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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Llsaß-lothringische Fragen

Solche Schlagworte mögen der kleinen Anzahl skrupelloser Politiker als Mittel
zur Verhetzung der leichtgläubigen Massen schätzbare Dienste leisten; aber wo
sind die Tatsachen, welche diese Charakterisierung der deutschen Regierung
rechtfertigen? -- Wo sind denn die Akte der Willkür, Bedrückung und
Ungerechtigkeit unserer Regierung? Man wird sie vergeblich suchen.

In bemerkenswerten Gegensatze zu den Gepflogenheiten der ftanzösischen
Regierung achten die elsaß-lothringischen Negiernngsorgane die Wahlfreiheit der
Wähler, -- was freilich nicht hindert, daß gerade diejenigen Politiker und
Parteien, welche sich im Wahlkampf am meisten der unlauteren Mittel der
Verleumdung und der Verhetzung und Terrorisieruug der Wähler bedienen,
auch am lautesten über Wahlbeeinflussung zetern; -- eine zwar noch nicht ganz
ausgebildete, aber doch gerechte und loyale Verwaltungsjustiz schützt die Bürger
in ihren Rechten gegenüber etwaigen Mißgriffen der Verwaltung; -- die
Straf- und Zivilrechtspflege kann sich, trotz aller Versuche, sie zu verdächtigen
und der Parteilichkeit gegenüber den Einheimischen zu zeihen, der jedes anderen
deutschen Bundesstaates an die Seite stellen.

Auch die Gesetzgebung arbeitet zufriedenstellend; in zahlreichen Gesprächen
mit verständigen, angesehenen Elsaß-Lothringern habe ich noch niemals die
Klage vernommen, daß die verfassungsmäßige Mitwirkung des Kaisers und des
Bundesrath bei Erlaß elsaß-lothringischer Landesgesetze von der Bevölkerung
als eine Beeinträchtigung ihrer Rechte und Freiheiten empfunden wird; tatsächlich
läge auch nicht der mindeste Grund dazu vor; ist doch der Volksvertretung ein
weitgehendes Mitbestimmuugsrecht bei Erlaß der Landesgesetze gewährleistet; ohne
ihre Zustimmung ist noch kein Gesetz erlassen worden, und gesetzgeberischen
Wünschen und Anregungen aus dem Schoße des Landesausschusses hat die
Landesregierung bisher stets -- manchmal vielleicht sogar zu bereitwillig --
entsprochen. Der Mitwirkung des Bundesrath mögen gewisse Schönheitsfehler
anhaften -- der Geschäftsgang im Bundesrat ist etwas schmerfällig, und für die
Regierung ergeben sich daraus manche Unzuträglichkeiten --, aber das Volk hat
wohl noch nie darüber zu klagen gehabt, daß der Erlaß eines wichtigen Gesetzes
durch den Bundesrat zum Schaden des Landes verzögert worden wäre, oder
daß der Bundesrat Gesetzen, über welche Landesausschuß und Landesregierung
sich geeinigt hatten, seine Zustimmung versagt hätte. -- Und die Gesetze selbst?
-- Gewiß haben manche von ihnen, Reichs- und Landesgesetze, trotz ihrer
unleugbar guten Seiten zur Unzufriedenheit beigetragen; so z. B. wird unsere
soziale Gesetzgebung mit ihren Tausenden von Paragraphen, die Neichsgewerbe-
ordnung mit allen ihren die Freiheit des einzelnen beschränkenden Vorschriften
über Sonntagsruhe, Beschäftigung von Frauen und Kindern in Fabriken,
Gewerbeinspektion und dergleichen mehr gerade in Elsaß-Lothringen mit seiner
alten, unter manchesterlichen Grundsätzen groß gewordenen Industrie vielfach als
lästig empfunden; die bäuerliche Bevölkerung ist mit dem elsaß-lothringischen
Jagdgesetz, mit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung u. a. unzufrieden.


Llsaß-lothringische Fragen

Solche Schlagworte mögen der kleinen Anzahl skrupelloser Politiker als Mittel
zur Verhetzung der leichtgläubigen Massen schätzbare Dienste leisten; aber wo
sind die Tatsachen, welche diese Charakterisierung der deutschen Regierung
rechtfertigen? — Wo sind denn die Akte der Willkür, Bedrückung und
Ungerechtigkeit unserer Regierung? Man wird sie vergeblich suchen.

In bemerkenswerten Gegensatze zu den Gepflogenheiten der ftanzösischen
Regierung achten die elsaß-lothringischen Negiernngsorgane die Wahlfreiheit der
Wähler, — was freilich nicht hindert, daß gerade diejenigen Politiker und
Parteien, welche sich im Wahlkampf am meisten der unlauteren Mittel der
Verleumdung und der Verhetzung und Terrorisieruug der Wähler bedienen,
auch am lautesten über Wahlbeeinflussung zetern; — eine zwar noch nicht ganz
ausgebildete, aber doch gerechte und loyale Verwaltungsjustiz schützt die Bürger
in ihren Rechten gegenüber etwaigen Mißgriffen der Verwaltung; — die
Straf- und Zivilrechtspflege kann sich, trotz aller Versuche, sie zu verdächtigen
und der Parteilichkeit gegenüber den Einheimischen zu zeihen, der jedes anderen
deutschen Bundesstaates an die Seite stellen.

Auch die Gesetzgebung arbeitet zufriedenstellend; in zahlreichen Gesprächen
mit verständigen, angesehenen Elsaß-Lothringern habe ich noch niemals die
Klage vernommen, daß die verfassungsmäßige Mitwirkung des Kaisers und des
Bundesrath bei Erlaß elsaß-lothringischer Landesgesetze von der Bevölkerung
als eine Beeinträchtigung ihrer Rechte und Freiheiten empfunden wird; tatsächlich
läge auch nicht der mindeste Grund dazu vor; ist doch der Volksvertretung ein
weitgehendes Mitbestimmuugsrecht bei Erlaß der Landesgesetze gewährleistet; ohne
ihre Zustimmung ist noch kein Gesetz erlassen worden, und gesetzgeberischen
Wünschen und Anregungen aus dem Schoße des Landesausschusses hat die
Landesregierung bisher stets — manchmal vielleicht sogar zu bereitwillig —
entsprochen. Der Mitwirkung des Bundesrath mögen gewisse Schönheitsfehler
anhaften — der Geschäftsgang im Bundesrat ist etwas schmerfällig, und für die
Regierung ergeben sich daraus manche Unzuträglichkeiten —, aber das Volk hat
wohl noch nie darüber zu klagen gehabt, daß der Erlaß eines wichtigen Gesetzes
durch den Bundesrat zum Schaden des Landes verzögert worden wäre, oder
daß der Bundesrat Gesetzen, über welche Landesausschuß und Landesregierung
sich geeinigt hatten, seine Zustimmung versagt hätte. — Und die Gesetze selbst?
— Gewiß haben manche von ihnen, Reichs- und Landesgesetze, trotz ihrer
unleugbar guten Seiten zur Unzufriedenheit beigetragen; so z. B. wird unsere
soziale Gesetzgebung mit ihren Tausenden von Paragraphen, die Neichsgewerbe-
ordnung mit allen ihren die Freiheit des einzelnen beschränkenden Vorschriften
über Sonntagsruhe, Beschäftigung von Frauen und Kindern in Fabriken,
Gewerbeinspektion und dergleichen mehr gerade in Elsaß-Lothringen mit seiner
alten, unter manchesterlichen Grundsätzen groß gewordenen Industrie vielfach als
lästig empfunden; die bäuerliche Bevölkerung ist mit dem elsaß-lothringischen
Jagdgesetz, mit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung u. a. unzufrieden.


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[0217] Llsaß-lothringische Fragen Solche Schlagworte mögen der kleinen Anzahl skrupelloser Politiker als Mittel zur Verhetzung der leichtgläubigen Massen schätzbare Dienste leisten; aber wo sind die Tatsachen, welche diese Charakterisierung der deutschen Regierung rechtfertigen? — Wo sind denn die Akte der Willkür, Bedrückung und Ungerechtigkeit unserer Regierung? Man wird sie vergeblich suchen. In bemerkenswerten Gegensatze zu den Gepflogenheiten der ftanzösischen Regierung achten die elsaß-lothringischen Negiernngsorgane die Wahlfreiheit der Wähler, — was freilich nicht hindert, daß gerade diejenigen Politiker und Parteien, welche sich im Wahlkampf am meisten der unlauteren Mittel der Verleumdung und der Verhetzung und Terrorisieruug der Wähler bedienen, auch am lautesten über Wahlbeeinflussung zetern; — eine zwar noch nicht ganz ausgebildete, aber doch gerechte und loyale Verwaltungsjustiz schützt die Bürger in ihren Rechten gegenüber etwaigen Mißgriffen der Verwaltung; — die Straf- und Zivilrechtspflege kann sich, trotz aller Versuche, sie zu verdächtigen und der Parteilichkeit gegenüber den Einheimischen zu zeihen, der jedes anderen deutschen Bundesstaates an die Seite stellen. Auch die Gesetzgebung arbeitet zufriedenstellend; in zahlreichen Gesprächen mit verständigen, angesehenen Elsaß-Lothringern habe ich noch niemals die Klage vernommen, daß die verfassungsmäßige Mitwirkung des Kaisers und des Bundesrath bei Erlaß elsaß-lothringischer Landesgesetze von der Bevölkerung als eine Beeinträchtigung ihrer Rechte und Freiheiten empfunden wird; tatsächlich läge auch nicht der mindeste Grund dazu vor; ist doch der Volksvertretung ein weitgehendes Mitbestimmuugsrecht bei Erlaß der Landesgesetze gewährleistet; ohne ihre Zustimmung ist noch kein Gesetz erlassen worden, und gesetzgeberischen Wünschen und Anregungen aus dem Schoße des Landesausschusses hat die Landesregierung bisher stets — manchmal vielleicht sogar zu bereitwillig — entsprochen. Der Mitwirkung des Bundesrath mögen gewisse Schönheitsfehler anhaften — der Geschäftsgang im Bundesrat ist etwas schmerfällig, und für die Regierung ergeben sich daraus manche Unzuträglichkeiten —, aber das Volk hat wohl noch nie darüber zu klagen gehabt, daß der Erlaß eines wichtigen Gesetzes durch den Bundesrat zum Schaden des Landes verzögert worden wäre, oder daß der Bundesrat Gesetzen, über welche Landesausschuß und Landesregierung sich geeinigt hatten, seine Zustimmung versagt hätte. — Und die Gesetze selbst? — Gewiß haben manche von ihnen, Reichs- und Landesgesetze, trotz ihrer unleugbar guten Seiten zur Unzufriedenheit beigetragen; so z. B. wird unsere soziale Gesetzgebung mit ihren Tausenden von Paragraphen, die Neichsgewerbe- ordnung mit allen ihren die Freiheit des einzelnen beschränkenden Vorschriften über Sonntagsruhe, Beschäftigung von Frauen und Kindern in Fabriken, Gewerbeinspektion und dergleichen mehr gerade in Elsaß-Lothringen mit seiner alten, unter manchesterlichen Grundsätzen groß gewordenen Industrie vielfach als lästig empfunden; die bäuerliche Bevölkerung ist mit dem elsaß-lothringischen Jagdgesetz, mit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung u. a. unzufrieden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/217>, abgerufen am 29.12.2024.