Autonomisten könnte man die "Gleichstellung" des
Reichslandes mit den bereits erwähnten Teilen des Reichsgebiets (bayerische
Pfalz, Hannover, Hessen) verlangen, die sich an kultureller wie wirtschaftlicher
Bedeutung wohl mit Elsaß-Lothringen messen können; dann müßten vor allem
das Ministerium für Elsaß-Lothringen als solches und der Landesausschuß
wieder beseitigt lind deren Befugnisse wieder in die Hände der Neichsregiermig
und des Reichstags zurückgegeben werden. Denn im Vergleich mit den genannten
deutscheu Gebietsteilen hat Elsaß-Lothringen, dank dem weitgehenden Entgegen¬
kommen der Reichsregierung und des Reichstags, die Elsaß-Lothringen zuliebe
auf wichtige Rechte verzichtet haben, nicht eine untergeordnete, benachteiligte,
sondern eine bevorrechtete Stellung. Diese Vorrechte sind so bedeutend, daß es,
von einigen geringen Einzelheiten abgesehen, kaum möglich erscheint, sie noch zu
vergrößern, wenn anders die monarchische Staatsform des Reichslandes und der
maßgebende berechtigte Einfluß des Inhabers der Staatsgewalt, des Kaisers,
festgehalten und nicht ganz illusorisch werden sollen. Bundesrat und Reichskanzlei
sind ja schou jetzt in Angelegenheiten der Exekutive völlig ausgeschaltet; alle für
die innere Politik des Landes wichtigen Maßnahmen, einschließlich der Beamten¬
ernennung, erfolgen ohne ihre Mitwirkung. Eine weitere Einschränkung der
Neichsgewo.le hinsichtlich der Landesverwaltung könnte also nur in der Richtung
erfolgen, daß Elsaß-Lothringen zu einem souveränen konstitutionell-monarchischen


Elsaß-lothringische Fragen

Kaisers — des Trägers der Staatsgewalt — und des Bundesrath als gesetz¬
gebenden Faktors wurden dadurch nicht berührt; auch der Reichstag blieb,
wenigstens ac jure, Faktor der elsaß-lothringischen Landesgesetzgebung. —Daß
aber das Reich durch diese Änderung den Selbständigkeitswünschen des Landes
in weitesten« Umfange entgegengekommen ist, kann nicht bestritten werden. Die
Erwartungen, welche sich an diese Änderungen knüpften, haben sich indessen
keineswegs erfüllt; — im Gegenteil, die Klagen über Zurücksetzung, Ausnahme¬
stellung, Minderberechtigung des elsaß-lothringischen Volkes sind nicht verstummt
und neuerdings sogar trotz der schon vor einem Jahrzehnt erfolgten Aufhebung
des Diktaturparagraphen (des letzten Überbleibsels aus der Zeit des Überganges
von französischer unter deutsche Herrschaft) und trotz der reichsgesetzlichen Regelung
des Preß- und Vereinsrechts immer lauter und lauter geworden. Unter beständig
wiederholtem Hinweis auf die in der Verschiedenartigkeit der Stellung des
Reichslandes und der der übrigen Bundesstaaten zum Reiche angeblich liegende
Ungerechtigkeit verlangen die elsaß-lothringischen politischen Führer jetzt völlige
Gleichstellung mit diesen Bundesstaaten (womöglich einschließlich aller ihrer
Reservatrechte) und behaupten, diese Gleichstellung sei die Vorbedingung für die
Aussöhnung der Elsaß-Lothringer mit ihrer durch die Annexion geschaffenen
Lage. — Aber falsche Argumente werden durch öftere Wiederholung nicht besser.
Mit der Forderung der Gleichstellung können wir uns grundsätzlich ohne weiteres
einverstanden erklären; es kommt nur darauf an, wem Elsaß-Lothringen
gleichgestellt werden soll. Mit demselben und vielleicht noch mit größerem Rechte
als die elsaß-lothringischen Autonomisten könnte man die „Gleichstellung" des
Reichslandes mit den bereits erwähnten Teilen des Reichsgebiets (bayerische
Pfalz, Hannover, Hessen) verlangen, die sich an kultureller wie wirtschaftlicher
Bedeutung wohl mit Elsaß-Lothringen messen können; dann müßten vor allem
das Ministerium für Elsaß-Lothringen als solches und der Landesausschuß
wieder beseitigt lind deren Befugnisse wieder in die Hände der Neichsregiermig
und des Reichstags zurückgegeben werden. Denn im Vergleich mit den genannten
deutscheu Gebietsteilen hat Elsaß-Lothringen, dank dem weitgehenden Entgegen¬
kommen der Reichsregierung und des Reichstags, die Elsaß-Lothringen zuliebe
auf wichtige Rechte verzichtet haben, nicht eine untergeordnete, benachteiligte,
sondern eine bevorrechtete Stellung. Diese Vorrechte sind so bedeutend, daß es,
von einigen geringen Einzelheiten abgesehen, kaum möglich erscheint, sie noch zu
vergrößern, wenn anders die monarchische Staatsform des Reichslandes und der
maßgebende berechtigte Einfluß des Inhabers der Staatsgewalt, des Kaisers,
festgehalten und nicht ganz illusorisch werden sollen. Bundesrat und Reichskanzlei
sind ja schou jetzt in Angelegenheiten der Exekutive völlig ausgeschaltet; alle für
die innere Politik des Landes wichtigen Maßnahmen, einschließlich der Beamten¬
ernennung, erfolgen ohne ihre Mitwirkung. Eine weitere Einschränkung der
Neichsgewo.le hinsichtlich der Landesverwaltung könnte also nur in der Richtung
erfolgen, daß Elsaß-Lothringen zu einem souveränen konstitutionell-monarchischen


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[0219] Elsaß-lothringische Fragen Kaisers — des Trägers der Staatsgewalt — und des Bundesrath als gesetz¬ gebenden Faktors wurden dadurch nicht berührt; auch der Reichstag blieb, wenigstens ac jure, Faktor der elsaß-lothringischen Landesgesetzgebung. —Daß aber das Reich durch diese Änderung den Selbständigkeitswünschen des Landes in weitesten« Umfange entgegengekommen ist, kann nicht bestritten werden. Die Erwartungen, welche sich an diese Änderungen knüpften, haben sich indessen keineswegs erfüllt; — im Gegenteil, die Klagen über Zurücksetzung, Ausnahme¬ stellung, Minderberechtigung des elsaß-lothringischen Volkes sind nicht verstummt und neuerdings sogar trotz der schon vor einem Jahrzehnt erfolgten Aufhebung des Diktaturparagraphen (des letzten Überbleibsels aus der Zeit des Überganges von französischer unter deutsche Herrschaft) und trotz der reichsgesetzlichen Regelung des Preß- und Vereinsrechts immer lauter und lauter geworden. Unter beständig wiederholtem Hinweis auf die in der Verschiedenartigkeit der Stellung des Reichslandes und der der übrigen Bundesstaaten zum Reiche angeblich liegende Ungerechtigkeit verlangen die elsaß-lothringischen politischen Führer jetzt völlige Gleichstellung mit diesen Bundesstaaten (womöglich einschließlich aller ihrer Reservatrechte) und behaupten, diese Gleichstellung sei die Vorbedingung für die Aussöhnung der Elsaß-Lothringer mit ihrer durch die Annexion geschaffenen Lage. — Aber falsche Argumente werden durch öftere Wiederholung nicht besser. Mit der Forderung der Gleichstellung können wir uns grundsätzlich ohne weiteres einverstanden erklären; es kommt nur darauf an, wem Elsaß-Lothringen gleichgestellt werden soll. Mit demselben und vielleicht noch mit größerem Rechte als die elsaß-lothringischen Autonomisten könnte man die „Gleichstellung" des Reichslandes mit den bereits erwähnten Teilen des Reichsgebiets (bayerische Pfalz, Hannover, Hessen) verlangen, die sich an kultureller wie wirtschaftlicher Bedeutung wohl mit Elsaß-Lothringen messen können; dann müßten vor allem das Ministerium für Elsaß-Lothringen als solches und der Landesausschuß wieder beseitigt lind deren Befugnisse wieder in die Hände der Neichsregiermig und des Reichstags zurückgegeben werden. Denn im Vergleich mit den genannten deutscheu Gebietsteilen hat Elsaß-Lothringen, dank dem weitgehenden Entgegen¬ kommen der Reichsregierung und des Reichstags, die Elsaß-Lothringen zuliebe auf wichtige Rechte verzichtet haben, nicht eine untergeordnete, benachteiligte, sondern eine bevorrechtete Stellung. Diese Vorrechte sind so bedeutend, daß es, von einigen geringen Einzelheiten abgesehen, kaum möglich erscheint, sie noch zu vergrößern, wenn anders die monarchische Staatsform des Reichslandes und der maßgebende berechtigte Einfluß des Inhabers der Staatsgewalt, des Kaisers, festgehalten und nicht ganz illusorisch werden sollen. Bundesrat und Reichskanzlei sind ja schou jetzt in Angelegenheiten der Exekutive völlig ausgeschaltet; alle für die innere Politik des Landes wichtigen Maßnahmen, einschließlich der Beamten¬ ernennung, erfolgen ohne ihre Mitwirkung. Eine weitere Einschränkung der Neichsgewo.le hinsichtlich der Landesverwaltung könnte also nur in der Richtung erfolgen, daß Elsaß-Lothringen zu einem souveränen konstitutionell-monarchischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/219>, abgerufen am 04.07.2024.