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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Aufgabe des deutschen Bürgertums

Unsere soziale Gesetzgebung besteht jetzt über fünfundzwanzig Jahre. Als
man an sie herantrat, war man allseitig von der Zuversicht erfüllt, daß durch
die sozialen Versicherung^- und sonstigen Gesetze der sozialdemokratischen An¬
schauung immer mehr Boden genommen und sie allmählich ganz aufgesogen
werdeu würde. Diese Voraussicht ist nicht eingetroffen. Zuweilen, wie z. B.
bei den Ortskrankenkassen, dienen die neugeschaffenen Einrichtungen sogar dazu,
Parteigängern und Führern der Sozialdemokratie einen behaglichen Unterhalt
zu verschaffen. Es ist also an der Zeit, darüber nachzusinnen, woran es liegen
mag, daß es mit der Wirkung dieser Gesetzgebung so ganz anders gekommen
ist, als man geglaubt hat.

Mau ist bei den Versicherungsgesetzen von dem Grundsatz ausgegangen,
daß man recht große Verbände zusammenfassen müßte, um gesicherte Ergebnisse
zu erhalte". Bei der Krankenversicherung hat man hauptsächlich große Orts-
krankenkassen geschaffen, deren Mitglieder nach Hunderten, ja nach Tausenden
zählen. Bei der Unfallversicherung ist man noch weiter gegangen, und bei der
Alters- und Invalidenversicherung hat man ganze Provinzen zu einer einzigen
Anstalt gemacht. Eine Anzahl Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die an der Ver¬
waltung dieser Unterstützungsverbände teilnehmen sollen, läßt man nun direkt
oder indirekt von der gesamten Mitgliederzahl ernennen. Die große unzusammen¬
hängende Masse der Arbeiterschaft sieht sich eines Tages vor die Aufgabe gestellt,
einige wenige Personen aus ihrer Mitte zu diesen Vorstandsposten auswählen
zu müssen. Bei anderen Einrichtungen, Gewerbegerichten usw., hat man es
ebenso gemacht. Auch dort haben große ungeordnete Massen ihre Vertreter zu
bestimmen. Da in den Statuten keinerlei Weg vorgeschrieben ist, wie sie sich
zusammentun sollen, so bleibt es ihrer Eingebung überlassen, eine Mehrheit
zusammenzubringen. Lebhafte Geister werden durch dieses System angereizt,
ihre Nebenmitglieder aufzurühren und zu ihrer Ansicht zu bestimmen, was am
leichtesten durch dieselben Erregungen wie beim Reichstagswahlrecht bewirkt wird.
Wer einmal eine Gefolgschaft um sich versammelt hat, möchte diese auch gern
bei der nächsten Wahl wieder hinter sich sehen. So fügt sich das Bestreben
an, dauernd einen Kreis von Personen an sich zu fesseln und Vereine zu solchem
Zwecke zu gründen. Da die Wahlen im Gegensatz zu denen der Arbeitgeber
vorzunehmen sind, derartige Vereine also aus dem Gegensatz zwischen Arbeiter
und Arbeitgeber entsprossen sind, so liegt es in ihrer Natur, daß sie diesen
Gegensatz ständig aufrecht zu erhalten bestrebt sind und mithin die Verschärfung
dieses Gegensatzes zu ihrer Aufgabe machen. Die soziale Gesetzgebung, die
bestimmt war, Arbeiter und Arbeitgeber enger miteinander zu vereinigen, führt
durch die Art und Weise, wie man die Arbeiterbeiräte zu den sozialen Ein¬
richtungen wählen läßt, dazu, beide weiter voneinander zu entfernen.

Die Industrie ist nichts Allgemeines, sie setzt sich aus Einzelunternehmungen,
Einzelbetrieben zusammen, deren jeder größer oder kleiner ein in sich geeinter,
nach außen abgeschlossener Organismus ist. Wenn man von dieser Einzelzelle


Die Aufgabe des deutschen Bürgertums

Unsere soziale Gesetzgebung besteht jetzt über fünfundzwanzig Jahre. Als
man an sie herantrat, war man allseitig von der Zuversicht erfüllt, daß durch
die sozialen Versicherung^- und sonstigen Gesetze der sozialdemokratischen An¬
schauung immer mehr Boden genommen und sie allmählich ganz aufgesogen
werdeu würde. Diese Voraussicht ist nicht eingetroffen. Zuweilen, wie z. B.
bei den Ortskrankenkassen, dienen die neugeschaffenen Einrichtungen sogar dazu,
Parteigängern und Führern der Sozialdemokratie einen behaglichen Unterhalt
zu verschaffen. Es ist also an der Zeit, darüber nachzusinnen, woran es liegen
mag, daß es mit der Wirkung dieser Gesetzgebung so ganz anders gekommen
ist, als man geglaubt hat.

Mau ist bei den Versicherungsgesetzen von dem Grundsatz ausgegangen,
daß man recht große Verbände zusammenfassen müßte, um gesicherte Ergebnisse
zu erhalte«. Bei der Krankenversicherung hat man hauptsächlich große Orts-
krankenkassen geschaffen, deren Mitglieder nach Hunderten, ja nach Tausenden
zählen. Bei der Unfallversicherung ist man noch weiter gegangen, und bei der
Alters- und Invalidenversicherung hat man ganze Provinzen zu einer einzigen
Anstalt gemacht. Eine Anzahl Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die an der Ver¬
waltung dieser Unterstützungsverbände teilnehmen sollen, läßt man nun direkt
oder indirekt von der gesamten Mitgliederzahl ernennen. Die große unzusammen¬
hängende Masse der Arbeiterschaft sieht sich eines Tages vor die Aufgabe gestellt,
einige wenige Personen aus ihrer Mitte zu diesen Vorstandsposten auswählen
zu müssen. Bei anderen Einrichtungen, Gewerbegerichten usw., hat man es
ebenso gemacht. Auch dort haben große ungeordnete Massen ihre Vertreter zu
bestimmen. Da in den Statuten keinerlei Weg vorgeschrieben ist, wie sie sich
zusammentun sollen, so bleibt es ihrer Eingebung überlassen, eine Mehrheit
zusammenzubringen. Lebhafte Geister werden durch dieses System angereizt,
ihre Nebenmitglieder aufzurühren und zu ihrer Ansicht zu bestimmen, was am
leichtesten durch dieselben Erregungen wie beim Reichstagswahlrecht bewirkt wird.
Wer einmal eine Gefolgschaft um sich versammelt hat, möchte diese auch gern
bei der nächsten Wahl wieder hinter sich sehen. So fügt sich das Bestreben
an, dauernd einen Kreis von Personen an sich zu fesseln und Vereine zu solchem
Zwecke zu gründen. Da die Wahlen im Gegensatz zu denen der Arbeitgeber
vorzunehmen sind, derartige Vereine also aus dem Gegensatz zwischen Arbeiter
und Arbeitgeber entsprossen sind, so liegt es in ihrer Natur, daß sie diesen
Gegensatz ständig aufrecht zu erhalten bestrebt sind und mithin die Verschärfung
dieses Gegensatzes zu ihrer Aufgabe machen. Die soziale Gesetzgebung, die
bestimmt war, Arbeiter und Arbeitgeber enger miteinander zu vereinigen, führt
durch die Art und Weise, wie man die Arbeiterbeiräte zu den sozialen Ein¬
richtungen wählen läßt, dazu, beide weiter voneinander zu entfernen.

Die Industrie ist nichts Allgemeines, sie setzt sich aus Einzelunternehmungen,
Einzelbetrieben zusammen, deren jeder größer oder kleiner ein in sich geeinter,
nach außen abgeschlossener Organismus ist. Wenn man von dieser Einzelzelle


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[0123] Die Aufgabe des deutschen Bürgertums Unsere soziale Gesetzgebung besteht jetzt über fünfundzwanzig Jahre. Als man an sie herantrat, war man allseitig von der Zuversicht erfüllt, daß durch die sozialen Versicherung^- und sonstigen Gesetze der sozialdemokratischen An¬ schauung immer mehr Boden genommen und sie allmählich ganz aufgesogen werdeu würde. Diese Voraussicht ist nicht eingetroffen. Zuweilen, wie z. B. bei den Ortskrankenkassen, dienen die neugeschaffenen Einrichtungen sogar dazu, Parteigängern und Führern der Sozialdemokratie einen behaglichen Unterhalt zu verschaffen. Es ist also an der Zeit, darüber nachzusinnen, woran es liegen mag, daß es mit der Wirkung dieser Gesetzgebung so ganz anders gekommen ist, als man geglaubt hat. Mau ist bei den Versicherungsgesetzen von dem Grundsatz ausgegangen, daß man recht große Verbände zusammenfassen müßte, um gesicherte Ergebnisse zu erhalte«. Bei der Krankenversicherung hat man hauptsächlich große Orts- krankenkassen geschaffen, deren Mitglieder nach Hunderten, ja nach Tausenden zählen. Bei der Unfallversicherung ist man noch weiter gegangen, und bei der Alters- und Invalidenversicherung hat man ganze Provinzen zu einer einzigen Anstalt gemacht. Eine Anzahl Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die an der Ver¬ waltung dieser Unterstützungsverbände teilnehmen sollen, läßt man nun direkt oder indirekt von der gesamten Mitgliederzahl ernennen. Die große unzusammen¬ hängende Masse der Arbeiterschaft sieht sich eines Tages vor die Aufgabe gestellt, einige wenige Personen aus ihrer Mitte zu diesen Vorstandsposten auswählen zu müssen. Bei anderen Einrichtungen, Gewerbegerichten usw., hat man es ebenso gemacht. Auch dort haben große ungeordnete Massen ihre Vertreter zu bestimmen. Da in den Statuten keinerlei Weg vorgeschrieben ist, wie sie sich zusammentun sollen, so bleibt es ihrer Eingebung überlassen, eine Mehrheit zusammenzubringen. Lebhafte Geister werden durch dieses System angereizt, ihre Nebenmitglieder aufzurühren und zu ihrer Ansicht zu bestimmen, was am leichtesten durch dieselben Erregungen wie beim Reichstagswahlrecht bewirkt wird. Wer einmal eine Gefolgschaft um sich versammelt hat, möchte diese auch gern bei der nächsten Wahl wieder hinter sich sehen. So fügt sich das Bestreben an, dauernd einen Kreis von Personen an sich zu fesseln und Vereine zu solchem Zwecke zu gründen. Da die Wahlen im Gegensatz zu denen der Arbeitgeber vorzunehmen sind, derartige Vereine also aus dem Gegensatz zwischen Arbeiter und Arbeitgeber entsprossen sind, so liegt es in ihrer Natur, daß sie diesen Gegensatz ständig aufrecht zu erhalten bestrebt sind und mithin die Verschärfung dieses Gegensatzes zu ihrer Aufgabe machen. Die soziale Gesetzgebung, die bestimmt war, Arbeiter und Arbeitgeber enger miteinander zu vereinigen, führt durch die Art und Weise, wie man die Arbeiterbeiräte zu den sozialen Ein¬ richtungen wählen läßt, dazu, beide weiter voneinander zu entfernen. Die Industrie ist nichts Allgemeines, sie setzt sich aus Einzelunternehmungen, Einzelbetrieben zusammen, deren jeder größer oder kleiner ein in sich geeinter, nach außen abgeschlossener Organismus ist. Wenn man von dieser Einzelzelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/123>, abgerufen am 29.12.2024.