Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren deutschen Theater ein unschätzbares Erbe hinterlassen: den Blick in das gelobte Denn das bleibt vorderhand das Bühnenproblem der nächsten Zukunft: Wir stehen damit am Ende unserer Betrachtung. Der Ring schließt sich Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren deutschen Theater ein unschätzbares Erbe hinterlassen: den Blick in das gelobte Denn das bleibt vorderhand das Bühnenproblem der nächsten Zukunft: Wir stehen damit am Ende unserer Betrachtung. Der Ring schließt sich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0139" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317752"/> <fw type="header" place="top"> Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren</fw><lb/> <p xml:id="ID_611" prev="#ID_610"> deutschen Theater ein unschätzbares Erbe hinterlassen: den Blick in das gelobte<lb/> Land einer das ganze Weltall umfassenden modernen Schauspielkunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_612"> Denn das bleibt vorderhand das Bühnenproblem der nächsten Zukunft:<lb/> auf der veränderten Grundlage einer neuen Zeit den Weg zum überlebens¬<lb/> großen Drama zurückzufinden, eine „Modernität" anzustreben, die auch die<lb/> Tragik eines Lear und eines dritten Richard mit umfaßt. Von hier, und<lb/> allein von hier, winken dem deutschen Theater neue und unerhört große Ziele,<lb/> von hier, und nicht von den problematischen Ideen weltferner Schwärmer, die<lb/> das große Drama der Gegenwart in der Freilichtbühne des Harzer Berg¬<lb/> theaters, in den Festspielhäusern der Oberammergauer oder Altorfer Bauern<lb/> oder gar in den Richard-Wagner-Theatern Banreuths und Münchens suchen<lb/> wollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_613" next="#ID_614"> Wir stehen damit am Ende unserer Betrachtung. Der Ring schließt sich<lb/> wieder und der Punkt, von dem wir ausgingen, drängt sich noch einmal in<lb/> das Gesichtsfeld des Beschauers: die Sehnsucht der Zeit, ausgedrückt auf den<lb/> Brettern, die nach einem alten Wort die Welt bedeuten. Die Geschichte dieser<lb/> seltsamen Epoche zu schreiben, in der Glauben neben Skepsis, Kulturmüdigkeit<lb/> neben Stilsehnsucht, Rationalismus neben verschwimmender Mystik steht, muß<lb/> einem späteren Geschlecht vorbehalten werden. Wir stecken heute selber noch<lb/> zu tief in den Zeitproblemen, um den nötigen Abstand von ihnen zu gewinnen.<lb/> Aber das eine darf wohl auf Grund des aufgezeigten Materials glaubhaft ver¬<lb/> sichert werden, daß die deutsche Bühne, was Mannigfaltigkeit, Differenziertheit.<lb/> Elastizität und künstlerische Intelligenz anlangt, heute die erste der Welt ist.<lb/> Man mag die Tatsache als solche mit Begeisterung oder mit Achselzucken fest¬<lb/> stellen. Auf jeden Fall wird man sie mit grundsätzlicher Gegnerschaft nicht<lb/> mehr aus der Zeitgeschichte streichen können. Das deutsche Theater ist heute<lb/> ein Kulturfaktor von gewaltiger Bedeutung, und die Sozialdemokratie wußte<lb/> sehr wohl, was sie tat, als sie vor zwanzig Jahren das Institut der Freien<lb/> Volksbühne für die arbeitenden Klassen Berlins ins Leben rief. Gewiß sind<lb/> unleidliche Übertreibungen vorgekommen. Wir erinnern nur an den würdelosen<lb/> Schauspielerkultus, dessen Geburtsstätte Wien ist. Gewiß spielt in tneati alibu8 das,<lb/> was zufällig Mode ist, und das, was gute Geschäfte verspricht, noch immer eine<lb/> nicht sehr vornehme Rolle. Gewiß steckt ein Körnchen Wahrheit in dem Gerede<lb/> der Leute, die das Wort von einer unverhältnismäßigen Überschätzung des Theaters<lb/> geprägt haben. Wer das berechtigt noch lange nicht zu jenem melancholischen<lb/> Pessimismus, der nach der Methode des „lo roi est mort, vive Is wi" dem<lb/> Theater im alten Sinne das Todesurteil spricht und an seiner Stelle den<lb/> amerikanischen Kinematographen Edisons auf den Schild hebt. Eine Zeit, die<lb/> dem „König Odipus" des alten Sophokles an zwanzig und mehr Abenden<lb/> volle Zirkushäuser schafft und jedesmal sechstausend zerfahrenen und nervösen<lb/> Großstadtmenschen die tiefste Andacht und die ernsthaftesten Erschütterungen<lb/> abtrotzt — eine solche Zeit kann für das Theater und die Probleme des</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0139]
Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren
deutschen Theater ein unschätzbares Erbe hinterlassen: den Blick in das gelobte
Land einer das ganze Weltall umfassenden modernen Schauspielkunst.
Denn das bleibt vorderhand das Bühnenproblem der nächsten Zukunft:
auf der veränderten Grundlage einer neuen Zeit den Weg zum überlebens¬
großen Drama zurückzufinden, eine „Modernität" anzustreben, die auch die
Tragik eines Lear und eines dritten Richard mit umfaßt. Von hier, und
allein von hier, winken dem deutschen Theater neue und unerhört große Ziele,
von hier, und nicht von den problematischen Ideen weltferner Schwärmer, die
das große Drama der Gegenwart in der Freilichtbühne des Harzer Berg¬
theaters, in den Festspielhäusern der Oberammergauer oder Altorfer Bauern
oder gar in den Richard-Wagner-Theatern Banreuths und Münchens suchen
wollen.
Wir stehen damit am Ende unserer Betrachtung. Der Ring schließt sich
wieder und der Punkt, von dem wir ausgingen, drängt sich noch einmal in
das Gesichtsfeld des Beschauers: die Sehnsucht der Zeit, ausgedrückt auf den
Brettern, die nach einem alten Wort die Welt bedeuten. Die Geschichte dieser
seltsamen Epoche zu schreiben, in der Glauben neben Skepsis, Kulturmüdigkeit
neben Stilsehnsucht, Rationalismus neben verschwimmender Mystik steht, muß
einem späteren Geschlecht vorbehalten werden. Wir stecken heute selber noch
zu tief in den Zeitproblemen, um den nötigen Abstand von ihnen zu gewinnen.
Aber das eine darf wohl auf Grund des aufgezeigten Materials glaubhaft ver¬
sichert werden, daß die deutsche Bühne, was Mannigfaltigkeit, Differenziertheit.
Elastizität und künstlerische Intelligenz anlangt, heute die erste der Welt ist.
Man mag die Tatsache als solche mit Begeisterung oder mit Achselzucken fest¬
stellen. Auf jeden Fall wird man sie mit grundsätzlicher Gegnerschaft nicht
mehr aus der Zeitgeschichte streichen können. Das deutsche Theater ist heute
ein Kulturfaktor von gewaltiger Bedeutung, und die Sozialdemokratie wußte
sehr wohl, was sie tat, als sie vor zwanzig Jahren das Institut der Freien
Volksbühne für die arbeitenden Klassen Berlins ins Leben rief. Gewiß sind
unleidliche Übertreibungen vorgekommen. Wir erinnern nur an den würdelosen
Schauspielerkultus, dessen Geburtsstätte Wien ist. Gewiß spielt in tneati alibu8 das,
was zufällig Mode ist, und das, was gute Geschäfte verspricht, noch immer eine
nicht sehr vornehme Rolle. Gewiß steckt ein Körnchen Wahrheit in dem Gerede
der Leute, die das Wort von einer unverhältnismäßigen Überschätzung des Theaters
geprägt haben. Wer das berechtigt noch lange nicht zu jenem melancholischen
Pessimismus, der nach der Methode des „lo roi est mort, vive Is wi" dem
Theater im alten Sinne das Todesurteil spricht und an seiner Stelle den
amerikanischen Kinematographen Edisons auf den Schild hebt. Eine Zeit, die
dem „König Odipus" des alten Sophokles an zwanzig und mehr Abenden
volle Zirkushäuser schafft und jedesmal sechstausend zerfahrenen und nervösen
Großstadtmenschen die tiefste Andacht und die ernsthaftesten Erschütterungen
abtrotzt — eine solche Zeit kann für das Theater und die Probleme des
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