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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Nachteile der sozialen Gesetze

Unter solchen Schwierigkeiten häufen sich die mißbräuchlichen Ansprüche an alle
Versicherungszweige in bedenklichem Grade. Alle Gegenmaßregeln, die ja auch
vom Reichsversicherungsamte fortwährend verlangt werden, haben nicht vermocht,
dem Übel zu steuern, die Verführung ist zu groß, und die Mittel werden mehr
und mehr bekannt. Der vorgeschriebene Prozeßweg hat wenig genützt, Anklagen
wegen Betrug haben nur ganz ausnahmsweise Erfolg und werden von den
Versicherungen nur sehr ungern erhoben, schon darum, weil die Betrüger doch
den Schaden nicht zu ersetzen vermögen. Dazu kommt zuletzt noch, daß durch
die kostenlose Führung der Versicherungsprozesse die Prozeßsucht augenfällig
begünstigt wird. Das betrübliche Resultat ist, daß es in so vielen Fällen
durchaus an dem guten Willen zur Beseitigung der Leiden fehlt, daß gewisse
Krankheiten, viele Folgen von Verletzungen überhaupt nicht mehr gebessert
werden, daß manche Körperschäden, um die sich früher nur in schweren Fällen
jemand bekümmerte, z. B. Unterleibsbrüche, sich jetzt generell zu schweren
Schäden auswachsen, welche mit dauernder Reute, selbst mit Invalidität ab¬
gegolten werden müssen.

Es wird kaum eines Beweises bedürfen, daß die Moral der Übertreiber
und Simulanten bei diesem Verlaufe und den oft jahrelang dauernden Prozessen
bedenklich leidet. Aber auf sie bleibt der Schaden nicht beschränkt; denn es
kann nicht bestritten werden, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der
wirkliche Sachverhalt und der durch Betrug erstrittene Gewinn in der weiteren
Umgebung des Versicherten genau bekannt sind. Die Folgen davon sind: Anstoß
bei den ehrlichen Leuten, Lachen bei den Spöttern, bei den unsicheren Elementen
der feste Vorsatz, es bei erster Gelegenheit ebenso zu machen, Wasser auf die
Mühle der Sozialdemokratie. Bei allen aber kommen die Vorstellungen von
der Güte der Gesetzgebung, von der Einsicht der Behörden, von der Gerechtigkeit
der Spruchgerichte in bedenkliches Schwanken, und die ganze Wohltat der sozialen
Gesetzgebung wird damit in Frage gestellt. Diese Dinge sind den Versicherungs¬
organen längst bekannt und beklagt. Leider ist der Druck des sozialen Gedankens
und die Furcht vor der Sozialdemokratie in den Regierungen wie in den
Parteien noch so stark, daß alle Bedenken dagegen unter den Tisch fallen; erst
in neuester Zeit scheinen auch in juristischen Kreisen Befürchtungen für das
Gemeinwohl aufzutauchen.

Zur Illustration soll noch ein Brief mitgeteilt werden, der schon vor längerer
Zeit von einem sog. Meister einer großen Staatswerkstatt, also einem schon
besser situierten Manne, geschrieben ist und zwar an sich nur eine minderwertige
Sache betrifft, aber eine klare Einsicht in den Gedankengang der Versicherten
gewährt. Er lautete so:

"Meine liebe Frau S.I Die Badekur, die ich bei Ihnen in A. im vorigen
Sommer durchmachte, ist mir sehr gut bekommen. Um aber gegen einen
Rückfall meines Rheumatismus gesichert zu sein, habe ich mich kürzlich wegen
eines abermaligen Aufenthaltes in A. an meine Versicherungsanstalt gewandt,


Nachteile der sozialen Gesetze

Unter solchen Schwierigkeiten häufen sich die mißbräuchlichen Ansprüche an alle
Versicherungszweige in bedenklichem Grade. Alle Gegenmaßregeln, die ja auch
vom Reichsversicherungsamte fortwährend verlangt werden, haben nicht vermocht,
dem Übel zu steuern, die Verführung ist zu groß, und die Mittel werden mehr
und mehr bekannt. Der vorgeschriebene Prozeßweg hat wenig genützt, Anklagen
wegen Betrug haben nur ganz ausnahmsweise Erfolg und werden von den
Versicherungen nur sehr ungern erhoben, schon darum, weil die Betrüger doch
den Schaden nicht zu ersetzen vermögen. Dazu kommt zuletzt noch, daß durch
die kostenlose Führung der Versicherungsprozesse die Prozeßsucht augenfällig
begünstigt wird. Das betrübliche Resultat ist, daß es in so vielen Fällen
durchaus an dem guten Willen zur Beseitigung der Leiden fehlt, daß gewisse
Krankheiten, viele Folgen von Verletzungen überhaupt nicht mehr gebessert
werden, daß manche Körperschäden, um die sich früher nur in schweren Fällen
jemand bekümmerte, z. B. Unterleibsbrüche, sich jetzt generell zu schweren
Schäden auswachsen, welche mit dauernder Reute, selbst mit Invalidität ab¬
gegolten werden müssen.

Es wird kaum eines Beweises bedürfen, daß die Moral der Übertreiber
und Simulanten bei diesem Verlaufe und den oft jahrelang dauernden Prozessen
bedenklich leidet. Aber auf sie bleibt der Schaden nicht beschränkt; denn es
kann nicht bestritten werden, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der
wirkliche Sachverhalt und der durch Betrug erstrittene Gewinn in der weiteren
Umgebung des Versicherten genau bekannt sind. Die Folgen davon sind: Anstoß
bei den ehrlichen Leuten, Lachen bei den Spöttern, bei den unsicheren Elementen
der feste Vorsatz, es bei erster Gelegenheit ebenso zu machen, Wasser auf die
Mühle der Sozialdemokratie. Bei allen aber kommen die Vorstellungen von
der Güte der Gesetzgebung, von der Einsicht der Behörden, von der Gerechtigkeit
der Spruchgerichte in bedenkliches Schwanken, und die ganze Wohltat der sozialen
Gesetzgebung wird damit in Frage gestellt. Diese Dinge sind den Versicherungs¬
organen längst bekannt und beklagt. Leider ist der Druck des sozialen Gedankens
und die Furcht vor der Sozialdemokratie in den Regierungen wie in den
Parteien noch so stark, daß alle Bedenken dagegen unter den Tisch fallen; erst
in neuester Zeit scheinen auch in juristischen Kreisen Befürchtungen für das
Gemeinwohl aufzutauchen.

Zur Illustration soll noch ein Brief mitgeteilt werden, der schon vor längerer
Zeit von einem sog. Meister einer großen Staatswerkstatt, also einem schon
besser situierten Manne, geschrieben ist und zwar an sich nur eine minderwertige
Sache betrifft, aber eine klare Einsicht in den Gedankengang der Versicherten
gewährt. Er lautete so:

„Meine liebe Frau S.I Die Badekur, die ich bei Ihnen in A. im vorigen
Sommer durchmachte, ist mir sehr gut bekommen. Um aber gegen einen
Rückfall meines Rheumatismus gesichert zu sein, habe ich mich kürzlich wegen
eines abermaligen Aufenthaltes in A. an meine Versicherungsanstalt gewandt,


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[0626] Nachteile der sozialen Gesetze Unter solchen Schwierigkeiten häufen sich die mißbräuchlichen Ansprüche an alle Versicherungszweige in bedenklichem Grade. Alle Gegenmaßregeln, die ja auch vom Reichsversicherungsamte fortwährend verlangt werden, haben nicht vermocht, dem Übel zu steuern, die Verführung ist zu groß, und die Mittel werden mehr und mehr bekannt. Der vorgeschriebene Prozeßweg hat wenig genützt, Anklagen wegen Betrug haben nur ganz ausnahmsweise Erfolg und werden von den Versicherungen nur sehr ungern erhoben, schon darum, weil die Betrüger doch den Schaden nicht zu ersetzen vermögen. Dazu kommt zuletzt noch, daß durch die kostenlose Führung der Versicherungsprozesse die Prozeßsucht augenfällig begünstigt wird. Das betrübliche Resultat ist, daß es in so vielen Fällen durchaus an dem guten Willen zur Beseitigung der Leiden fehlt, daß gewisse Krankheiten, viele Folgen von Verletzungen überhaupt nicht mehr gebessert werden, daß manche Körperschäden, um die sich früher nur in schweren Fällen jemand bekümmerte, z. B. Unterleibsbrüche, sich jetzt generell zu schweren Schäden auswachsen, welche mit dauernder Reute, selbst mit Invalidität ab¬ gegolten werden müssen. Es wird kaum eines Beweises bedürfen, daß die Moral der Übertreiber und Simulanten bei diesem Verlaufe und den oft jahrelang dauernden Prozessen bedenklich leidet. Aber auf sie bleibt der Schaden nicht beschränkt; denn es kann nicht bestritten werden, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der wirkliche Sachverhalt und der durch Betrug erstrittene Gewinn in der weiteren Umgebung des Versicherten genau bekannt sind. Die Folgen davon sind: Anstoß bei den ehrlichen Leuten, Lachen bei den Spöttern, bei den unsicheren Elementen der feste Vorsatz, es bei erster Gelegenheit ebenso zu machen, Wasser auf die Mühle der Sozialdemokratie. Bei allen aber kommen die Vorstellungen von der Güte der Gesetzgebung, von der Einsicht der Behörden, von der Gerechtigkeit der Spruchgerichte in bedenkliches Schwanken, und die ganze Wohltat der sozialen Gesetzgebung wird damit in Frage gestellt. Diese Dinge sind den Versicherungs¬ organen längst bekannt und beklagt. Leider ist der Druck des sozialen Gedankens und die Furcht vor der Sozialdemokratie in den Regierungen wie in den Parteien noch so stark, daß alle Bedenken dagegen unter den Tisch fallen; erst in neuester Zeit scheinen auch in juristischen Kreisen Befürchtungen für das Gemeinwohl aufzutauchen. Zur Illustration soll noch ein Brief mitgeteilt werden, der schon vor längerer Zeit von einem sog. Meister einer großen Staatswerkstatt, also einem schon besser situierten Manne, geschrieben ist und zwar an sich nur eine minderwertige Sache betrifft, aber eine klare Einsicht in den Gedankengang der Versicherten gewährt. Er lautete so: „Meine liebe Frau S.I Die Badekur, die ich bei Ihnen in A. im vorigen Sommer durchmachte, ist mir sehr gut bekommen. Um aber gegen einen Rückfall meines Rheumatismus gesichert zu sein, habe ich mich kürzlich wegen eines abermaligen Aufenthaltes in A. an meine Versicherungsanstalt gewandt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/626>, abgerufen am 22.07.2024.