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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenknnst in den letzten zwanzig Jahren

auf das der Bühne. Die heroische Kunst, die bis in die neunziger Jahre auf
den deutschen Hoftheatern zu Hause war, starb mit ihren großen Vertretern mehr
und mehr ab. Die Autorität dieser Kunst wurde in dem Augenblick ernsthaft
erschüttert, wo die suggestiven Persönlichkeiten einer Charlotte Wolter, eines
Sonnenthal, Mitterwurzer und Baumeister von der Szene abtraten. Adalbert
Matkowskys Tod (1908) war ihr letzter und herbster Verlust. Der würdige
Nachwuchs hat bis heute auf sich warten lassen. Das junge Schauspielergeschlecht
hat zu dem Pathos von gestern keine inneren Beziehungen mehr, ist auch, was
stilisierte Sprechkunst und vornehme Gesten anlangt, noch aus den Zeiten des
Naturalismus her arg verwildert und schon deshalb dem klassischen Drama wohl
ein für allemal verloren. Das technische Unvermögen des Schauspielers, Verse
zu sprechen, wirkt auf unseren Bühnen oft geradezu unerträglich. Der Naturalist
Bassermann in Shakespeareschen oder Schillerschen Rollen ist dafür der schlag¬
kräftigste Beweis. Das Pathos von gestern ist tot und das Pathos von heute,
wie es scheint, noch nicht gefunden. Die paar markanten Köpfe, die die erlauchte
Überlieferung einer alten Theaterkultur in die neue Zeit hinübergerettet haben,
treten mehr und mehr in den Hintergrund. Und um das glänzende schauspielerische
Heldentum einer Adele Sandrock, einer Atome Wiecke, einer Rosa Poppe und
einer Hedwig Bleibtreu schwebt schon heute der Hauch einer vornehmen, aber
weltentrückten Einsamkeit. Wer auf diesem Felde reorganisieren will, wird mit
einer Umbildung der schauspielerischen Sprechkunst beginnen müssen. Hier winken
neue Ziele, denen die veränderte Art des menschlichen Sehens ganz und gar nicht
im Wege steht.

Ein einziger hat mit genialischem Instinkt den Ausgleich zwischen gestern
und heute gefunden: Josef Kainz, dieser märchenhafte Glücksfall der modernen
deutschen Bühne. Seiner schon jetzt von wehmütigen Vergangenheitszauber
umwitterten Kunst fehlte alles Typische. Er paßte in keine Schablone, denn
er war ein ganz seltener Ausnahmefall in des Wortes schönster und edelster
Bedeutung. Eine unendlich reiche Sprachtechnik -- Verse aus seinen: Munde
strömten die herrlichste musikalische Suggestion aus -- verband er mit den
seelischen Differenziertheiten des modernen Nervenmenschen und den: natürlichen
Adel des erlesenen Götterlieblings. Er verwob Klassizität und moderne Welt¬
anschauung mit fast nachlässiger Eleganz ineinander. Er war der genialste
und doch menschlichste Hamlet, den die deutsche Bühne gesehen hat. Und, was
das Wichtigste ist, er prägte den Stil, nach den: die Zeit so inbrünstig rang.
Er zeigte einer anders denkenden Epoche die Ewigkeitswerte der großen klassischen
Tragödie. Aber er zeigte sie nicht mit den Kunstmitteln eines halbversunkenen
Geschlechts, sondern, frei von jeder Komödiantenpose, mit der selbstschöpferischen
Genialität eines Menschen von heutzutage. Es führt keine Brücke von ihm zu
der Hauptmasse der modernen Schauspieler, trotz der zahllosen Nachahmer, die
er gefunden hat. Aber die mühelose Selbstverständlichkeit seines Talentes, für
das es überhaupt keine Bühnenprobleme im Sinne dieser Arbeit gab, hat dein


Deutsche Bühnenknnst in den letzten zwanzig Jahren

auf das der Bühne. Die heroische Kunst, die bis in die neunziger Jahre auf
den deutschen Hoftheatern zu Hause war, starb mit ihren großen Vertretern mehr
und mehr ab. Die Autorität dieser Kunst wurde in dem Augenblick ernsthaft
erschüttert, wo die suggestiven Persönlichkeiten einer Charlotte Wolter, eines
Sonnenthal, Mitterwurzer und Baumeister von der Szene abtraten. Adalbert
Matkowskys Tod (1908) war ihr letzter und herbster Verlust. Der würdige
Nachwuchs hat bis heute auf sich warten lassen. Das junge Schauspielergeschlecht
hat zu dem Pathos von gestern keine inneren Beziehungen mehr, ist auch, was
stilisierte Sprechkunst und vornehme Gesten anlangt, noch aus den Zeiten des
Naturalismus her arg verwildert und schon deshalb dem klassischen Drama wohl
ein für allemal verloren. Das technische Unvermögen des Schauspielers, Verse
zu sprechen, wirkt auf unseren Bühnen oft geradezu unerträglich. Der Naturalist
Bassermann in Shakespeareschen oder Schillerschen Rollen ist dafür der schlag¬
kräftigste Beweis. Das Pathos von gestern ist tot und das Pathos von heute,
wie es scheint, noch nicht gefunden. Die paar markanten Köpfe, die die erlauchte
Überlieferung einer alten Theaterkultur in die neue Zeit hinübergerettet haben,
treten mehr und mehr in den Hintergrund. Und um das glänzende schauspielerische
Heldentum einer Adele Sandrock, einer Atome Wiecke, einer Rosa Poppe und
einer Hedwig Bleibtreu schwebt schon heute der Hauch einer vornehmen, aber
weltentrückten Einsamkeit. Wer auf diesem Felde reorganisieren will, wird mit
einer Umbildung der schauspielerischen Sprechkunst beginnen müssen. Hier winken
neue Ziele, denen die veränderte Art des menschlichen Sehens ganz und gar nicht
im Wege steht.

Ein einziger hat mit genialischem Instinkt den Ausgleich zwischen gestern
und heute gefunden: Josef Kainz, dieser märchenhafte Glücksfall der modernen
deutschen Bühne. Seiner schon jetzt von wehmütigen Vergangenheitszauber
umwitterten Kunst fehlte alles Typische. Er paßte in keine Schablone, denn
er war ein ganz seltener Ausnahmefall in des Wortes schönster und edelster
Bedeutung. Eine unendlich reiche Sprachtechnik — Verse aus seinen: Munde
strömten die herrlichste musikalische Suggestion aus — verband er mit den
seelischen Differenziertheiten des modernen Nervenmenschen und den: natürlichen
Adel des erlesenen Götterlieblings. Er verwob Klassizität und moderne Welt¬
anschauung mit fast nachlässiger Eleganz ineinander. Er war der genialste
und doch menschlichste Hamlet, den die deutsche Bühne gesehen hat. Und, was
das Wichtigste ist, er prägte den Stil, nach den: die Zeit so inbrünstig rang.
Er zeigte einer anders denkenden Epoche die Ewigkeitswerte der großen klassischen
Tragödie. Aber er zeigte sie nicht mit den Kunstmitteln eines halbversunkenen
Geschlechts, sondern, frei von jeder Komödiantenpose, mit der selbstschöpferischen
Genialität eines Menschen von heutzutage. Es führt keine Brücke von ihm zu
der Hauptmasse der modernen Schauspieler, trotz der zahllosen Nachahmer, die
er gefunden hat. Aber die mühelose Selbstverständlichkeit seines Talentes, für
das es überhaupt keine Bühnenprobleme im Sinne dieser Arbeit gab, hat dein


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[0138] Deutsche Bühnenknnst in den letzten zwanzig Jahren auf das der Bühne. Die heroische Kunst, die bis in die neunziger Jahre auf den deutschen Hoftheatern zu Hause war, starb mit ihren großen Vertretern mehr und mehr ab. Die Autorität dieser Kunst wurde in dem Augenblick ernsthaft erschüttert, wo die suggestiven Persönlichkeiten einer Charlotte Wolter, eines Sonnenthal, Mitterwurzer und Baumeister von der Szene abtraten. Adalbert Matkowskys Tod (1908) war ihr letzter und herbster Verlust. Der würdige Nachwuchs hat bis heute auf sich warten lassen. Das junge Schauspielergeschlecht hat zu dem Pathos von gestern keine inneren Beziehungen mehr, ist auch, was stilisierte Sprechkunst und vornehme Gesten anlangt, noch aus den Zeiten des Naturalismus her arg verwildert und schon deshalb dem klassischen Drama wohl ein für allemal verloren. Das technische Unvermögen des Schauspielers, Verse zu sprechen, wirkt auf unseren Bühnen oft geradezu unerträglich. Der Naturalist Bassermann in Shakespeareschen oder Schillerschen Rollen ist dafür der schlag¬ kräftigste Beweis. Das Pathos von gestern ist tot und das Pathos von heute, wie es scheint, noch nicht gefunden. Die paar markanten Köpfe, die die erlauchte Überlieferung einer alten Theaterkultur in die neue Zeit hinübergerettet haben, treten mehr und mehr in den Hintergrund. Und um das glänzende schauspielerische Heldentum einer Adele Sandrock, einer Atome Wiecke, einer Rosa Poppe und einer Hedwig Bleibtreu schwebt schon heute der Hauch einer vornehmen, aber weltentrückten Einsamkeit. Wer auf diesem Felde reorganisieren will, wird mit einer Umbildung der schauspielerischen Sprechkunst beginnen müssen. Hier winken neue Ziele, denen die veränderte Art des menschlichen Sehens ganz und gar nicht im Wege steht. Ein einziger hat mit genialischem Instinkt den Ausgleich zwischen gestern und heute gefunden: Josef Kainz, dieser märchenhafte Glücksfall der modernen deutschen Bühne. Seiner schon jetzt von wehmütigen Vergangenheitszauber umwitterten Kunst fehlte alles Typische. Er paßte in keine Schablone, denn er war ein ganz seltener Ausnahmefall in des Wortes schönster und edelster Bedeutung. Eine unendlich reiche Sprachtechnik — Verse aus seinen: Munde strömten die herrlichste musikalische Suggestion aus — verband er mit den seelischen Differenziertheiten des modernen Nervenmenschen und den: natürlichen Adel des erlesenen Götterlieblings. Er verwob Klassizität und moderne Welt¬ anschauung mit fast nachlässiger Eleganz ineinander. Er war der genialste und doch menschlichste Hamlet, den die deutsche Bühne gesehen hat. Und, was das Wichtigste ist, er prägte den Stil, nach den: die Zeit so inbrünstig rang. Er zeigte einer anders denkenden Epoche die Ewigkeitswerte der großen klassischen Tragödie. Aber er zeigte sie nicht mit den Kunstmitteln eines halbversunkenen Geschlechts, sondern, frei von jeder Komödiantenpose, mit der selbstschöpferischen Genialität eines Menschen von heutzutage. Es führt keine Brücke von ihm zu der Hauptmasse der modernen Schauspieler, trotz der zahllosen Nachahmer, die er gefunden hat. Aber die mühelose Selbstverständlichkeit seines Talentes, für das es überhaupt keine Bühnenprobleme im Sinne dieser Arbeit gab, hat dein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/138>, abgerufen am 29.12.2024.