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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Aufgabe des deutschen Bürgertums

verbürgte Recht abzunehmen, so war nach bürgerlicher Auffassung der einzige
rechtliche Weg dazu der, daß man die Wahlmänner selbst entscheiden ließ, ob
sie ihr Recht beibehalten oder darauf verzichten wollten. Man hat diesen Weg
nicht beschritten, man hat ihnen von oben herunter ihr gutes Recht nehmen
wollen. Es wäre gut, wenn der Wiederholung eines solchen Vorgehens vor¬
gebeugt würde, was einfach dadurch zu bewirken ist, daß mau in der Verfassung
ein Abstimmungsrecht der Wahlmänner selbst über solche Verfassungsänderung
vorsteht.

Gemäß Z 107 der Verfassung hat bei Verfassungsänderungen innerhalb
eines gewissen Zeitraums eine zweite Abstimmung des Abgeordnetenhauses zu
erfolgen. Wenn man diese zweite Abstimmung nicht von den Abgeordneten,
sondern von den Wahlkreisen oder den Wahlmännern derselben vornehmen
läßt, wenn die Mehrheit der Wahlkreise des ganzen Landes zustimmen muß,
um eine Verfassungsänderung rechtsgültig zu machen, und wenn die Mehrheit
der Wahlmänner in jedem Wahlkreise darüber entscheidet, ob der Wahlkreis für
oder gegen gerechnet werden soll, so ist es den Wahlmännern in die Hand
gegeben, ob sie fürderhin ihr Recht behalten oder preisgeben wollen. Dadurch,
daß man den Wahlmännern auf diese Weise ein Recht der Mitwirkung an den
Staatsgeschäften einräumte, würde ihr Verantwortlichkeitsgefühl gehoben und
ihre Teilnahme an der Entwicklung des Staatslebens reger und freudiger werden.

Wer es für recht gehalten hat, die preußische Verfassung einer so scharfen
Kritik zu unterziehen und auf eine Abänderung derselben anzutragen, der muß
auch gewärtig sein, daß die Reichsverfassung, das Reichstagswahlrecht eingehend
geprüft werden. Es ist ein ganz geläufiger bürgerlicher Begriff, daß der, welcher mehr
für eine Sache tut als ein anderer, auch mehr über sie zu beraten berechtigt
ist als dieser andere. Unsere Dienstpflicht ist zwar allgemein, allein ein stets
größer werdender Teil des Volkes braucht sich ihr nicht zu unterziehen. Was
nun jemand, der im Heere gedient hat, sür sein Vaterland hat leisten müssen, ist
so unendlich viel mehr als das, was die Nichtgedienten für ihr Land getan haben,
daß es nur gerecht wäre, wenn man diesen Unterschied auch in der Wahl¬
berechtigung zum Ausdruck brächte. Wenn man es bei der geplanten Änderung
der preußischen Verfassung für richtig gehalten hat, einzelnen Gruppen von
Bürgern ein erhöhtes, ein Mehrstimmrecht zuzuerkennen, so wäre es hier wohl
weit besser begründet, den Gedienten ein Mehrstimmrecht, ein zweimaliges Wahl¬
recht zuzubilligen.

Dadurch käme auch in das Reichstagswahlrecht der Begriff hinein, daß
eigentlich die Erfüllung von Pflichten erst einen Anspruch auf Rechte
verleiht. Praktisch wäre die Sache ganz einfach durchzuführen. In jedem
Wahllokale brauchte nur eine zweite Liste ausgelegt zu werden, worin die
Gedienten allein nochmals verzeichnet sind. Diese würden zuerst nach der ge¬
wöhnlichen Liste und dann nach der besonderen Liste ihre Stimmen abgeben.




Die Aufgabe des deutschen Bürgertums

verbürgte Recht abzunehmen, so war nach bürgerlicher Auffassung der einzige
rechtliche Weg dazu der, daß man die Wahlmänner selbst entscheiden ließ, ob
sie ihr Recht beibehalten oder darauf verzichten wollten. Man hat diesen Weg
nicht beschritten, man hat ihnen von oben herunter ihr gutes Recht nehmen
wollen. Es wäre gut, wenn der Wiederholung eines solchen Vorgehens vor¬
gebeugt würde, was einfach dadurch zu bewirken ist, daß mau in der Verfassung
ein Abstimmungsrecht der Wahlmänner selbst über solche Verfassungsänderung
vorsteht.

Gemäß Z 107 der Verfassung hat bei Verfassungsänderungen innerhalb
eines gewissen Zeitraums eine zweite Abstimmung des Abgeordnetenhauses zu
erfolgen. Wenn man diese zweite Abstimmung nicht von den Abgeordneten,
sondern von den Wahlkreisen oder den Wahlmännern derselben vornehmen
läßt, wenn die Mehrheit der Wahlkreise des ganzen Landes zustimmen muß,
um eine Verfassungsänderung rechtsgültig zu machen, und wenn die Mehrheit
der Wahlmänner in jedem Wahlkreise darüber entscheidet, ob der Wahlkreis für
oder gegen gerechnet werden soll, so ist es den Wahlmännern in die Hand
gegeben, ob sie fürderhin ihr Recht behalten oder preisgeben wollen. Dadurch,
daß man den Wahlmännern auf diese Weise ein Recht der Mitwirkung an den
Staatsgeschäften einräumte, würde ihr Verantwortlichkeitsgefühl gehoben und
ihre Teilnahme an der Entwicklung des Staatslebens reger und freudiger werden.

Wer es für recht gehalten hat, die preußische Verfassung einer so scharfen
Kritik zu unterziehen und auf eine Abänderung derselben anzutragen, der muß
auch gewärtig sein, daß die Reichsverfassung, das Reichstagswahlrecht eingehend
geprüft werden. Es ist ein ganz geläufiger bürgerlicher Begriff, daß der, welcher mehr
für eine Sache tut als ein anderer, auch mehr über sie zu beraten berechtigt
ist als dieser andere. Unsere Dienstpflicht ist zwar allgemein, allein ein stets
größer werdender Teil des Volkes braucht sich ihr nicht zu unterziehen. Was
nun jemand, der im Heere gedient hat, sür sein Vaterland hat leisten müssen, ist
so unendlich viel mehr als das, was die Nichtgedienten für ihr Land getan haben,
daß es nur gerecht wäre, wenn man diesen Unterschied auch in der Wahl¬
berechtigung zum Ausdruck brächte. Wenn man es bei der geplanten Änderung
der preußischen Verfassung für richtig gehalten hat, einzelnen Gruppen von
Bürgern ein erhöhtes, ein Mehrstimmrecht zuzuerkennen, so wäre es hier wohl
weit besser begründet, den Gedienten ein Mehrstimmrecht, ein zweimaliges Wahl¬
recht zuzubilligen.

Dadurch käme auch in das Reichstagswahlrecht der Begriff hinein, daß
eigentlich die Erfüllung von Pflichten erst einen Anspruch auf Rechte
verleiht. Praktisch wäre die Sache ganz einfach durchzuführen. In jedem
Wahllokale brauchte nur eine zweite Liste ausgelegt zu werden, worin die
Gedienten allein nochmals verzeichnet sind. Diese würden zuerst nach der ge¬
wöhnlichen Liste und dann nach der besonderen Liste ihre Stimmen abgeben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/122>, abgerufen am 29.12.2024.