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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Nachteile der sozialen Gesetze

Möglichkeit stehen? Bis jetzt haben ja Arbeitgeber und Arbeiter die Kosten,
ohne Schwierigkeiten zu machen, aufgebracht. Unter dem Druck des sozialen
Gedankens und bei der raschen Steigerung der Geschäfte und des Einkommens
sind sie den erträglichen Forderungen der Regierungen entgegengekommen, zumal
ihnen eine wesentliche Teilnahme an der Verwaltung eingeräumt war. Jetzt
sollen alle Lasten bedeutend steigen und zugleich die Selbstverwaltung arg
beschnitten werden. Wird da nicht auch der beste Wille mißmutig? Wird da
nicht allzu weitherzig mit den durch stramme Arbeit erworbenen Mitteln gewirt¬
schaftet? Wie soll die vergrößerte Last getragen werden in einer Periode weniger
guten Geschäftsgangs, in deren Beginn wir vielleicht gerade jetzt stehen?

Aber, so wird man fragen, sind denn die -- bereits erwähnten -- Kontroll¬
maßregeln so wenig wirksam? Das führt zu dem zweiten hier zu behandelnden
Punkte, den ethischen Nachteilen. Die Kontrolle, das hat längere Erfahrung
sicher bewiesen, ist äußerst erschwert durch das Hineinziehen von Geldvorteilen.
Wenn ein Kranker zum Arzt geht, haben beide denselben Zweck der Besserung
eines Leidens. Der Kranke wird also dem Arzte die Wahrheit sagen, weil das
sein Vorteil verlangt. Ein Versicherter dagegen geht zum Arzt, zuerst vielleicht
um gebessert zu werden, außerdem aber will er möglichst lange und möglichst
hohe Geldentschädigung haben, was leider ein himmelweit verschiedenes Verhalten
zur Folge hat. Der Kranke muß alle Symptome möglichst lange und möglichst
heftig konservieren, um jenen zweiten Zweck zu erreichen, und tut das mittels
der Simulation und Übertreibung. Damit ist das Vertrauensverhältnis zum
Arzte im Grunde zerstört. Das Geldinteresse verführt den Kranken zu dein,
was man juristisch als Prozeß- oder Parteilüge bezeichnet, d. h. der Lüge, welche
im Prozeß vorgebracht wird, welche dort ganz gewöhnlich auf beiden Seiten
vorkommt und sogar als selbstverständlich entschuldigt wird. Der damit bekannte
Richter muß aus ihr die Wahrheit heraussuchen. Ju Versicherungssachen dagegen
ist sie nur auf einer Seite, beim Kranken, zu finden. Dieser ist Partei und
zugleich Zeuge, oft sogar einziger Zeuge, er kann nicht vereidigt werden und hat
das größte Interesse an der Verschleierung der Lage. Diesem Verhalten gegen¬
über versagen die gewöhnlichen Mittel der Richter in unerwarteter Weise; auch
der Gutachtenbeweis durch Ärzte ist wesentlich auf die Aussagen dieses Haupt¬
zeugen augewiesen, während die danebenher laufenden Resultate der ärztlichen
Untersuchung häufig unsicher, häufig vieldeutig sind. Eine der häufigsten Klagen,
der Schmerz, läßt sich durch Untersuchung nicht einwandfrei widerlegen. Die
Folgen sind unsichere Ergebnisse des Rechtsverfahrens sowohl für den gegen¬
wärtigen Zustand als für die Vergangenheit. Der Richter muß ebenso wie
der Gutachter mit Möglichkeiten rechnen, welche von sozial angehauchten
Beteiligten aus den entfernteste?! Winkeln zusammengesucht werden. Dazu
muß der Gutachter sich auch noch meistens über die sogenannte
Prognose erklären, d. h. über die Aussichten für die Zukunft, er soll
prophezeien. Jedermann weiß aber, was von Prophezeiungen zu halten ist.


Nachteile der sozialen Gesetze

Möglichkeit stehen? Bis jetzt haben ja Arbeitgeber und Arbeiter die Kosten,
ohne Schwierigkeiten zu machen, aufgebracht. Unter dem Druck des sozialen
Gedankens und bei der raschen Steigerung der Geschäfte und des Einkommens
sind sie den erträglichen Forderungen der Regierungen entgegengekommen, zumal
ihnen eine wesentliche Teilnahme an der Verwaltung eingeräumt war. Jetzt
sollen alle Lasten bedeutend steigen und zugleich die Selbstverwaltung arg
beschnitten werden. Wird da nicht auch der beste Wille mißmutig? Wird da
nicht allzu weitherzig mit den durch stramme Arbeit erworbenen Mitteln gewirt¬
schaftet? Wie soll die vergrößerte Last getragen werden in einer Periode weniger
guten Geschäftsgangs, in deren Beginn wir vielleicht gerade jetzt stehen?

Aber, so wird man fragen, sind denn die — bereits erwähnten — Kontroll¬
maßregeln so wenig wirksam? Das führt zu dem zweiten hier zu behandelnden
Punkte, den ethischen Nachteilen. Die Kontrolle, das hat längere Erfahrung
sicher bewiesen, ist äußerst erschwert durch das Hineinziehen von Geldvorteilen.
Wenn ein Kranker zum Arzt geht, haben beide denselben Zweck der Besserung
eines Leidens. Der Kranke wird also dem Arzte die Wahrheit sagen, weil das
sein Vorteil verlangt. Ein Versicherter dagegen geht zum Arzt, zuerst vielleicht
um gebessert zu werden, außerdem aber will er möglichst lange und möglichst
hohe Geldentschädigung haben, was leider ein himmelweit verschiedenes Verhalten
zur Folge hat. Der Kranke muß alle Symptome möglichst lange und möglichst
heftig konservieren, um jenen zweiten Zweck zu erreichen, und tut das mittels
der Simulation und Übertreibung. Damit ist das Vertrauensverhältnis zum
Arzte im Grunde zerstört. Das Geldinteresse verführt den Kranken zu dein,
was man juristisch als Prozeß- oder Parteilüge bezeichnet, d. h. der Lüge, welche
im Prozeß vorgebracht wird, welche dort ganz gewöhnlich auf beiden Seiten
vorkommt und sogar als selbstverständlich entschuldigt wird. Der damit bekannte
Richter muß aus ihr die Wahrheit heraussuchen. Ju Versicherungssachen dagegen
ist sie nur auf einer Seite, beim Kranken, zu finden. Dieser ist Partei und
zugleich Zeuge, oft sogar einziger Zeuge, er kann nicht vereidigt werden und hat
das größte Interesse an der Verschleierung der Lage. Diesem Verhalten gegen¬
über versagen die gewöhnlichen Mittel der Richter in unerwarteter Weise; auch
der Gutachtenbeweis durch Ärzte ist wesentlich auf die Aussagen dieses Haupt¬
zeugen augewiesen, während die danebenher laufenden Resultate der ärztlichen
Untersuchung häufig unsicher, häufig vieldeutig sind. Eine der häufigsten Klagen,
der Schmerz, läßt sich durch Untersuchung nicht einwandfrei widerlegen. Die
Folgen sind unsichere Ergebnisse des Rechtsverfahrens sowohl für den gegen¬
wärtigen Zustand als für die Vergangenheit. Der Richter muß ebenso wie
der Gutachter mit Möglichkeiten rechnen, welche von sozial angehauchten
Beteiligten aus den entfernteste?! Winkeln zusammengesucht werden. Dazu
muß der Gutachter sich auch noch meistens über die sogenannte
Prognose erklären, d. h. über die Aussichten für die Zukunft, er soll
prophezeien. Jedermann weiß aber, was von Prophezeiungen zu halten ist.


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[0625] Nachteile der sozialen Gesetze Möglichkeit stehen? Bis jetzt haben ja Arbeitgeber und Arbeiter die Kosten, ohne Schwierigkeiten zu machen, aufgebracht. Unter dem Druck des sozialen Gedankens und bei der raschen Steigerung der Geschäfte und des Einkommens sind sie den erträglichen Forderungen der Regierungen entgegengekommen, zumal ihnen eine wesentliche Teilnahme an der Verwaltung eingeräumt war. Jetzt sollen alle Lasten bedeutend steigen und zugleich die Selbstverwaltung arg beschnitten werden. Wird da nicht auch der beste Wille mißmutig? Wird da nicht allzu weitherzig mit den durch stramme Arbeit erworbenen Mitteln gewirt¬ schaftet? Wie soll die vergrößerte Last getragen werden in einer Periode weniger guten Geschäftsgangs, in deren Beginn wir vielleicht gerade jetzt stehen? Aber, so wird man fragen, sind denn die — bereits erwähnten — Kontroll¬ maßregeln so wenig wirksam? Das führt zu dem zweiten hier zu behandelnden Punkte, den ethischen Nachteilen. Die Kontrolle, das hat längere Erfahrung sicher bewiesen, ist äußerst erschwert durch das Hineinziehen von Geldvorteilen. Wenn ein Kranker zum Arzt geht, haben beide denselben Zweck der Besserung eines Leidens. Der Kranke wird also dem Arzte die Wahrheit sagen, weil das sein Vorteil verlangt. Ein Versicherter dagegen geht zum Arzt, zuerst vielleicht um gebessert zu werden, außerdem aber will er möglichst lange und möglichst hohe Geldentschädigung haben, was leider ein himmelweit verschiedenes Verhalten zur Folge hat. Der Kranke muß alle Symptome möglichst lange und möglichst heftig konservieren, um jenen zweiten Zweck zu erreichen, und tut das mittels der Simulation und Übertreibung. Damit ist das Vertrauensverhältnis zum Arzte im Grunde zerstört. Das Geldinteresse verführt den Kranken zu dein, was man juristisch als Prozeß- oder Parteilüge bezeichnet, d. h. der Lüge, welche im Prozeß vorgebracht wird, welche dort ganz gewöhnlich auf beiden Seiten vorkommt und sogar als selbstverständlich entschuldigt wird. Der damit bekannte Richter muß aus ihr die Wahrheit heraussuchen. Ju Versicherungssachen dagegen ist sie nur auf einer Seite, beim Kranken, zu finden. Dieser ist Partei und zugleich Zeuge, oft sogar einziger Zeuge, er kann nicht vereidigt werden und hat das größte Interesse an der Verschleierung der Lage. Diesem Verhalten gegen¬ über versagen die gewöhnlichen Mittel der Richter in unerwarteter Weise; auch der Gutachtenbeweis durch Ärzte ist wesentlich auf die Aussagen dieses Haupt¬ zeugen augewiesen, während die danebenher laufenden Resultate der ärztlichen Untersuchung häufig unsicher, häufig vieldeutig sind. Eine der häufigsten Klagen, der Schmerz, läßt sich durch Untersuchung nicht einwandfrei widerlegen. Die Folgen sind unsichere Ergebnisse des Rechtsverfahrens sowohl für den gegen¬ wärtigen Zustand als für die Vergangenheit. Der Richter muß ebenso wie der Gutachter mit Möglichkeiten rechnen, welche von sozial angehauchten Beteiligten aus den entfernteste?! Winkeln zusammengesucht werden. Dazu muß der Gutachter sich auch noch meistens über die sogenannte Prognose erklären, d. h. über die Aussichten für die Zukunft, er soll prophezeien. Jedermann weiß aber, was von Prophezeiungen zu halten ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/625>, abgerufen am 22.07.2024.