Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Marokkanischer Brief

schraubung der französischen Ansprüche, mit der die Kolonialpartei jenseits der
Vogesen äußerst unzufrieden war. Ebensowenig konnten die deutschen Interessenten
mit den Ergebnissen der Konferenz völlig zufrieden sein, denn mancher ihrer
Wünsche war nicht in Erfüllung gegangen, vor allein war die wirtschaftliche
Vormachtsstellung Frankreichs in der Akte festgelegt worden. Kurz, es
war ein Kompromiß zustande gekommen, mit dem, wie meist in solchen
Fällen, keiner der Interessenten ganz zufrieden war. Die monopolistischen
Aspirationen Frankreichs waren zwar zum größten Teil zurückgewiesen worden,
die Frage nach den: politischen Einfluß Frankreichs blieb aber nach wie vor
offen. Die Lösung dieser Frage, nicht etwa die Bestimmungen der Algecirasakte,
entschied aber über die künftige Wahrung der deutschen Interessen in Marokko,
denn es ist eine Binsenwahrheit, die keiner Erörterung bedarf, daß in orien¬
talischen Staaten von der Kulturstufe Marokkos derjenige, der die politische
Macht in Händen hat, auf die Dauer auch die wirtschaftlichen Verhältnisse
unumschränkt beherrscht; Wirtschaft und Politik lassen sich in diesen Staaten
einfach nicht voneinander trennen. Die französische Regierung hatte die Situation
sofort erfaßt und die erste sich bietende Gelegenheit benutzt, um sich den politischen
Einfluß in Fes zu sichern. Die Ereignisse in Casabianca boten ihr willkommenen
Anlaß, die reichste Provinz Marokkos zu okkupieren und damit der marokkanischen
Regierung eine kräftige Daumenschraube anzulegen. Die deutsche Negierung
konnte sich über die Bedeutung des französischen Vorgehens nicht ini unklaren
sein und mußte nicht nur mit einer Vertagung der Trupvenräumung nei calenäss
Zrasca8, sondern auch mit einer allmählichen Ausdehnung der Okkupation rechnen,
denn die Okkupation Ägyptens wies in dieser Hinsicht deutlich deu Weg. Trotz¬
dem hat sich Deutschland mit der geschaffenen Lage abgefunden und auch nicht
versucht, eine zeitliche Grenze der Besetzung marokkanischen Gebiets durchzusetzen.
Es hat zwar eine Zeitlang den neuen Sultan Mulay Hafid gegen die fran¬
zösischen Pläne diplomatisch unterstützt, aber auch diese Unterstützung schließlich
im Hinblick auf die Macht der tatsächlichen Verhältnisse aufgegeben.

Am 9. Februar 1909, plötzlich und unerwartet für alle Interessenten, schlössen
die beiden Regierungen ein Abkommen, worin Deutschland ausdrücklich anerkannte,
"daß die besonderen politischen Interessen Frankreichs mit der Sicherung von
Ordnung und Frieden in Marokko eng verknüpft sind", und feierlich erklärte,
"bestimmt gewillt zu sein, diesen Interessen nicht entgegenzuwirken". Frank¬
reich dagegen versprach, unbedingt an der Wahrung der "Integrität und
Unabhängigkeit" des scherifischen Reiches festzuhalten und den deutscheu Handels¬
und gewerblichen Interessen daselbst nicht entgegenzuwirken. Beide Regierungen
erklärten endlich, "daß sie keine Maßregel ergreifen noch ermutigen werden, die
geeignet wäre, zu ihren eigenen Gunsten oder zugunsten irgendeiner Macht wirt¬
schaftliche Vorrechte zu schaffen, und daß sie trachten werden, ihre Staats¬
angehörigen an denjenigen Geschäften gemeinsam zu beteiligen, deren Ausführung
diesen übertragen werden sollte".


Marokkanischer Brief

schraubung der französischen Ansprüche, mit der die Kolonialpartei jenseits der
Vogesen äußerst unzufrieden war. Ebensowenig konnten die deutschen Interessenten
mit den Ergebnissen der Konferenz völlig zufrieden sein, denn mancher ihrer
Wünsche war nicht in Erfüllung gegangen, vor allein war die wirtschaftliche
Vormachtsstellung Frankreichs in der Akte festgelegt worden. Kurz, es
war ein Kompromiß zustande gekommen, mit dem, wie meist in solchen
Fällen, keiner der Interessenten ganz zufrieden war. Die monopolistischen
Aspirationen Frankreichs waren zwar zum größten Teil zurückgewiesen worden,
die Frage nach den: politischen Einfluß Frankreichs blieb aber nach wie vor
offen. Die Lösung dieser Frage, nicht etwa die Bestimmungen der Algecirasakte,
entschied aber über die künftige Wahrung der deutschen Interessen in Marokko,
denn es ist eine Binsenwahrheit, die keiner Erörterung bedarf, daß in orien¬
talischen Staaten von der Kulturstufe Marokkos derjenige, der die politische
Macht in Händen hat, auf die Dauer auch die wirtschaftlichen Verhältnisse
unumschränkt beherrscht; Wirtschaft und Politik lassen sich in diesen Staaten
einfach nicht voneinander trennen. Die französische Regierung hatte die Situation
sofort erfaßt und die erste sich bietende Gelegenheit benutzt, um sich den politischen
Einfluß in Fes zu sichern. Die Ereignisse in Casabianca boten ihr willkommenen
Anlaß, die reichste Provinz Marokkos zu okkupieren und damit der marokkanischen
Regierung eine kräftige Daumenschraube anzulegen. Die deutsche Negierung
konnte sich über die Bedeutung des französischen Vorgehens nicht ini unklaren
sein und mußte nicht nur mit einer Vertagung der Trupvenräumung nei calenäss
Zrasca8, sondern auch mit einer allmählichen Ausdehnung der Okkupation rechnen,
denn die Okkupation Ägyptens wies in dieser Hinsicht deutlich deu Weg. Trotz¬
dem hat sich Deutschland mit der geschaffenen Lage abgefunden und auch nicht
versucht, eine zeitliche Grenze der Besetzung marokkanischen Gebiets durchzusetzen.
Es hat zwar eine Zeitlang den neuen Sultan Mulay Hafid gegen die fran¬
zösischen Pläne diplomatisch unterstützt, aber auch diese Unterstützung schließlich
im Hinblick auf die Macht der tatsächlichen Verhältnisse aufgegeben.

Am 9. Februar 1909, plötzlich und unerwartet für alle Interessenten, schlössen
die beiden Regierungen ein Abkommen, worin Deutschland ausdrücklich anerkannte,
„daß die besonderen politischen Interessen Frankreichs mit der Sicherung von
Ordnung und Frieden in Marokko eng verknüpft sind", und feierlich erklärte,
„bestimmt gewillt zu sein, diesen Interessen nicht entgegenzuwirken". Frank¬
reich dagegen versprach, unbedingt an der Wahrung der „Integrität und
Unabhängigkeit" des scherifischen Reiches festzuhalten und den deutscheu Handels¬
und gewerblichen Interessen daselbst nicht entgegenzuwirken. Beide Regierungen
erklärten endlich, „daß sie keine Maßregel ergreifen noch ermutigen werden, die
geeignet wäre, zu ihren eigenen Gunsten oder zugunsten irgendeiner Macht wirt¬
schaftliche Vorrechte zu schaffen, und daß sie trachten werden, ihre Staats¬
angehörigen an denjenigen Geschäften gemeinsam zu beteiligen, deren Ausführung
diesen übertragen werden sollte".


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317759"/>
          <fw type="header" place="top"> Marokkanischer Brief</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_646" prev="#ID_645"> schraubung der französischen Ansprüche, mit der die Kolonialpartei jenseits der<lb/>
Vogesen äußerst unzufrieden war. Ebensowenig konnten die deutschen Interessenten<lb/>
mit den Ergebnissen der Konferenz völlig zufrieden sein, denn mancher ihrer<lb/>
Wünsche war nicht in Erfüllung gegangen, vor allein war die wirtschaftliche<lb/>
Vormachtsstellung Frankreichs in der Akte festgelegt worden. Kurz, es<lb/>
war ein Kompromiß zustande gekommen, mit dem, wie meist in solchen<lb/>
Fällen, keiner der Interessenten ganz zufrieden war. Die monopolistischen<lb/>
Aspirationen Frankreichs waren zwar zum größten Teil zurückgewiesen worden,<lb/>
die Frage nach den: politischen Einfluß Frankreichs blieb aber nach wie vor<lb/>
offen. Die Lösung dieser Frage, nicht etwa die Bestimmungen der Algecirasakte,<lb/>
entschied aber über die künftige Wahrung der deutschen Interessen in Marokko,<lb/>
denn es ist eine Binsenwahrheit, die keiner Erörterung bedarf, daß in orien¬<lb/>
talischen Staaten von der Kulturstufe Marokkos derjenige, der die politische<lb/>
Macht in Händen hat, auf die Dauer auch die wirtschaftlichen Verhältnisse<lb/>
unumschränkt beherrscht; Wirtschaft und Politik lassen sich in diesen Staaten<lb/>
einfach nicht voneinander trennen. Die französische Regierung hatte die Situation<lb/>
sofort erfaßt und die erste sich bietende Gelegenheit benutzt, um sich den politischen<lb/>
Einfluß in Fes zu sichern. Die Ereignisse in Casabianca boten ihr willkommenen<lb/>
Anlaß, die reichste Provinz Marokkos zu okkupieren und damit der marokkanischen<lb/>
Regierung eine kräftige Daumenschraube anzulegen. Die deutsche Negierung<lb/>
konnte sich über die Bedeutung des französischen Vorgehens nicht ini unklaren<lb/>
sein und mußte nicht nur mit einer Vertagung der Trupvenräumung nei calenäss<lb/>
Zrasca8, sondern auch mit einer allmählichen Ausdehnung der Okkupation rechnen,<lb/>
denn die Okkupation Ägyptens wies in dieser Hinsicht deutlich deu Weg. Trotz¬<lb/>
dem hat sich Deutschland mit der geschaffenen Lage abgefunden und auch nicht<lb/>
versucht, eine zeitliche Grenze der Besetzung marokkanischen Gebiets durchzusetzen.<lb/>
Es hat zwar eine Zeitlang den neuen Sultan Mulay Hafid gegen die fran¬<lb/>
zösischen Pläne diplomatisch unterstützt, aber auch diese Unterstützung schließlich<lb/>
im Hinblick auf die Macht der tatsächlichen Verhältnisse aufgegeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_647"> Am 9. Februar 1909, plötzlich und unerwartet für alle Interessenten, schlössen<lb/>
die beiden Regierungen ein Abkommen, worin Deutschland ausdrücklich anerkannte,<lb/>
&#x201E;daß die besonderen politischen Interessen Frankreichs mit der Sicherung von<lb/>
Ordnung und Frieden in Marokko eng verknüpft sind", und feierlich erklärte,<lb/>
&#x201E;bestimmt gewillt zu sein, diesen Interessen nicht entgegenzuwirken". Frank¬<lb/>
reich dagegen versprach, unbedingt an der Wahrung der &#x201E;Integrität und<lb/>
Unabhängigkeit" des scherifischen Reiches festzuhalten und den deutscheu Handels¬<lb/>
und gewerblichen Interessen daselbst nicht entgegenzuwirken. Beide Regierungen<lb/>
erklärten endlich, &#x201E;daß sie keine Maßregel ergreifen noch ermutigen werden, die<lb/>
geeignet wäre, zu ihren eigenen Gunsten oder zugunsten irgendeiner Macht wirt¬<lb/>
schaftliche Vorrechte zu schaffen, und daß sie trachten werden, ihre Staats¬<lb/>
angehörigen an denjenigen Geschäften gemeinsam zu beteiligen, deren Ausführung<lb/>
diesen übertragen werden sollte".</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0146] Marokkanischer Brief schraubung der französischen Ansprüche, mit der die Kolonialpartei jenseits der Vogesen äußerst unzufrieden war. Ebensowenig konnten die deutschen Interessenten mit den Ergebnissen der Konferenz völlig zufrieden sein, denn mancher ihrer Wünsche war nicht in Erfüllung gegangen, vor allein war die wirtschaftliche Vormachtsstellung Frankreichs in der Akte festgelegt worden. Kurz, es war ein Kompromiß zustande gekommen, mit dem, wie meist in solchen Fällen, keiner der Interessenten ganz zufrieden war. Die monopolistischen Aspirationen Frankreichs waren zwar zum größten Teil zurückgewiesen worden, die Frage nach den: politischen Einfluß Frankreichs blieb aber nach wie vor offen. Die Lösung dieser Frage, nicht etwa die Bestimmungen der Algecirasakte, entschied aber über die künftige Wahrung der deutschen Interessen in Marokko, denn es ist eine Binsenwahrheit, die keiner Erörterung bedarf, daß in orien¬ talischen Staaten von der Kulturstufe Marokkos derjenige, der die politische Macht in Händen hat, auf die Dauer auch die wirtschaftlichen Verhältnisse unumschränkt beherrscht; Wirtschaft und Politik lassen sich in diesen Staaten einfach nicht voneinander trennen. Die französische Regierung hatte die Situation sofort erfaßt und die erste sich bietende Gelegenheit benutzt, um sich den politischen Einfluß in Fes zu sichern. Die Ereignisse in Casabianca boten ihr willkommenen Anlaß, die reichste Provinz Marokkos zu okkupieren und damit der marokkanischen Regierung eine kräftige Daumenschraube anzulegen. Die deutsche Negierung konnte sich über die Bedeutung des französischen Vorgehens nicht ini unklaren sein und mußte nicht nur mit einer Vertagung der Trupvenräumung nei calenäss Zrasca8, sondern auch mit einer allmählichen Ausdehnung der Okkupation rechnen, denn die Okkupation Ägyptens wies in dieser Hinsicht deutlich deu Weg. Trotz¬ dem hat sich Deutschland mit der geschaffenen Lage abgefunden und auch nicht versucht, eine zeitliche Grenze der Besetzung marokkanischen Gebiets durchzusetzen. Es hat zwar eine Zeitlang den neuen Sultan Mulay Hafid gegen die fran¬ zösischen Pläne diplomatisch unterstützt, aber auch diese Unterstützung schließlich im Hinblick auf die Macht der tatsächlichen Verhältnisse aufgegeben. Am 9. Februar 1909, plötzlich und unerwartet für alle Interessenten, schlössen die beiden Regierungen ein Abkommen, worin Deutschland ausdrücklich anerkannte, „daß die besonderen politischen Interessen Frankreichs mit der Sicherung von Ordnung und Frieden in Marokko eng verknüpft sind", und feierlich erklärte, „bestimmt gewillt zu sein, diesen Interessen nicht entgegenzuwirken". Frank¬ reich dagegen versprach, unbedingt an der Wahrung der „Integrität und Unabhängigkeit" des scherifischen Reiches festzuhalten und den deutscheu Handels¬ und gewerblichen Interessen daselbst nicht entgegenzuwirken. Beide Regierungen erklärten endlich, „daß sie keine Maßregel ergreifen noch ermutigen werden, die geeignet wäre, zu ihren eigenen Gunsten oder zugunsten irgendeiner Macht wirt¬ schaftliche Vorrechte zu schaffen, und daß sie trachten werden, ihre Staats¬ angehörigen an denjenigen Geschäften gemeinsam zu beteiligen, deren Ausführung diesen übertragen werden sollte".

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/146
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/146>, abgerufen am 24.07.2024.