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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Nachteile der sozialen Gesetze

die Unbrauchbarst der Arbeit erklären; er würde es begrüßen, so sagte er,
wenn neue Vorschläge aus der Mitte der Kommission kämen. Solchen
Schwierigkeiten gegenüber dürfte es angebracht sein, neben voller Anerkennung
des großen Nutzens der Reichsversicherung für die Versicherten, weitere Kreise
wenigstens in knappen Umrissen auf die bisher beobachteten Nachteile aufmerksam
zu machen, die sich naturgemäß erst nach und nach, mit wachsender Erkenntnis
der gebotenen Möglichkeiten entwickelt haben. Sie lassen sich in finanzielle und
ethische trennen, doch greifen beide Gruppen fortwährend ineinander über. Sie
zeigen sich am stärksten bei der Krankenversicherung, dem ältesten Zweige des
Ganzen, der zu einem großen Teile in sozialdemokratische Leitung gelangt ist,
aber auch Unfall- und Invalidenversicherung sind nichts weniger als frei
davon. -- Das vorliegende Material ist massenhaft, es entspricht dem wachsenden
Umfange der Versicherungen; aber es findet sich fast nur in Akten, Fachzeit¬
schriften, Jahresberichten u. tgi., welche nur von Interessenten gelesen werden
und dem großen Publikum unbekannt bleiben.

Die finanziellen Nachteile gehen aus den mehr und mehr wachsenden
Ansprüchen an die Versicherungsleistungen hervor, sie treiben die Rechnungen
aller Zweige regelmäßig in die Höhe, so daß die Beiträge dauernd wachsen;
erst vor kurzem sind auch die Jnvalidenmarken vierlerorts in die Höhe gesetzt.
Diese Sache wäre erträglich, wenn sie sich auf die gesetzlich zulässigen Leistungen
beschränkte, denn solche kann man überblicken. Bedenklich wird sie dagegen
durch unerlaubte Forderungen, die mit den erlaubten im engsten Zusammen¬
hange stehen und seltener als sogenannte Simulation, öfter nur als betrügerische
Übertreibung vorhandener Leiden sich finden. Erlaubtes und Unerlaubtes
geht hierbei unmittelbar ineinander über, ebenso wie Gesundheit und Krankheit,
die Grenze zwischen beiden ist schwer ersichtlich zu machen, so daß jedes darauf
gerichtete Vorgehen ganz unverhältnismäßige Mühe und damit Kosten veranlaßt.
Am deutlichsten bemerkt man die daraus folgende Steigerung der Ausgaben
bei den Krankenkassen. Während anfangs nur die Arbeiter selbst versichert
waren, sind es jetzt sehr oft auch ihre Angehörigen, Ehefrauen und Kinder,
selbst Eltern und entfernte Verwandte werden hier und da zugerechnet. Die
Höhe des Krankengeldes, früher höchstens zwei Drittel des Lohnes, ist jetzt
vielfach gesteigert, zuweilen bis auf den vollen Lohn, daneben werden unter
Umständen noch Gehälter fortbezahlt. Die Dauer der Entschädigung, anfangs
dreizehn Wochen, beträgt jetzt nieist sechsundzwanzig Wochen, hier und da bis zu
einem Jahr. So geht bei großen Kassen oft kein Jahr hin, ohne eine Steigerung
der Leistungen zu bringen. -- Zu diesem zulässigen Wachstum kommen dann noch
die weit bedenklicheren, ungerechtfertigten Ansprüche, welche ebenfalls von Tag
zu Tag steigen. Auf diesem Wege sind die Beiträge häufig schon auf die
höchste zulässige Stufe gelaugt; die Verwaltungen müssen nun nach Kräften
auf die anderen Leistungen, vor allem auf Ärzte und Apotheker drücken, kommen
aber trotzdem zu ungünstigen Abschlüssen. Der letzte Grund wird dann


Nachteile der sozialen Gesetze

die Unbrauchbarst der Arbeit erklären; er würde es begrüßen, so sagte er,
wenn neue Vorschläge aus der Mitte der Kommission kämen. Solchen
Schwierigkeiten gegenüber dürfte es angebracht sein, neben voller Anerkennung
des großen Nutzens der Reichsversicherung für die Versicherten, weitere Kreise
wenigstens in knappen Umrissen auf die bisher beobachteten Nachteile aufmerksam
zu machen, die sich naturgemäß erst nach und nach, mit wachsender Erkenntnis
der gebotenen Möglichkeiten entwickelt haben. Sie lassen sich in finanzielle und
ethische trennen, doch greifen beide Gruppen fortwährend ineinander über. Sie
zeigen sich am stärksten bei der Krankenversicherung, dem ältesten Zweige des
Ganzen, der zu einem großen Teile in sozialdemokratische Leitung gelangt ist,
aber auch Unfall- und Invalidenversicherung sind nichts weniger als frei
davon. — Das vorliegende Material ist massenhaft, es entspricht dem wachsenden
Umfange der Versicherungen; aber es findet sich fast nur in Akten, Fachzeit¬
schriften, Jahresberichten u. tgi., welche nur von Interessenten gelesen werden
und dem großen Publikum unbekannt bleiben.

Die finanziellen Nachteile gehen aus den mehr und mehr wachsenden
Ansprüchen an die Versicherungsleistungen hervor, sie treiben die Rechnungen
aller Zweige regelmäßig in die Höhe, so daß die Beiträge dauernd wachsen;
erst vor kurzem sind auch die Jnvalidenmarken vierlerorts in die Höhe gesetzt.
Diese Sache wäre erträglich, wenn sie sich auf die gesetzlich zulässigen Leistungen
beschränkte, denn solche kann man überblicken. Bedenklich wird sie dagegen
durch unerlaubte Forderungen, die mit den erlaubten im engsten Zusammen¬
hange stehen und seltener als sogenannte Simulation, öfter nur als betrügerische
Übertreibung vorhandener Leiden sich finden. Erlaubtes und Unerlaubtes
geht hierbei unmittelbar ineinander über, ebenso wie Gesundheit und Krankheit,
die Grenze zwischen beiden ist schwer ersichtlich zu machen, so daß jedes darauf
gerichtete Vorgehen ganz unverhältnismäßige Mühe und damit Kosten veranlaßt.
Am deutlichsten bemerkt man die daraus folgende Steigerung der Ausgaben
bei den Krankenkassen. Während anfangs nur die Arbeiter selbst versichert
waren, sind es jetzt sehr oft auch ihre Angehörigen, Ehefrauen und Kinder,
selbst Eltern und entfernte Verwandte werden hier und da zugerechnet. Die
Höhe des Krankengeldes, früher höchstens zwei Drittel des Lohnes, ist jetzt
vielfach gesteigert, zuweilen bis auf den vollen Lohn, daneben werden unter
Umständen noch Gehälter fortbezahlt. Die Dauer der Entschädigung, anfangs
dreizehn Wochen, beträgt jetzt nieist sechsundzwanzig Wochen, hier und da bis zu
einem Jahr. So geht bei großen Kassen oft kein Jahr hin, ohne eine Steigerung
der Leistungen zu bringen. — Zu diesem zulässigen Wachstum kommen dann noch
die weit bedenklicheren, ungerechtfertigten Ansprüche, welche ebenfalls von Tag
zu Tag steigen. Auf diesem Wege sind die Beiträge häufig schon auf die
höchste zulässige Stufe gelaugt; die Verwaltungen müssen nun nach Kräften
auf die anderen Leistungen, vor allem auf Ärzte und Apotheker drücken, kommen
aber trotzdem zu ungünstigen Abschlüssen. Der letzte Grund wird dann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/622>, abgerufen am 22.07.2024.