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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

gesprochenen Dichterwort, abgezogen werden. Das war gewiß alles ganz schön
und gut, nur übersah man dabei, daß das Resultat eine melancholische Nüchternheit,
eine künstlich geschaffene trostlose Leere war, die der auf Licht und Freude und
Sinnlichkeit gestellten Bühnenatmosphäre etwas erbarmungslos Abstraktes und
Trockenes gab. Nebenher hatte die Enge des Bühnenraums die ungeheuerlichsten
technischen Mißstände im Gefolge. Mit anderen Worten: Die von ahnungs¬
losen Theoretikern am Schreibtisch konstruierten Ideen der "Reliefbühne" trugen
von Anfang an den Todeskeim in sich, und es war ein glänzender Witz der
Theatergeschichte, daß in das Künstlertheater nach dem Fiasko ihrer Schöpfer
eben der Mann einzog, den man von hier aus mit Pathos zu bekämpfen gedachte:
Max Reinhardt.

Im übrigen ist die etwas trübe anmutende Episode des Münchener Künstler¬
theaters ganz charakteristisch für eine gewisse theatergeschichtliche Zeitströmung.
Ein Teil der deutschen Bühnenästhetik, die mit bohrender Intelligenz noch immer
nach neuen Zielen tastete, hatte sich allmählich in eine hoffnungslos unfruchtbare
Problematik verrannt und war von Tag zu Tag mehr von den Forderungen
der lebendigen Wirklichkeit abgerückt. Geschelte Theoretiker wie Julius Bab*),
Wilhelm v. Scholz""), Georg Fuchs u. a. schlugen sich ehrlich mit einer spitzfindigen
und von des Gedankens Blässe angekränkelten Philosophie des Theaters herum,
nahmen die tausend Schrauben dieser seltsam komplizierten Maschine auseinander,
rangen selber mit heißer Inbrunst um neue Ausdrucksformen des Dramatischen
und kamen schließlich doch nirgends über eine recht unfruchtbare Dogmatik hinaus.
Heute ging es um Hebbels Theorien vom Drama, morgen um eine Verwertung
des Marionettentheaters für moderne Probleme (ein entzückendes, aber durch und
durch anspruchsloses Marionettentheater hat der Münchener Paul Braun ins Leben
gerufen), dann um die dekorationslose Shakespeare-Bühne und schließlich wieder
um hundert andere Dinge. Man schob sich selber Hindernisse in den Weg, um
sie dann mit knifflicher Dialektik wieder zu beseitigen. Man war "intellektuell"
und dabei doch von einer großen inneren Armseligkeit. Die Probleme, um die
hier gerungen wurde, sind bis auf den heutigen Tag zu sehr in blasser Theorie
steckengeblieben, um in diesem Zusammenhang eine ausführliche Besprechung
gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Sie sind charakteristisch für die Zeit und für
den tiefen Ernst, der die Zeit beseelt, aber sie sind darüber hinaus nicht lebendig
genug, um wertvolle Posten im Theaterleben der Gegenwart darzustellen.

Es bleibt hier noch ein Wort zu sagen über das Verhältnis der modernen
Bühne zum heroischen Pathos der klassischen Tragödie. Nach den Ketzereien der
Naturalisten erwachte wieder eine natürliche Sehnsucht nach der großen Linie,
und daß diese Sehnsucht bis auf den heutigen Tag nicht restlos erfüllt werden
konnte, kommt mehr auf das Schuldkonto unserer analytisch-skeptischen Zeit als




") Julius Bab. "Kritik der Bühne". "Der Mensch auf der Bühne". (Beides Berlin,
bei Ssterheld u. Co.)"
Wilhelm l>. Scholz, "Gedanken zum Drama. (Minchen 1904. bei Georg Müller.)
Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

gesprochenen Dichterwort, abgezogen werden. Das war gewiß alles ganz schön
und gut, nur übersah man dabei, daß das Resultat eine melancholische Nüchternheit,
eine künstlich geschaffene trostlose Leere war, die der auf Licht und Freude und
Sinnlichkeit gestellten Bühnenatmosphäre etwas erbarmungslos Abstraktes und
Trockenes gab. Nebenher hatte die Enge des Bühnenraums die ungeheuerlichsten
technischen Mißstände im Gefolge. Mit anderen Worten: Die von ahnungs¬
losen Theoretikern am Schreibtisch konstruierten Ideen der „Reliefbühne" trugen
von Anfang an den Todeskeim in sich, und es war ein glänzender Witz der
Theatergeschichte, daß in das Künstlertheater nach dem Fiasko ihrer Schöpfer
eben der Mann einzog, den man von hier aus mit Pathos zu bekämpfen gedachte:
Max Reinhardt.

Im übrigen ist die etwas trübe anmutende Episode des Münchener Künstler¬
theaters ganz charakteristisch für eine gewisse theatergeschichtliche Zeitströmung.
Ein Teil der deutschen Bühnenästhetik, die mit bohrender Intelligenz noch immer
nach neuen Zielen tastete, hatte sich allmählich in eine hoffnungslos unfruchtbare
Problematik verrannt und war von Tag zu Tag mehr von den Forderungen
der lebendigen Wirklichkeit abgerückt. Geschelte Theoretiker wie Julius Bab*),
Wilhelm v. Scholz""), Georg Fuchs u. a. schlugen sich ehrlich mit einer spitzfindigen
und von des Gedankens Blässe angekränkelten Philosophie des Theaters herum,
nahmen die tausend Schrauben dieser seltsam komplizierten Maschine auseinander,
rangen selber mit heißer Inbrunst um neue Ausdrucksformen des Dramatischen
und kamen schließlich doch nirgends über eine recht unfruchtbare Dogmatik hinaus.
Heute ging es um Hebbels Theorien vom Drama, morgen um eine Verwertung
des Marionettentheaters für moderne Probleme (ein entzückendes, aber durch und
durch anspruchsloses Marionettentheater hat der Münchener Paul Braun ins Leben
gerufen), dann um die dekorationslose Shakespeare-Bühne und schließlich wieder
um hundert andere Dinge. Man schob sich selber Hindernisse in den Weg, um
sie dann mit knifflicher Dialektik wieder zu beseitigen. Man war „intellektuell"
und dabei doch von einer großen inneren Armseligkeit. Die Probleme, um die
hier gerungen wurde, sind bis auf den heutigen Tag zu sehr in blasser Theorie
steckengeblieben, um in diesem Zusammenhang eine ausführliche Besprechung
gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Sie sind charakteristisch für die Zeit und für
den tiefen Ernst, der die Zeit beseelt, aber sie sind darüber hinaus nicht lebendig
genug, um wertvolle Posten im Theaterleben der Gegenwart darzustellen.

Es bleibt hier noch ein Wort zu sagen über das Verhältnis der modernen
Bühne zum heroischen Pathos der klassischen Tragödie. Nach den Ketzereien der
Naturalisten erwachte wieder eine natürliche Sehnsucht nach der großen Linie,
und daß diese Sehnsucht bis auf den heutigen Tag nicht restlos erfüllt werden
konnte, kommt mehr auf das Schuldkonto unserer analytisch-skeptischen Zeit als




") Julius Bab. „Kritik der Bühne". „Der Mensch auf der Bühne". (Beides Berlin,
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[0137] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren gesprochenen Dichterwort, abgezogen werden. Das war gewiß alles ganz schön und gut, nur übersah man dabei, daß das Resultat eine melancholische Nüchternheit, eine künstlich geschaffene trostlose Leere war, die der auf Licht und Freude und Sinnlichkeit gestellten Bühnenatmosphäre etwas erbarmungslos Abstraktes und Trockenes gab. Nebenher hatte die Enge des Bühnenraums die ungeheuerlichsten technischen Mißstände im Gefolge. Mit anderen Worten: Die von ahnungs¬ losen Theoretikern am Schreibtisch konstruierten Ideen der „Reliefbühne" trugen von Anfang an den Todeskeim in sich, und es war ein glänzender Witz der Theatergeschichte, daß in das Künstlertheater nach dem Fiasko ihrer Schöpfer eben der Mann einzog, den man von hier aus mit Pathos zu bekämpfen gedachte: Max Reinhardt. Im übrigen ist die etwas trübe anmutende Episode des Münchener Künstler¬ theaters ganz charakteristisch für eine gewisse theatergeschichtliche Zeitströmung. Ein Teil der deutschen Bühnenästhetik, die mit bohrender Intelligenz noch immer nach neuen Zielen tastete, hatte sich allmählich in eine hoffnungslos unfruchtbare Problematik verrannt und war von Tag zu Tag mehr von den Forderungen der lebendigen Wirklichkeit abgerückt. Geschelte Theoretiker wie Julius Bab*), Wilhelm v. Scholz""), Georg Fuchs u. a. schlugen sich ehrlich mit einer spitzfindigen und von des Gedankens Blässe angekränkelten Philosophie des Theaters herum, nahmen die tausend Schrauben dieser seltsam komplizierten Maschine auseinander, rangen selber mit heißer Inbrunst um neue Ausdrucksformen des Dramatischen und kamen schließlich doch nirgends über eine recht unfruchtbare Dogmatik hinaus. Heute ging es um Hebbels Theorien vom Drama, morgen um eine Verwertung des Marionettentheaters für moderne Probleme (ein entzückendes, aber durch und durch anspruchsloses Marionettentheater hat der Münchener Paul Braun ins Leben gerufen), dann um die dekorationslose Shakespeare-Bühne und schließlich wieder um hundert andere Dinge. Man schob sich selber Hindernisse in den Weg, um sie dann mit knifflicher Dialektik wieder zu beseitigen. Man war „intellektuell" und dabei doch von einer großen inneren Armseligkeit. Die Probleme, um die hier gerungen wurde, sind bis auf den heutigen Tag zu sehr in blasser Theorie steckengeblieben, um in diesem Zusammenhang eine ausführliche Besprechung gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Sie sind charakteristisch für die Zeit und für den tiefen Ernst, der die Zeit beseelt, aber sie sind darüber hinaus nicht lebendig genug, um wertvolle Posten im Theaterleben der Gegenwart darzustellen. Es bleibt hier noch ein Wort zu sagen über das Verhältnis der modernen Bühne zum heroischen Pathos der klassischen Tragödie. Nach den Ketzereien der Naturalisten erwachte wieder eine natürliche Sehnsucht nach der großen Linie, und daß diese Sehnsucht bis auf den heutigen Tag nicht restlos erfüllt werden konnte, kommt mehr auf das Schuldkonto unserer analytisch-skeptischen Zeit als ") Julius Bab. „Kritik der Bühne". „Der Mensch auf der Bühne". (Beides Berlin, bei Ssterheld u. Co.)" Wilhelm l>. Scholz, „Gedanken zum Drama. (Minchen 1904. bei Georg Müller.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/137>, abgerufen am 29.12.2024.