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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Philosophischer Dogmatismus

Die materialistische Atomistik nun mag immerhin von größtem Wert für
die Erklärung und Berechnung der einzelnen Naturvorgänge sein; für die
metaphysische Forschung hat die Annahme letzter unteilbarer Körper, also immer
noch ausgedehnter Wesen, keine Bedeutung. Etwas ganz anderes ist es, wenn
die Atome streng punktuell aufgefaßt werden, als Kraftpunkte oder Kraftzentren.
Aber soll aus ihrem Beisammensein und Zusammenwirken die ausgedehnte Welt
erklärt werden, so ist das nicht möglich ohne die Annahme einer ^all" in älstans.
also einer durch den leeren Raum geschehenden; und wie durch die Hypothese
von Kraftpunkten die Seelentätigkeiten erklärt werden sollen, bleibt uns wenigstens
völlig dunkel.

Bisher haben wir uns auf dem Boden realistischer Auffassung bewegt, nach
der Raum und Zeit und Kausalität als etwas Wirkliches, unabhängig von
unserem Denken Existierendes gilt, und haben in ihr auf die Frage, woraus
die Welt besteht, entweder widerspruchsvolle oder ganz unzureichende Antworten
gefunden.

Die idealistische, also Kantsche Weltauffassung aber muß auf eine positive
Beantwortung dieser Frage ganz verzichten. Hätte sie aber recht, so wäre durch
sie wenigstens ein sicheres negatives Dogma gegeben.

Kant erklärt den Raum für etwas Subjektives, außerhalb des erkennenden
Subjekts gar nicht Vorhandenes, ist aber zu dieser Lehre uur dadurch gekommen,
daß er, nach Trendelenburgs Behauptung, die Raumfunktion in uns nicht
gehörig geschieden hat von dem uns wirklich umgebenden Raum. Nur den
subjektiven Ursprung dieser Naumfunktion hat er bewiesen, die Realität eines
objektiven Raumes keineswegs so widerlegt, daß diese Widerlegung als Dogma
gelten kann.

Und wenn das allein Wirkliche, das Ding an sich, raumlos, zeitlos, kau¬
salitätslos ist, woher kommt dann der bunte, vielgestaltige Schein einer aus¬
gedehnten Welt? Jeder Schein, darin hat Herbart recht, weist auf ein Sein,
jede scheinbare Veränderung und Vielheit auf etwas diesen trügerischen Schein
Hervorbringendes. Wenn Kant recht hatte, dann wäre nach Feststellung des
idealistischen Dogmas ster den Philosophen nur noch ein Wort zu sagen, nämlich
das letzte Wort Hamlets: "Der Rest ist Schweigen". Es gäbe dann nur ein
negatives metaphysisches Dogma, daß nämlich die Welt philosophisch völlig
unerkennbar und unverständlich ist. Denn Raum und Zeit leugnen und doch
über die Welt etwas Positives aussagen, wie es Schopenhauer mit blendender
und überzeugender Rhetorik tut, zu sagen, daß sie durch und durch Wille zum
Leben sei, ein Einheitliches und doch sich Entzweiendes, der Erlösung Bedürftiges,
ohne daß irgendwelche Verschiedenheit -- denn die setzt Raum und Zeit voraus --
realiter vorhanden ist, führt zum mystischen Denken, dem gerade Widersprüche
das Willkommenste sind. Abgesehen davon aber bedeutet der Satz: "Die Welt
ist durch und durch Wille zum Leben" entweder nichts anderes, als was der
monstiische Realismus auch behauptet, daß nämlich die Welt durch und durch


Philosophischer Dogmatismus

Die materialistische Atomistik nun mag immerhin von größtem Wert für
die Erklärung und Berechnung der einzelnen Naturvorgänge sein; für die
metaphysische Forschung hat die Annahme letzter unteilbarer Körper, also immer
noch ausgedehnter Wesen, keine Bedeutung. Etwas ganz anderes ist es, wenn
die Atome streng punktuell aufgefaßt werden, als Kraftpunkte oder Kraftzentren.
Aber soll aus ihrem Beisammensein und Zusammenwirken die ausgedehnte Welt
erklärt werden, so ist das nicht möglich ohne die Annahme einer ^all» in älstans.
also einer durch den leeren Raum geschehenden; und wie durch die Hypothese
von Kraftpunkten die Seelentätigkeiten erklärt werden sollen, bleibt uns wenigstens
völlig dunkel.

Bisher haben wir uns auf dem Boden realistischer Auffassung bewegt, nach
der Raum und Zeit und Kausalität als etwas Wirkliches, unabhängig von
unserem Denken Existierendes gilt, und haben in ihr auf die Frage, woraus
die Welt besteht, entweder widerspruchsvolle oder ganz unzureichende Antworten
gefunden.

Die idealistische, also Kantsche Weltauffassung aber muß auf eine positive
Beantwortung dieser Frage ganz verzichten. Hätte sie aber recht, so wäre durch
sie wenigstens ein sicheres negatives Dogma gegeben.

Kant erklärt den Raum für etwas Subjektives, außerhalb des erkennenden
Subjekts gar nicht Vorhandenes, ist aber zu dieser Lehre uur dadurch gekommen,
daß er, nach Trendelenburgs Behauptung, die Raumfunktion in uns nicht
gehörig geschieden hat von dem uns wirklich umgebenden Raum. Nur den
subjektiven Ursprung dieser Naumfunktion hat er bewiesen, die Realität eines
objektiven Raumes keineswegs so widerlegt, daß diese Widerlegung als Dogma
gelten kann.

Und wenn das allein Wirkliche, das Ding an sich, raumlos, zeitlos, kau¬
salitätslos ist, woher kommt dann der bunte, vielgestaltige Schein einer aus¬
gedehnten Welt? Jeder Schein, darin hat Herbart recht, weist auf ein Sein,
jede scheinbare Veränderung und Vielheit auf etwas diesen trügerischen Schein
Hervorbringendes. Wenn Kant recht hatte, dann wäre nach Feststellung des
idealistischen Dogmas ster den Philosophen nur noch ein Wort zu sagen, nämlich
das letzte Wort Hamlets: „Der Rest ist Schweigen". Es gäbe dann nur ein
negatives metaphysisches Dogma, daß nämlich die Welt philosophisch völlig
unerkennbar und unverständlich ist. Denn Raum und Zeit leugnen und doch
über die Welt etwas Positives aussagen, wie es Schopenhauer mit blendender
und überzeugender Rhetorik tut, zu sagen, daß sie durch und durch Wille zum
Leben sei, ein Einheitliches und doch sich Entzweiendes, der Erlösung Bedürftiges,
ohne daß irgendwelche Verschiedenheit — denn die setzt Raum und Zeit voraus —
realiter vorhanden ist, führt zum mystischen Denken, dem gerade Widersprüche
das Willkommenste sind. Abgesehen davon aber bedeutet der Satz: „Die Welt
ist durch und durch Wille zum Leben" entweder nichts anderes, als was der
monstiische Realismus auch behauptet, daß nämlich die Welt durch und durch


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[0619] Philosophischer Dogmatismus Die materialistische Atomistik nun mag immerhin von größtem Wert für die Erklärung und Berechnung der einzelnen Naturvorgänge sein; für die metaphysische Forschung hat die Annahme letzter unteilbarer Körper, also immer noch ausgedehnter Wesen, keine Bedeutung. Etwas ganz anderes ist es, wenn die Atome streng punktuell aufgefaßt werden, als Kraftpunkte oder Kraftzentren. Aber soll aus ihrem Beisammensein und Zusammenwirken die ausgedehnte Welt erklärt werden, so ist das nicht möglich ohne die Annahme einer ^all» in älstans. also einer durch den leeren Raum geschehenden; und wie durch die Hypothese von Kraftpunkten die Seelentätigkeiten erklärt werden sollen, bleibt uns wenigstens völlig dunkel. Bisher haben wir uns auf dem Boden realistischer Auffassung bewegt, nach der Raum und Zeit und Kausalität als etwas Wirkliches, unabhängig von unserem Denken Existierendes gilt, und haben in ihr auf die Frage, woraus die Welt besteht, entweder widerspruchsvolle oder ganz unzureichende Antworten gefunden. Die idealistische, also Kantsche Weltauffassung aber muß auf eine positive Beantwortung dieser Frage ganz verzichten. Hätte sie aber recht, so wäre durch sie wenigstens ein sicheres negatives Dogma gegeben. Kant erklärt den Raum für etwas Subjektives, außerhalb des erkennenden Subjekts gar nicht Vorhandenes, ist aber zu dieser Lehre uur dadurch gekommen, daß er, nach Trendelenburgs Behauptung, die Raumfunktion in uns nicht gehörig geschieden hat von dem uns wirklich umgebenden Raum. Nur den subjektiven Ursprung dieser Naumfunktion hat er bewiesen, die Realität eines objektiven Raumes keineswegs so widerlegt, daß diese Widerlegung als Dogma gelten kann. Und wenn das allein Wirkliche, das Ding an sich, raumlos, zeitlos, kau¬ salitätslos ist, woher kommt dann der bunte, vielgestaltige Schein einer aus¬ gedehnten Welt? Jeder Schein, darin hat Herbart recht, weist auf ein Sein, jede scheinbare Veränderung und Vielheit auf etwas diesen trügerischen Schein Hervorbringendes. Wenn Kant recht hatte, dann wäre nach Feststellung des idealistischen Dogmas ster den Philosophen nur noch ein Wort zu sagen, nämlich das letzte Wort Hamlets: „Der Rest ist Schweigen". Es gäbe dann nur ein negatives metaphysisches Dogma, daß nämlich die Welt philosophisch völlig unerkennbar und unverständlich ist. Denn Raum und Zeit leugnen und doch über die Welt etwas Positives aussagen, wie es Schopenhauer mit blendender und überzeugender Rhetorik tut, zu sagen, daß sie durch und durch Wille zum Leben sei, ein Einheitliches und doch sich Entzweiendes, der Erlösung Bedürftiges, ohne daß irgendwelche Verschiedenheit — denn die setzt Raum und Zeit voraus — realiter vorhanden ist, führt zum mystischen Denken, dem gerade Widersprüche das Willkommenste sind. Abgesehen davon aber bedeutet der Satz: „Die Welt ist durch und durch Wille zum Leben" entweder nichts anderes, als was der monstiische Realismus auch behauptet, daß nämlich die Welt durch und durch

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/619>, abgerufen am 22.07.2024.