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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

"Wo wohnt er?"

"In einem Dorfe etwa vier Werst von hier."

"Führen Sie uns auf dem kürzesten Wege zu ihm."

Zu Befehl, Ihre Hochgeboren. Aber es gibt in der Frühjahrszeit keinen
Weg dahin zum Fahren, Ihre Hochgeboren. Nicht einmal reiten kann man."

"Wie kommt man dann hin?"

"Nur zu Fuß, Ihre Hochgeboren."

Mit einem komisch-kläglichen Blick sah der Staatsanwalt um sicki. Doch
gleich richtete er sich entschlossen auf.

"Also zu Fuß."

"Herr Untersuchungsrichter," wandte er sich etwas spöttisch an seinen jungen
Kollegen und Untergebenen, "Sie werden hoffentlich gegen die Partie keine Ein¬
sprache erheben? Fußtouren sollen ja der Gesundheit sehr zuträglich sein."

"Mit den Wölfen soll man heulen, Herr Staatsanwalt," antwortete achsel-
zuckend der junge Mann mit ziemlich unzufriedener Miene.

"Und der Wolf ist diesmal der alte Staatsanwalt," lachte der Vorgesetzte.
"Tut nichts. Greifen Sie sich etwas an. Ich verspreche Ihnen, daß Sie zur Ent¬
schädigung in der Gouvernementsstadt recht viel sollen sitzen dürfen."

Die beiden Verhafteten wurden in der Begleitung von zwei Zehntnern und
zwei berittenen Wachtmeistern in dem Flecken abgefertigt. Die übrige Gesellschaft
machte sich ans den Weg zu dem anderen Dorfe. Leicht ging es nicht. Der alte
Herr hielt sich aber tapfer und stützte sich nur an den schwierigsten und unpassier¬
barsten Stellen auf den Arm des Okolitsch. Auch Schejin machte sich erträglich.
Die jämmerlichste Rolle spielten der Untersuchungsrichter und der Bezirksaufseher.
Sie wurden von den Zehntnern und Wachtmeistern geführt und gehoben und die
letzte Strecke fast getragen.

Als das Dörfchen zwischen den Bäumen bereits sichtbar wurde, kam der
Gesuchte ihnen entgegen. Er hatte die Flinte auf der Schulter und die Leder¬
tasche um. Er wollte in den Wald. Unschlüssig blieb er stehen, als er so un¬
erwartet die Uniformen vor sich sah. Er wurde gefaßt, und es war gut, daß es
so schnell geschah, denn als ihm in seinem harten Kopfe erst ein Licht darüber
aufging, daß man ihn arretierte, begann er unter groben Kraftausdrücken sich zu
sträuben und zu wehren. Er beruhigte sich nicht anders, er mußte gebunden werden.

Auch in seinem Hause und Hofe ergab die Untersuchung nichts. Er selbst
antwortete auf alle Fragen nur mit Flüchen und unflätigen Reden. Das Weib
und die Kinder weinten und beteuerten, man beschuldige den Mann unnütz.

"Wie die Närrin für ihn bittet!" sagte der Wachtmeister zu seinen Kameraden;
"und doch prügelt er sie täglich."

Nun war die Weisheit zu Ende. Traurig sahen Schejin und Okolitsch ein¬
ander an. Der Staatsanwalt rieb sich ärgerlich die Stirn.

Die wenigen Bewohner des Dörfchens standen als Zuschauer in respektvoller
Entfernung. Ein Mann aber war zu den Zehntnern getreten, die die Eingänge
hüteten, und unterhielt sich mit ihnen. Er hatte eine Flinte auf der Schulter
und eine schwarze Fellmütze mit einem Blechabzeichen auf dem Kopfe. Allmählich
schob er sich weiter vor und stand im Hofe. Okolitsch nickte ihm zu. Es war
sein guter Bekannter, der Kronsforstwächter Jurij.


Im Flecken

„Wo wohnt er?"

„In einem Dorfe etwa vier Werst von hier."

„Führen Sie uns auf dem kürzesten Wege zu ihm."

Zu Befehl, Ihre Hochgeboren. Aber es gibt in der Frühjahrszeit keinen
Weg dahin zum Fahren, Ihre Hochgeboren. Nicht einmal reiten kann man."

„Wie kommt man dann hin?"

„Nur zu Fuß, Ihre Hochgeboren."

Mit einem komisch-kläglichen Blick sah der Staatsanwalt um sicki. Doch
gleich richtete er sich entschlossen auf.

„Also zu Fuß."

„Herr Untersuchungsrichter," wandte er sich etwas spöttisch an seinen jungen
Kollegen und Untergebenen, „Sie werden hoffentlich gegen die Partie keine Ein¬
sprache erheben? Fußtouren sollen ja der Gesundheit sehr zuträglich sein."

„Mit den Wölfen soll man heulen, Herr Staatsanwalt," antwortete achsel-
zuckend der junge Mann mit ziemlich unzufriedener Miene.

„Und der Wolf ist diesmal der alte Staatsanwalt," lachte der Vorgesetzte.
„Tut nichts. Greifen Sie sich etwas an. Ich verspreche Ihnen, daß Sie zur Ent¬
schädigung in der Gouvernementsstadt recht viel sollen sitzen dürfen."

Die beiden Verhafteten wurden in der Begleitung von zwei Zehntnern und
zwei berittenen Wachtmeistern in dem Flecken abgefertigt. Die übrige Gesellschaft
machte sich ans den Weg zu dem anderen Dorfe. Leicht ging es nicht. Der alte
Herr hielt sich aber tapfer und stützte sich nur an den schwierigsten und unpassier¬
barsten Stellen auf den Arm des Okolitsch. Auch Schejin machte sich erträglich.
Die jämmerlichste Rolle spielten der Untersuchungsrichter und der Bezirksaufseher.
Sie wurden von den Zehntnern und Wachtmeistern geführt und gehoben und die
letzte Strecke fast getragen.

Als das Dörfchen zwischen den Bäumen bereits sichtbar wurde, kam der
Gesuchte ihnen entgegen. Er hatte die Flinte auf der Schulter und die Leder¬
tasche um. Er wollte in den Wald. Unschlüssig blieb er stehen, als er so un¬
erwartet die Uniformen vor sich sah. Er wurde gefaßt, und es war gut, daß es
so schnell geschah, denn als ihm in seinem harten Kopfe erst ein Licht darüber
aufging, daß man ihn arretierte, begann er unter groben Kraftausdrücken sich zu
sträuben und zu wehren. Er beruhigte sich nicht anders, er mußte gebunden werden.

Auch in seinem Hause und Hofe ergab die Untersuchung nichts. Er selbst
antwortete auf alle Fragen nur mit Flüchen und unflätigen Reden. Das Weib
und die Kinder weinten und beteuerten, man beschuldige den Mann unnütz.

„Wie die Närrin für ihn bittet!" sagte der Wachtmeister zu seinen Kameraden;
„und doch prügelt er sie täglich."

Nun war die Weisheit zu Ende. Traurig sahen Schejin und Okolitsch ein¬
ander an. Der Staatsanwalt rieb sich ärgerlich die Stirn.

Die wenigen Bewohner des Dörfchens standen als Zuschauer in respektvoller
Entfernung. Ein Mann aber war zu den Zehntnern getreten, die die Eingänge
hüteten, und unterhielt sich mit ihnen. Er hatte eine Flinte auf der Schulter
und eine schwarze Fellmütze mit einem Blechabzeichen auf dem Kopfe. Allmählich
schob er sich weiter vor und stand im Hofe. Okolitsch nickte ihm zu. Es war
sein guter Bekannter, der Kronsforstwächter Jurij.


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[0196] Im Flecken „Wo wohnt er?" „In einem Dorfe etwa vier Werst von hier." „Führen Sie uns auf dem kürzesten Wege zu ihm." Zu Befehl, Ihre Hochgeboren. Aber es gibt in der Frühjahrszeit keinen Weg dahin zum Fahren, Ihre Hochgeboren. Nicht einmal reiten kann man." „Wie kommt man dann hin?" „Nur zu Fuß, Ihre Hochgeboren." Mit einem komisch-kläglichen Blick sah der Staatsanwalt um sicki. Doch gleich richtete er sich entschlossen auf. „Also zu Fuß." „Herr Untersuchungsrichter," wandte er sich etwas spöttisch an seinen jungen Kollegen und Untergebenen, „Sie werden hoffentlich gegen die Partie keine Ein¬ sprache erheben? Fußtouren sollen ja der Gesundheit sehr zuträglich sein." „Mit den Wölfen soll man heulen, Herr Staatsanwalt," antwortete achsel- zuckend der junge Mann mit ziemlich unzufriedener Miene. „Und der Wolf ist diesmal der alte Staatsanwalt," lachte der Vorgesetzte. „Tut nichts. Greifen Sie sich etwas an. Ich verspreche Ihnen, daß Sie zur Ent¬ schädigung in der Gouvernementsstadt recht viel sollen sitzen dürfen." Die beiden Verhafteten wurden in der Begleitung von zwei Zehntnern und zwei berittenen Wachtmeistern in dem Flecken abgefertigt. Die übrige Gesellschaft machte sich ans den Weg zu dem anderen Dorfe. Leicht ging es nicht. Der alte Herr hielt sich aber tapfer und stützte sich nur an den schwierigsten und unpassier¬ barsten Stellen auf den Arm des Okolitsch. Auch Schejin machte sich erträglich. Die jämmerlichste Rolle spielten der Untersuchungsrichter und der Bezirksaufseher. Sie wurden von den Zehntnern und Wachtmeistern geführt und gehoben und die letzte Strecke fast getragen. Als das Dörfchen zwischen den Bäumen bereits sichtbar wurde, kam der Gesuchte ihnen entgegen. Er hatte die Flinte auf der Schulter und die Leder¬ tasche um. Er wollte in den Wald. Unschlüssig blieb er stehen, als er so un¬ erwartet die Uniformen vor sich sah. Er wurde gefaßt, und es war gut, daß es so schnell geschah, denn als ihm in seinem harten Kopfe erst ein Licht darüber aufging, daß man ihn arretierte, begann er unter groben Kraftausdrücken sich zu sträuben und zu wehren. Er beruhigte sich nicht anders, er mußte gebunden werden. Auch in seinem Hause und Hofe ergab die Untersuchung nichts. Er selbst antwortete auf alle Fragen nur mit Flüchen und unflätigen Reden. Das Weib und die Kinder weinten und beteuerten, man beschuldige den Mann unnütz. „Wie die Närrin für ihn bittet!" sagte der Wachtmeister zu seinen Kameraden; „und doch prügelt er sie täglich." Nun war die Weisheit zu Ende. Traurig sahen Schejin und Okolitsch ein¬ ander an. Der Staatsanwalt rieb sich ärgerlich die Stirn. Die wenigen Bewohner des Dörfchens standen als Zuschauer in respektvoller Entfernung. Ein Mann aber war zu den Zehntnern getreten, die die Eingänge hüteten, und unterhielt sich mit ihnen. Er hatte eine Flinte auf der Schulter und eine schwarze Fellmütze mit einem Blechabzeichen auf dem Kopfe. Allmählich schob er sich weiter vor und stand im Hofe. Okolitsch nickte ihm zu. Es war sein guter Bekannter, der Kronsforstwächter Jurij.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/196>, abgerufen am 29.12.2024.