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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Nachteile der sozialen Gesetze

natürlich anderswo gesucht, und besonders die Ärzte sollen dann das Karnickel
sein, das an allein schuld ist. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so schlimm, ist
es bei der Unfall- und Invalidenversicherung; bei beiden fällt es auf, wie sehr
durch Erholungsheime, Rekonvaleszentenanstalten, Heilstätten, mediko-mechanische
Institute u. tgi. in. die Kosten des Einzelfalles in die Höhe getrieben werden,
und zwar durch Methoden, deren Wirksamkeit keineswegs überall sichergestellt
ist, sondern häufig nur der Mode des Tages und freilich der sozialen Richtung
entspricht, welche zurzeit noch in den leitenden Kreisen der Regierungen, der
Parlamente und der Parteien an der Tagesordnung ist. Sie scheinen immer
noch in der Illusion befangen, durch die sozialen Gesetze könne die Sozial¬
demokratie bekämpft werden; das ist ein grober Irrtum.

Wohin dieser Weg führt, ist aus einem kürzlich bekannt gegebenen Bei¬
spiele klar zu ersehen. Die Bahnbetriebskrankenkasse des Großherzogtums Baden,
welche nur in Mannheim sogenannte freie Arztwahl, sonst fest angestellte Ärzte
hat. schloß das Jahr 1909 mit einem Defizit von fast 106000 Mark ab.
obwohl nach Aussage des Vorsitzenden, eines Technikers, die Leistungen nicht
gestiegen seien und keine ungünstigen Gesundheitsverhältnisse geherrscht hätten.
Trotzdem sind die Leistungen pro Kopf fast um 6 Mark und trotz etwas
niedrigeren Mitgliederstandes die Krankengelder um 64000 Mark gestiegen. Der
Vorsitzende erklärte in offener Versammlung, daß die Kasse in ganz ungehöriger
Weise ausgenutzt werde, daß zahlreiche Mitglieder im Genusse des Kranken¬
geldes sich befänden, ohne arbeitsunfähig zu sein, daß in der Höhe des Kranken¬
geldes ein Anreiz zur Simulation liege; von den freiwilligen Mitgliedern,
d, h. denen, die Mitglieder geblieben sind, obwohl ihr Lohn die 2000 Mark-
Grenze überschreitet, erwähnte er, daß auf jedes von ihnen fünfzehn bis sechzehn
Krankheitstage mehr entfallen als auf ein Pflichtmitglied.

Durch die neue Versicheruugsordnung soll nun dieser jetzt schon bedeutende
Umfang noch beträchtlich erweitert werden; die Berechnungen sprechen von einer
Steigerung der Kopfzahl von 13 auf 19 Millionen, so daß, die Angehörigen
eingerechnet, etwa 90 bis 95 Prozent aller Deutschen versichert sein würden.
Von besonders begeisterungsfähigen Sozialisten wird sogar die Versicherung bis
zu 5000 Mark Einkommen verlangt, so daß nur etwa 1 bis 2 Prozent der
Bevölkerung frei bleiben würden; die Kommission hat die Erhöhung der Grenze
von 2000 auf 2500 Mark bereits vorläufig beschlossen. Es sollen ferner auch
Witwen und Waisen Pensionen bekommen; verlangt wird auch die Versicherung
von Privatbeamten, soweit sie nicht schon jetzt versichert sind. d. h. bis zu
2000 Mark Einkommen. Das ganze Werk soll dann mit einem großen neuen
Beamtenapparat gekrönt werden, dessen Kopfzahl in die Tausende geht; für
zahlreiche Juristen und Militärs mit Zivilvcrsorgungsschein würden sich dadurch
gute Aussichten eröffnen. Von den zu alledem benötigten Kosten spricht man
nicht gern, die Berechnungen gehen je nach dem Standpunkt auch weit aus¬
einander. Einer der Väter des Entwurfs hat in öffentlicher Versammlung die


Nachteile der sozialen Gesetze

natürlich anderswo gesucht, und besonders die Ärzte sollen dann das Karnickel
sein, das an allein schuld ist. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so schlimm, ist
es bei der Unfall- und Invalidenversicherung; bei beiden fällt es auf, wie sehr
durch Erholungsheime, Rekonvaleszentenanstalten, Heilstätten, mediko-mechanische
Institute u. tgi. in. die Kosten des Einzelfalles in die Höhe getrieben werden,
und zwar durch Methoden, deren Wirksamkeit keineswegs überall sichergestellt
ist, sondern häufig nur der Mode des Tages und freilich der sozialen Richtung
entspricht, welche zurzeit noch in den leitenden Kreisen der Regierungen, der
Parlamente und der Parteien an der Tagesordnung ist. Sie scheinen immer
noch in der Illusion befangen, durch die sozialen Gesetze könne die Sozial¬
demokratie bekämpft werden; das ist ein grober Irrtum.

Wohin dieser Weg führt, ist aus einem kürzlich bekannt gegebenen Bei¬
spiele klar zu ersehen. Die Bahnbetriebskrankenkasse des Großherzogtums Baden,
welche nur in Mannheim sogenannte freie Arztwahl, sonst fest angestellte Ärzte
hat. schloß das Jahr 1909 mit einem Defizit von fast 106000 Mark ab.
obwohl nach Aussage des Vorsitzenden, eines Technikers, die Leistungen nicht
gestiegen seien und keine ungünstigen Gesundheitsverhältnisse geherrscht hätten.
Trotzdem sind die Leistungen pro Kopf fast um 6 Mark und trotz etwas
niedrigeren Mitgliederstandes die Krankengelder um 64000 Mark gestiegen. Der
Vorsitzende erklärte in offener Versammlung, daß die Kasse in ganz ungehöriger
Weise ausgenutzt werde, daß zahlreiche Mitglieder im Genusse des Kranken¬
geldes sich befänden, ohne arbeitsunfähig zu sein, daß in der Höhe des Kranken¬
geldes ein Anreiz zur Simulation liege; von den freiwilligen Mitgliedern,
d, h. denen, die Mitglieder geblieben sind, obwohl ihr Lohn die 2000 Mark-
Grenze überschreitet, erwähnte er, daß auf jedes von ihnen fünfzehn bis sechzehn
Krankheitstage mehr entfallen als auf ein Pflichtmitglied.

Durch die neue Versicheruugsordnung soll nun dieser jetzt schon bedeutende
Umfang noch beträchtlich erweitert werden; die Berechnungen sprechen von einer
Steigerung der Kopfzahl von 13 auf 19 Millionen, so daß, die Angehörigen
eingerechnet, etwa 90 bis 95 Prozent aller Deutschen versichert sein würden.
Von besonders begeisterungsfähigen Sozialisten wird sogar die Versicherung bis
zu 5000 Mark Einkommen verlangt, so daß nur etwa 1 bis 2 Prozent der
Bevölkerung frei bleiben würden; die Kommission hat die Erhöhung der Grenze
von 2000 auf 2500 Mark bereits vorläufig beschlossen. Es sollen ferner auch
Witwen und Waisen Pensionen bekommen; verlangt wird auch die Versicherung
von Privatbeamten, soweit sie nicht schon jetzt versichert sind. d. h. bis zu
2000 Mark Einkommen. Das ganze Werk soll dann mit einem großen neuen
Beamtenapparat gekrönt werden, dessen Kopfzahl in die Tausende geht; für
zahlreiche Juristen und Militärs mit Zivilvcrsorgungsschein würden sich dadurch
gute Aussichten eröffnen. Von den zu alledem benötigten Kosten spricht man
nicht gern, die Berechnungen gehen je nach dem Standpunkt auch weit aus¬
einander. Einer der Väter des Entwurfs hat in öffentlicher Versammlung die


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[0623] Nachteile der sozialen Gesetze natürlich anderswo gesucht, und besonders die Ärzte sollen dann das Karnickel sein, das an allein schuld ist. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so schlimm, ist es bei der Unfall- und Invalidenversicherung; bei beiden fällt es auf, wie sehr durch Erholungsheime, Rekonvaleszentenanstalten, Heilstätten, mediko-mechanische Institute u. tgi. in. die Kosten des Einzelfalles in die Höhe getrieben werden, und zwar durch Methoden, deren Wirksamkeit keineswegs überall sichergestellt ist, sondern häufig nur der Mode des Tages und freilich der sozialen Richtung entspricht, welche zurzeit noch in den leitenden Kreisen der Regierungen, der Parlamente und der Parteien an der Tagesordnung ist. Sie scheinen immer noch in der Illusion befangen, durch die sozialen Gesetze könne die Sozial¬ demokratie bekämpft werden; das ist ein grober Irrtum. Wohin dieser Weg führt, ist aus einem kürzlich bekannt gegebenen Bei¬ spiele klar zu ersehen. Die Bahnbetriebskrankenkasse des Großherzogtums Baden, welche nur in Mannheim sogenannte freie Arztwahl, sonst fest angestellte Ärzte hat. schloß das Jahr 1909 mit einem Defizit von fast 106000 Mark ab. obwohl nach Aussage des Vorsitzenden, eines Technikers, die Leistungen nicht gestiegen seien und keine ungünstigen Gesundheitsverhältnisse geherrscht hätten. Trotzdem sind die Leistungen pro Kopf fast um 6 Mark und trotz etwas niedrigeren Mitgliederstandes die Krankengelder um 64000 Mark gestiegen. Der Vorsitzende erklärte in offener Versammlung, daß die Kasse in ganz ungehöriger Weise ausgenutzt werde, daß zahlreiche Mitglieder im Genusse des Kranken¬ geldes sich befänden, ohne arbeitsunfähig zu sein, daß in der Höhe des Kranken¬ geldes ein Anreiz zur Simulation liege; von den freiwilligen Mitgliedern, d, h. denen, die Mitglieder geblieben sind, obwohl ihr Lohn die 2000 Mark- Grenze überschreitet, erwähnte er, daß auf jedes von ihnen fünfzehn bis sechzehn Krankheitstage mehr entfallen als auf ein Pflichtmitglied. Durch die neue Versicheruugsordnung soll nun dieser jetzt schon bedeutende Umfang noch beträchtlich erweitert werden; die Berechnungen sprechen von einer Steigerung der Kopfzahl von 13 auf 19 Millionen, so daß, die Angehörigen eingerechnet, etwa 90 bis 95 Prozent aller Deutschen versichert sein würden. Von besonders begeisterungsfähigen Sozialisten wird sogar die Versicherung bis zu 5000 Mark Einkommen verlangt, so daß nur etwa 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung frei bleiben würden; die Kommission hat die Erhöhung der Grenze von 2000 auf 2500 Mark bereits vorläufig beschlossen. Es sollen ferner auch Witwen und Waisen Pensionen bekommen; verlangt wird auch die Versicherung von Privatbeamten, soweit sie nicht schon jetzt versichert sind. d. h. bis zu 2000 Mark Einkommen. Das ganze Werk soll dann mit einem großen neuen Beamtenapparat gekrönt werden, dessen Kopfzahl in die Tausende geht; für zahlreiche Juristen und Militärs mit Zivilvcrsorgungsschein würden sich dadurch gute Aussichten eröffnen. Von den zu alledem benötigten Kosten spricht man nicht gern, die Berechnungen gehen je nach dem Standpunkt auch weit aus¬ einander. Einer der Väter des Entwurfs hat in öffentlicher Versammlung die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/623>, abgerufen am 22.07.2024.