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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

Nikifor wurde trotzdem arretiert und einstweilen der Bewachung zweier
Zehntner übergeben.

Das Haus des Schwagers kam an die Reihe. Die Insassen erschienen.
Der lange Kerl mit dem gelbblonden Barte war nicht dabei.

"Wo ist der Wirt?"

"Ich bin der Wirt."

Ein kleiner, breitschulteriger Mann trat vor.

"Wachtmeister, ist das der Wirt?"

"Jawohl, Ihre Hochgeboren I"

."Das ist also der Schwager des Nikifor?"

"Jawohl, Ihre Hochgeboren!"

"Der Schwager soll aber ein langer Kerl sein mit einem gelben Barte."

"Nein, Ihre Hochgeboren. Dies ist der Schwager."

"Herr Okolitsch, seien Sie so freundlich, dem Wachtmeister den Mann zu be¬
schreiben, den wir suchen."

Okolitsch tat es. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf.

"Einen solchen gibt es im Dorfe nicht."

"Ganz bestimmt nicht?"

"Ganz bestimmt nicht, Ihre Hochgeboren".

Der Staatsanwalt überlegte einen Augenblick.

"Der Mann wird doch arretiert," sagte er dann. "Ich denke es zu verant¬
worten. Das Haus und der Hof werden untersucht. Dann wollen wir nach dem
Langen forschen."

Die Mühe war ohne Erfolg. Die Haussuchung ergab nicht das geringste Resultat.

"Ich meine," sagte der Staatsanwalt bedächtig, "wir versammeln die Bauern¬
schaft, und Sie, Herr Okolitsch, beschreiben der ganzen Gemeinde, wie der Lange
aussieht. Irgend jemand wird sich doch vorfinden, der ihn kennt. Sind Sie
gewiß, daß der Betrunkene ihn damals wirklich Schwager nannte?"

"Der Betrunkene ihn und er den Betrunkenen. Ich bin ganz gewiß. Doch
erlauben Sie mir noch einmal mit dem Wachtmeister zu reden. Ich kann mir
nicht denken, daß dieser eine so auffallende Persönlichkeit nicht kennen sollte."

"Mit Vergnügen."

Der Wachtmeister kam. Okolitsch nannte ihm in aller Ausführlichkeit die
Merkmale: den Wuchs, die Stärke, das Haar und den Bart, die Augen, den
frechen und tierischen Ausdruck des Gesichts. Der Polizeimann stand vor ihm
und hörte pflichtschuldig zu, es war jedoch klar, daß die Worte in ihm keine
Erinnerung wachriefen.

"Er ist auch Jäger," fügte Okolitsch hinzu, "treibt sich mit der Flinte umher.
Vor etwa einer Woche hat ein Bär ihn im Walde erschreckt."

Da flog es wie ein Lichtstrahl über dle Züge des Wachtmeisters. Er hob
die Hand an die Mütze und kehrte sich zum Staatsanwalt."

"Ihre Hochgeboren, ich weiß jetzt. Ich kenne den Menschen.

"Was wissen Sie von ihm?"

"Er hat den Nachbarn erzählt, daß ihn beinahe ein Bär gefressen hätte. Er
sieht genau so aus, wie der junge Herr sagt, und er ist auch ein Schwager des
Nikifor, aber er wohnt nicht in diesem Dorfe."


Im Flecken

Nikifor wurde trotzdem arretiert und einstweilen der Bewachung zweier
Zehntner übergeben.

Das Haus des Schwagers kam an die Reihe. Die Insassen erschienen.
Der lange Kerl mit dem gelbblonden Barte war nicht dabei.

„Wo ist der Wirt?"

„Ich bin der Wirt."

Ein kleiner, breitschulteriger Mann trat vor.

„Wachtmeister, ist das der Wirt?"

„Jawohl, Ihre Hochgeboren I"

.„Das ist also der Schwager des Nikifor?"

„Jawohl, Ihre Hochgeboren!"

„Der Schwager soll aber ein langer Kerl sein mit einem gelben Barte."

„Nein, Ihre Hochgeboren. Dies ist der Schwager."

„Herr Okolitsch, seien Sie so freundlich, dem Wachtmeister den Mann zu be¬
schreiben, den wir suchen."

Okolitsch tat es. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf.

„Einen solchen gibt es im Dorfe nicht."

„Ganz bestimmt nicht?"

„Ganz bestimmt nicht, Ihre Hochgeboren".

Der Staatsanwalt überlegte einen Augenblick.

„Der Mann wird doch arretiert," sagte er dann. „Ich denke es zu verant¬
worten. Das Haus und der Hof werden untersucht. Dann wollen wir nach dem
Langen forschen."

Die Mühe war ohne Erfolg. Die Haussuchung ergab nicht das geringste Resultat.

„Ich meine," sagte der Staatsanwalt bedächtig, „wir versammeln die Bauern¬
schaft, und Sie, Herr Okolitsch, beschreiben der ganzen Gemeinde, wie der Lange
aussieht. Irgend jemand wird sich doch vorfinden, der ihn kennt. Sind Sie
gewiß, daß der Betrunkene ihn damals wirklich Schwager nannte?"

„Der Betrunkene ihn und er den Betrunkenen. Ich bin ganz gewiß. Doch
erlauben Sie mir noch einmal mit dem Wachtmeister zu reden. Ich kann mir
nicht denken, daß dieser eine so auffallende Persönlichkeit nicht kennen sollte."

„Mit Vergnügen."

Der Wachtmeister kam. Okolitsch nannte ihm in aller Ausführlichkeit die
Merkmale: den Wuchs, die Stärke, das Haar und den Bart, die Augen, den
frechen und tierischen Ausdruck des Gesichts. Der Polizeimann stand vor ihm
und hörte pflichtschuldig zu, es war jedoch klar, daß die Worte in ihm keine
Erinnerung wachriefen.

„Er ist auch Jäger," fügte Okolitsch hinzu, „treibt sich mit der Flinte umher.
Vor etwa einer Woche hat ein Bär ihn im Walde erschreckt."

Da flog es wie ein Lichtstrahl über dle Züge des Wachtmeisters. Er hob
die Hand an die Mütze und kehrte sich zum Staatsanwalt."

„Ihre Hochgeboren, ich weiß jetzt. Ich kenne den Menschen.

„Was wissen Sie von ihm?"

„Er hat den Nachbarn erzählt, daß ihn beinahe ein Bär gefressen hätte. Er
sieht genau so aus, wie der junge Herr sagt, und er ist auch ein Schwager des
Nikifor, aber er wohnt nicht in diesem Dorfe."


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[0195] Im Flecken Nikifor wurde trotzdem arretiert und einstweilen der Bewachung zweier Zehntner übergeben. Das Haus des Schwagers kam an die Reihe. Die Insassen erschienen. Der lange Kerl mit dem gelbblonden Barte war nicht dabei. „Wo ist der Wirt?" „Ich bin der Wirt." Ein kleiner, breitschulteriger Mann trat vor. „Wachtmeister, ist das der Wirt?" „Jawohl, Ihre Hochgeboren I" .„Das ist also der Schwager des Nikifor?" „Jawohl, Ihre Hochgeboren!" „Der Schwager soll aber ein langer Kerl sein mit einem gelben Barte." „Nein, Ihre Hochgeboren. Dies ist der Schwager." „Herr Okolitsch, seien Sie so freundlich, dem Wachtmeister den Mann zu be¬ schreiben, den wir suchen." Okolitsch tat es. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. „Einen solchen gibt es im Dorfe nicht." „Ganz bestimmt nicht?" „Ganz bestimmt nicht, Ihre Hochgeboren". Der Staatsanwalt überlegte einen Augenblick. „Der Mann wird doch arretiert," sagte er dann. „Ich denke es zu verant¬ worten. Das Haus und der Hof werden untersucht. Dann wollen wir nach dem Langen forschen." Die Mühe war ohne Erfolg. Die Haussuchung ergab nicht das geringste Resultat. „Ich meine," sagte der Staatsanwalt bedächtig, „wir versammeln die Bauern¬ schaft, und Sie, Herr Okolitsch, beschreiben der ganzen Gemeinde, wie der Lange aussieht. Irgend jemand wird sich doch vorfinden, der ihn kennt. Sind Sie gewiß, daß der Betrunkene ihn damals wirklich Schwager nannte?" „Der Betrunkene ihn und er den Betrunkenen. Ich bin ganz gewiß. Doch erlauben Sie mir noch einmal mit dem Wachtmeister zu reden. Ich kann mir nicht denken, daß dieser eine so auffallende Persönlichkeit nicht kennen sollte." „Mit Vergnügen." Der Wachtmeister kam. Okolitsch nannte ihm in aller Ausführlichkeit die Merkmale: den Wuchs, die Stärke, das Haar und den Bart, die Augen, den frechen und tierischen Ausdruck des Gesichts. Der Polizeimann stand vor ihm und hörte pflichtschuldig zu, es war jedoch klar, daß die Worte in ihm keine Erinnerung wachriefen. „Er ist auch Jäger," fügte Okolitsch hinzu, „treibt sich mit der Flinte umher. Vor etwa einer Woche hat ein Bär ihn im Walde erschreckt." Da flog es wie ein Lichtstrahl über dle Züge des Wachtmeisters. Er hob die Hand an die Mütze und kehrte sich zum Staatsanwalt." „Ihre Hochgeboren, ich weiß jetzt. Ich kenne den Menschen. „Was wissen Sie von ihm?" „Er hat den Nachbarn erzählt, daß ihn beinahe ein Bär gefressen hätte. Er sieht genau so aus, wie der junge Herr sagt, und er ist auch ein Schwager des Nikifor, aber er wohnt nicht in diesem Dorfe."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/195>, abgerufen am 29.12.2024.