Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Aufgabe des deutschen Bürgertums

der Industrie ausgehend zunächst in dem einzelnen Betrieb einen Arbeiter¬
ausschuß mit dem Arbeitgeber zusammen bildet, eine -angemessene Anzahl solcher
Betriebsausschüsse zu Orts- oder Amtsverbänden zusammenfaßt, in derselben
Weise aufwärts Kreis-, Bezirks- und Provinzialausschüsse bildet und von den
entsprechenden Ausschüssen gleichzeitig die Wahlen der Vertreter von Arbeitern
und Arbeitgebern vornehmen läßt, so bleibt der Zusammenhang zwischen beiden
gewahrt, eine Agitation findet keinen Anhalt, und vor allen Dingen wird die
Einwirkung Außenstehender vermieden, die fremde Gesichtspunkte einmengen
und dadurch Veranlassung zu Erregung geben.

Haben nun die großen Aufwendungen zur Förderung des materiellen
(wirtschaftlichen) Wohles dazu beigetragen, den ethischen (sittlichen) Standpunkt
des Volkes zu heben?

Bei der Inangriffnahme der Sozialpolitik hat man an einen Schutz der
Schwachen und eine Geltendmachung allgemeiner Menschenrechte gedacht. Ist
nun nicht das schwächste Glied der menschlichen Gesellschaft das neugeborene
Kind? und ist nicht sein allererstes Menschenrecht, daß es bei seinem Eintreten
in die Welt ein liebevolles Elternpaar um sich sieht, das es mit Freude
begrüßt, eine Mutter, die seiner wartet und pflegt, und einen Vater, der die
Mutter bei der Erziehung unterstützt und für ihren Unterhalt sorgt, damit die
Mutter sich ganz dem Kinde widmen und es zu einem gesunden und gesitteten
Menschen heranziehen kann?

Die Nächstliegende Aufgabe einer sozialen Gesetzgebung wäre also, dafür
zu sorgen, daß diese erste Forderung des Kindes erfüllt wird, daß pflicht¬
vergessene Eltern zu ihren Pflichten angehalten werden. Mail hat bei dieser
Gesetzgebung einen Zwang eingeführt für Beteiligte und Unbeteiligte. Man
zwingt die ganz unbeteiligten Arbeitgeber, die keinerlei Vorteil von diesen
sozialen Einrichtungen haben, erhebliche Teile ihres Einkommens zugunsten der
Beteiligten abzutreten. Es entspricht daher nur der Billigkeit, wenn man in
erster Linie unsorgsame Eheleute einerseits von den Wohltaten dieser Gesetz¬
gebung ausschließt und ihnen anderseits das Verfügungsrecht über einen so
großen Teil ihres Verdienstes entzieht, wie er zur Bestreitung der Kosten des
Unterhaltes und der Erziehung des Kindes erforderlich ist, die man beide
ungetreuen, pflichtvergessenen Eltern nicht anvertrauen darf. Da ferner die
jungen Menschen nicht so lange unter der alleinigen Obhut der Eltern oder
der Familie bleiben tourner, bis ihr Charakter ganz gereift ist, da sie noch
unentwickelt an Körper und Geist in das Berufs- und Erwerbsleben eintreten
müssen, so ergibt sich die weitere Forderung, daß auch hierin dem Jüngling oder dem
jungen Mädchen ihr Recht zuteil wird, daß sie geschlitzt und geleitet und in
gleichem Sinne mit der Familie weiter erzogen werden, damit ihr Charakter
sich einheitlich entwickelt. Dies ist ganz besonders nötig in der Industrie, wo
die jungen Leute direkt aus der Schule, in der sie mit nur gleichaltrigen
Gefährten zusammen waren, in den Fabrikbetrieben in die Arbeitsgemeinschaft


Die Aufgabe des deutschen Bürgertums

der Industrie ausgehend zunächst in dem einzelnen Betrieb einen Arbeiter¬
ausschuß mit dem Arbeitgeber zusammen bildet, eine -angemessene Anzahl solcher
Betriebsausschüsse zu Orts- oder Amtsverbänden zusammenfaßt, in derselben
Weise aufwärts Kreis-, Bezirks- und Provinzialausschüsse bildet und von den
entsprechenden Ausschüssen gleichzeitig die Wahlen der Vertreter von Arbeitern
und Arbeitgebern vornehmen läßt, so bleibt der Zusammenhang zwischen beiden
gewahrt, eine Agitation findet keinen Anhalt, und vor allen Dingen wird die
Einwirkung Außenstehender vermieden, die fremde Gesichtspunkte einmengen
und dadurch Veranlassung zu Erregung geben.

Haben nun die großen Aufwendungen zur Förderung des materiellen
(wirtschaftlichen) Wohles dazu beigetragen, den ethischen (sittlichen) Standpunkt
des Volkes zu heben?

Bei der Inangriffnahme der Sozialpolitik hat man an einen Schutz der
Schwachen und eine Geltendmachung allgemeiner Menschenrechte gedacht. Ist
nun nicht das schwächste Glied der menschlichen Gesellschaft das neugeborene
Kind? und ist nicht sein allererstes Menschenrecht, daß es bei seinem Eintreten
in die Welt ein liebevolles Elternpaar um sich sieht, das es mit Freude
begrüßt, eine Mutter, die seiner wartet und pflegt, und einen Vater, der die
Mutter bei der Erziehung unterstützt und für ihren Unterhalt sorgt, damit die
Mutter sich ganz dem Kinde widmen und es zu einem gesunden und gesitteten
Menschen heranziehen kann?

Die Nächstliegende Aufgabe einer sozialen Gesetzgebung wäre also, dafür
zu sorgen, daß diese erste Forderung des Kindes erfüllt wird, daß pflicht¬
vergessene Eltern zu ihren Pflichten angehalten werden. Mail hat bei dieser
Gesetzgebung einen Zwang eingeführt für Beteiligte und Unbeteiligte. Man
zwingt die ganz unbeteiligten Arbeitgeber, die keinerlei Vorteil von diesen
sozialen Einrichtungen haben, erhebliche Teile ihres Einkommens zugunsten der
Beteiligten abzutreten. Es entspricht daher nur der Billigkeit, wenn man in
erster Linie unsorgsame Eheleute einerseits von den Wohltaten dieser Gesetz¬
gebung ausschließt und ihnen anderseits das Verfügungsrecht über einen so
großen Teil ihres Verdienstes entzieht, wie er zur Bestreitung der Kosten des
Unterhaltes und der Erziehung des Kindes erforderlich ist, die man beide
ungetreuen, pflichtvergessenen Eltern nicht anvertrauen darf. Da ferner die
jungen Menschen nicht so lange unter der alleinigen Obhut der Eltern oder
der Familie bleiben tourner, bis ihr Charakter ganz gereift ist, da sie noch
unentwickelt an Körper und Geist in das Berufs- und Erwerbsleben eintreten
müssen, so ergibt sich die weitere Forderung, daß auch hierin dem Jüngling oder dem
jungen Mädchen ihr Recht zuteil wird, daß sie geschlitzt und geleitet und in
gleichem Sinne mit der Familie weiter erzogen werden, damit ihr Charakter
sich einheitlich entwickelt. Dies ist ganz besonders nötig in der Industrie, wo
die jungen Leute direkt aus der Schule, in der sie mit nur gleichaltrigen
Gefährten zusammen waren, in den Fabrikbetrieben in die Arbeitsgemeinschaft


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317737"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Aufgabe des deutschen Bürgertums</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_564" prev="#ID_563"> der Industrie ausgehend zunächst in dem einzelnen Betrieb einen Arbeiter¬<lb/>
ausschuß mit dem Arbeitgeber zusammen bildet, eine -angemessene Anzahl solcher<lb/>
Betriebsausschüsse zu Orts- oder Amtsverbänden zusammenfaßt, in derselben<lb/>
Weise aufwärts Kreis-, Bezirks- und Provinzialausschüsse bildet und von den<lb/>
entsprechenden Ausschüssen gleichzeitig die Wahlen der Vertreter von Arbeitern<lb/>
und Arbeitgebern vornehmen läßt, so bleibt der Zusammenhang zwischen beiden<lb/>
gewahrt, eine Agitation findet keinen Anhalt, und vor allen Dingen wird die<lb/>
Einwirkung Außenstehender vermieden, die fremde Gesichtspunkte einmengen<lb/>
und dadurch Veranlassung zu Erregung geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_565"> Haben nun die großen Aufwendungen zur Förderung des materiellen<lb/>
(wirtschaftlichen) Wohles dazu beigetragen, den ethischen (sittlichen) Standpunkt<lb/>
des Volkes zu heben?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_566"> Bei der Inangriffnahme der Sozialpolitik hat man an einen Schutz der<lb/>
Schwachen und eine Geltendmachung allgemeiner Menschenrechte gedacht. Ist<lb/>
nun nicht das schwächste Glied der menschlichen Gesellschaft das neugeborene<lb/>
Kind? und ist nicht sein allererstes Menschenrecht, daß es bei seinem Eintreten<lb/>
in die Welt ein liebevolles Elternpaar um sich sieht, das es mit Freude<lb/>
begrüßt, eine Mutter, die seiner wartet und pflegt, und einen Vater, der die<lb/>
Mutter bei der Erziehung unterstützt und für ihren Unterhalt sorgt, damit die<lb/>
Mutter sich ganz dem Kinde widmen und es zu einem gesunden und gesitteten<lb/>
Menschen heranziehen kann?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_567" next="#ID_568"> Die Nächstliegende Aufgabe einer sozialen Gesetzgebung wäre also, dafür<lb/>
zu sorgen, daß diese erste Forderung des Kindes erfüllt wird, daß pflicht¬<lb/>
vergessene Eltern zu ihren Pflichten angehalten werden. Mail hat bei dieser<lb/>
Gesetzgebung einen Zwang eingeführt für Beteiligte und Unbeteiligte. Man<lb/>
zwingt die ganz unbeteiligten Arbeitgeber, die keinerlei Vorteil von diesen<lb/>
sozialen Einrichtungen haben, erhebliche Teile ihres Einkommens zugunsten der<lb/>
Beteiligten abzutreten. Es entspricht daher nur der Billigkeit, wenn man in<lb/>
erster Linie unsorgsame Eheleute einerseits von den Wohltaten dieser Gesetz¬<lb/>
gebung ausschließt und ihnen anderseits das Verfügungsrecht über einen so<lb/>
großen Teil ihres Verdienstes entzieht, wie er zur Bestreitung der Kosten des<lb/>
Unterhaltes und der Erziehung des Kindes erforderlich ist, die man beide<lb/>
ungetreuen, pflichtvergessenen Eltern nicht anvertrauen darf. Da ferner die<lb/>
jungen Menschen nicht so lange unter der alleinigen Obhut der Eltern oder<lb/>
der Familie bleiben tourner, bis ihr Charakter ganz gereift ist, da sie noch<lb/>
unentwickelt an Körper und Geist in das Berufs- und Erwerbsleben eintreten<lb/>
müssen, so ergibt sich die weitere Forderung, daß auch hierin dem Jüngling oder dem<lb/>
jungen Mädchen ihr Recht zuteil wird, daß sie geschlitzt und geleitet und in<lb/>
gleichem Sinne mit der Familie weiter erzogen werden, damit ihr Charakter<lb/>
sich einheitlich entwickelt. Dies ist ganz besonders nötig in der Industrie, wo<lb/>
die jungen Leute direkt aus der Schule, in der sie mit nur gleichaltrigen<lb/>
Gefährten zusammen waren, in den Fabrikbetrieben in die Arbeitsgemeinschaft</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0124] Die Aufgabe des deutschen Bürgertums der Industrie ausgehend zunächst in dem einzelnen Betrieb einen Arbeiter¬ ausschuß mit dem Arbeitgeber zusammen bildet, eine -angemessene Anzahl solcher Betriebsausschüsse zu Orts- oder Amtsverbänden zusammenfaßt, in derselben Weise aufwärts Kreis-, Bezirks- und Provinzialausschüsse bildet und von den entsprechenden Ausschüssen gleichzeitig die Wahlen der Vertreter von Arbeitern und Arbeitgebern vornehmen läßt, so bleibt der Zusammenhang zwischen beiden gewahrt, eine Agitation findet keinen Anhalt, und vor allen Dingen wird die Einwirkung Außenstehender vermieden, die fremde Gesichtspunkte einmengen und dadurch Veranlassung zu Erregung geben. Haben nun die großen Aufwendungen zur Förderung des materiellen (wirtschaftlichen) Wohles dazu beigetragen, den ethischen (sittlichen) Standpunkt des Volkes zu heben? Bei der Inangriffnahme der Sozialpolitik hat man an einen Schutz der Schwachen und eine Geltendmachung allgemeiner Menschenrechte gedacht. Ist nun nicht das schwächste Glied der menschlichen Gesellschaft das neugeborene Kind? und ist nicht sein allererstes Menschenrecht, daß es bei seinem Eintreten in die Welt ein liebevolles Elternpaar um sich sieht, das es mit Freude begrüßt, eine Mutter, die seiner wartet und pflegt, und einen Vater, der die Mutter bei der Erziehung unterstützt und für ihren Unterhalt sorgt, damit die Mutter sich ganz dem Kinde widmen und es zu einem gesunden und gesitteten Menschen heranziehen kann? Die Nächstliegende Aufgabe einer sozialen Gesetzgebung wäre also, dafür zu sorgen, daß diese erste Forderung des Kindes erfüllt wird, daß pflicht¬ vergessene Eltern zu ihren Pflichten angehalten werden. Mail hat bei dieser Gesetzgebung einen Zwang eingeführt für Beteiligte und Unbeteiligte. Man zwingt die ganz unbeteiligten Arbeitgeber, die keinerlei Vorteil von diesen sozialen Einrichtungen haben, erhebliche Teile ihres Einkommens zugunsten der Beteiligten abzutreten. Es entspricht daher nur der Billigkeit, wenn man in erster Linie unsorgsame Eheleute einerseits von den Wohltaten dieser Gesetz¬ gebung ausschließt und ihnen anderseits das Verfügungsrecht über einen so großen Teil ihres Verdienstes entzieht, wie er zur Bestreitung der Kosten des Unterhaltes und der Erziehung des Kindes erforderlich ist, die man beide ungetreuen, pflichtvergessenen Eltern nicht anvertrauen darf. Da ferner die jungen Menschen nicht so lange unter der alleinigen Obhut der Eltern oder der Familie bleiben tourner, bis ihr Charakter ganz gereift ist, da sie noch unentwickelt an Körper und Geist in das Berufs- und Erwerbsleben eintreten müssen, so ergibt sich die weitere Forderung, daß auch hierin dem Jüngling oder dem jungen Mädchen ihr Recht zuteil wird, daß sie geschlitzt und geleitet und in gleichem Sinne mit der Familie weiter erzogen werden, damit ihr Charakter sich einheitlich entwickelt. Dies ist ganz besonders nötig in der Industrie, wo die jungen Leute direkt aus der Schule, in der sie mit nur gleichaltrigen Gefährten zusammen waren, in den Fabrikbetrieben in die Arbeitsgemeinschaft

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/124
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/124>, abgerufen am 29.12.2024.